Woher kommt eigentlich...
Das Phänomen Wunderkind?
von Stefan Sell
21. März 2017
Es geht um Superlative, von denen sich das Wunderkind und sein Umfeld erhoffen, Stufe für Stufe in den Olymp von Ruhm und Reichtum zu gelangen. Vor dem Ehrgeiz des Kindes steht der Ehrgeiz der Eltern.
Wunderkinder sollen bewundert werden. Im Berliner Volksmund heißt das: „Ick kieke, staune, wundre mir.“ 1925 machte Kurt Weill daraus das Klopslied. Da wo man hinkiekt und staunt, dort lassen sich Wunderkinder in bare Münze verwandeln. Nicht nur Deutschland sucht den Superstar, die ganze Welt ist voller Wunder, man schaue nur bei Youtube nach. Es geht um Superlative, von denen sich das Wunderkind und sein Umfeld erhoffen, Stufe für Stufe in den Olymp von Ruhm und Reichtum zu gelangen. Vor dem Ehrgeiz des Kindes steht der Ehrgeiz der Eltern.
Wunderkind Paganini erinnert sich an seinen Vater: „Bald erkannte er meine Naturanlage, ihm habe ich die Anfangsgründe in der Kunst zu verdanken. Seine Hauptleidenschaft ließ ihn sich viel zu Hause beschäftigen, um durch gewisse Berechnungen und Combinationen Lotterie-Nummern aufzufinden, von denen er sich bedeutenden Gewinn versprach. Deshalb grübelte er sehr viel und zwang mich, nicht von seiner Seite zu weichen, so daß ich vom Morgen bis zum Abend die Violine in der Hand halten musste … schien ich ihm nicht fleißig genug, so zwang er mich durch Hunger zur Verdoppelung meiner Kräfte, so dass ich körperlich viel auszustehen hatte, und die Gesundheit zu leiden begann.“ Der Komponist und Musikkritiker Alfred Julius Becher postulierte 1843 in den „Wiener Sonntagsblättern“, man solle „solche Kinderquälerei und Kunstprostitution unter polizeiliche Aufsicht stellen“.
Die „Allgemeine Musikalische Zeitung“, zu deren Abonnenten auch Goethe zählte, bemerkte 1823, dass allerorts Wunderkinder „wie Pilze hervorschossen“. So wusste Goethe: „Die musikalischen Wunderkinder sind zwar hinsichtlich der technischen Fertigkeit heutzutage keine so große Seltenheit mehr …“, ergänzte jedoch in Bezug auf den jungen Mendelssohn: „… was aber dieser kleine Mann im Fantasieren und Primavistspielen vermag, das grenzt ans Wunderbare und ich hab es bei so jungen Jahren nicht für möglich gehalten.“ Gegenüber Zelter, der Mendelssohn unterrichtete, staunte er über den Zwölfjährigen: „Was Dein Schüler jetzt leistet, mag sich zum damaligen Mozart verhalten wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zu dem Lallen eines Kindes.“ Mozart als Maßstab, es sollte immer ein „neuer Mozart“ her. Mendelssohns Vater war als Bankier erfolgreich, wünschte sich von seinem Sohn Opern und Oratorien. Dafür scheute er weder Kosten noch Mühen. Mit 16 stellte Felix seine Oper Die Hochzeit des Camacho fertig. Der Sommernachtstraum ist das Werk eines 17-Jährigen. War es der Vater, der ihn antrieb oder – Mozart ähnlich – die Ahnung, früh vollenden zu müssen? Felix Mendelssohn starb mit 38.
„höher, schneller, weiter“
Es kann auch anders sein. Camille Saint-Saëns begann mit sechs Jahren zu komponieren, obwohl ihm dafür noch 80 weitere Jahre blieben. Oder war er erst drei Jahre alt, als er das erste Stück schrieb? Im Reich von „höher, schneller, weiter“ divergieren die Angaben. Mutter und Großtante förderten ihn, der Vater war kurz nach Camilles Geburt verstorben. „Als ich zweieinhalb Jahre alt war, setzten sie mich vor ein kleines Klavier, was seit Jahren nicht mehr geöffnet worden war. Anstatt darauf herumzutrommeln, wie es die meisten in meinem Alter getan hätten, schlug ich eine Note nach der anderen an, jedoch immer erst, wenn die vorherige ausgeklungen war.“ Literatur für Kinder zu spielen langweilte das Wunderkind, bald schon legten sie ihm Mozart und Haydn vor. „Mit fünf konnte ich kleine Sonaten korrekt spielen, gut interpretiert und in exzellenter Genauigkeit.“ Dass er all das unter Zwang getan habe, entkräftet Saint-Saëns in seinen „Musikalischen Erinnerungen“: „Ich habe in einer Biografie gelesen, ich sei mit der Peitsche bedroht worden, damit ich spiele. Das ist absolut falsch.“
Die italienische Geigerin Teresa Milanollo begann ihren Unterricht mit vier Jahren. 1843, als sie 16 war und ihre Schwester Maria elf, spielten die beiden im Wiener Redoutensaal vor 4.000 Leuten. „Seit Paganini dürfte sich kaum ein anderes Concert eines solchen Zuspruches erfreut haben, wie dieses.“ Hier rief Becher nicht nach „polizeilicher Aufsicht“, sondern lobte: „Die in noch so unreifem Alter übernatürlich erscheinende Tiefe der Empfindung und die daraus hervorgehende Vollendung der Exekution. So kann aber auch kein Mann spielen!“ Was steht hinter dem Wunsch, die Welt ins Kieken, Staunen, Wundern zu versetzen? Vielleicht der Ruf, mit dem Kurt Weills Klopslied endet: „Icke! Icke! Icke!!“