Kampf um das Theater Kassel

von Axel Brüggemann

3. März 2024

Zwischen dem Orchester und Intendant Florian Lutz im Theater Kassel gibt es ein Ringen um die Zukunftsausrichtung des Theaters und um Führungskultur.

Vor der Vertrags­ver­län­ge­rung von Inten­dant ringt das Theater mit seiner Ausrich­tung und einer Führungs­kultur

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Was da derzeit in Kassel passiert, könnte grund­sätz­lich eine lehr­reiche und span­nende Dabatte darüber sein, wie eine offene Gesell­schaft um den Kurs seines Thea­ters ringt. Was hat Vorrang, die Regie oder die Musik? Wie inno­vativ sollen Theater sein? Wie weit kann Regie gehen? Doch irgendwie ist dieser Diskurs einem unver­söhn­li­chen Ringen hinter den Kulissen gewi­chen und wächst derzeit zu einem scheinbar unlös­baren Kampf zwischen dem Orchester und dem Inten­danten Florian Lutz

In der letzten Woche habe ich zahl­reiche Tele­fo­nate geführt, und dieses ist der Versuch, die aufge­heizten Dinge eini­ger­maßen sach­lich von außen zu ordnen. 

Die einzelnen Gruppen, die in Kassel aufein­ander prallen, stehen stell­ver­tre­tend für ganz unter­schied­liche Erwar­tungen inner­halb einer Gesell­schaft an eine städ­ti­sche Bühne. Da ist zum einen das Orchester, das um die Rolle der Musik an einem von Regie­kon­zepten getrie­benen Haus fürchtet, das darum kämpft, gehört zu werden – beson­ders in Fragen der Neube­set­zung eines GMD. Gerade hat es erklärt, dass sich 97 Prozent der Musi­ke­rinnen und Musiker gegen eine Fort­set­zung der Inten­danz von Florian Lutz ausge­spro­chen hätten. Lutz‘ Insze­nie­rungen gewinnen Thea­ter­preise, seine Arbeit wird im Feuil­leton gefeiert, aber schon in seiner Zeit als Inten­dant in Halle bekam er zu spüren, dass Neudenken auch Fein­ge­fühl verlangt – sowohl intern als auch gegen­über dem Publikum. Letzt­lich musste Lutz Halle verlassen.

Natür­lich gibt es in Kassel auch so etwas wie eine Offen­bach­sche „öffent­liche Meinung“, vertreten zum einen durch die „Hessische/​Niedersächsische Allge­meine“, die zu einer Stimme des Orches­ters geworden ist und zum anderen durch eine jahre­lange Förde­rerin des Thea­ters, die Bären­reiter-Verle­gerin Barbara Scheuch-Vötterle. Sie hatte in der Findungs­kom­mis­sion einst für Inten­dant Lutz gestimmt, ist jetzt aber offen­sicht­lich verstimmt darüber, wie er das Haus führt. Endgültig und öffent­lich eska­liert ist das schon länger gespannte Verhältnis der beiden durch eine geplante Gala-Veran­stal­tung des Bären­reiter-Verlages, die nach einigem Hick-Hack nun doch nicht statt­findet. 

Tatsäch­lich scheint es bei all dem aber auch um die grund­sätz­liche Frage zu gehen: Wie weit soll Regie gehen? Darf Pamina Tamino erschießen? Ist die Komple­xität der Kassler „Raum­bühne“ mit dem musi­ka­li­schen Anspruch eines Orches­ters kompa­tibel? Und mit welchen Mitteln kann ein Inten­dant seinen Kurs am Haus durch­setzen? Kurz gesagt: Hier tobt der uralte Kampf zwischen „prima le parole“ oder „prima la musica“.

Die Theater-Emotionen haben die Entschei­dungs­pro­zesse in Kassel längst auf verschie­denen Ebenen über­nommen. Eine erste Eska­la­tion war die Findung eines neuen GMD, nachdem der amtie­rende Chef­di­ri­gent bekannt gab, dass er seinen Vertrag nicht verlän­gern wolle.

Das Orchester fürch­tete, dass Inten­dant Lutz seine Kandi­daten gegen den Willen des Ensem­bles durch­setzen würde und erhöhte den öffent­li­chen Druck. Lutz selber reagierte ange­fasst und griff relativ schnell zu dras­ti­schen Mitteln. In einem so genannten „Maul­korb-Erlass“ hatte er den Musi­ke­rinnen und Musi­kern verboten, über Thea­ter­themen oder ihre Unzu­frie­den­heit mit Leitungs­ent­schei­dungen zu spre­chen – selbst im Fami­li­en­kreis. Wört­lich hieß es: „Auch für Sie als Musi­ke­rinnen und Musiker des Staats­or­ches­ters gilt im Rahmen ihres Arbeits­ver­trags eine Verschwie­gen­heits­pflicht und Treue­pflicht gegen­über den Inter­essen Ihres Arbeit­ge­bers. Das heißt, dass Sie mit Personen, die nicht zu unserer Beleg­schaft gehören, nicht über theater- oder orches­ter­in­terne Infor­ma­tionen spre­chen oder diese in irgend­einer Weise weiter­leiten dürfen.“ Ein Musiker erhielt eine Abmah­nung von Lutz, nachdem er Kontakt zu einem GMD-Bewerber aufge­nommen hatte und ihm über die Kräf­te­ver­hält­nisse im Orchester berichtet hatte. Der Diri­gent schied danach frei­willig aus dem Verfahren aus. Lutz selber hat den „Maul­korb-Erlass“ inzwi­schen zurück­ge­nommen und auch die Abmah­nung soll wohl gelöscht werden. 

Inzwi­schen sind die letzten beiden GMD-Kandi­daten in Kassel Diri­genten, die vom Orchester selber vorge­schlagen wurden. Man könnte also meinen, dass alles wieder im Lot sei. Aber dem ist nicht so. Die Eska­la­tion geht weiter.

Lange pflegten der neue Inten­dant und der amtie­rende GMD Fran­cesco Ange­lico zumin­dest öffent­lich ein harmo­ni­sches Mitein­ander. Doch der italie­ni­sche Diri­gent bekam zuneh­mend Probleme mit Lutz‘ Arbeits- und Führungs­stil. Gegen­über „Crescendo“ führt er nun verschie­dene Situa­tionen an: In Vorbe­rei­tung zu einer „Don Giovanni“-Produktion habe Ange­lico gegen­über dem Regis­seur per Mail Bedenken geäu­ßert, dass zu sehr in die Musik einge­griffen würde. „Nur wenig später bekam ich eine Mail des Inten­danten“, berichtet Ange­lico, „der mir erklärte, dass er meine Antwort als ‚proble­ma­tisch‘ einstufe, da ich die Frei­heit des Regis­seurs unter­graben würde.“ Zuvor gab es bereits einen Eklat während der „Piqué Dame“-Proben: Kurz vor der Première habe die Regis­seurin eine grund­le­gende Szene ändern wollen, worauf Ange­lico protes­tierte und sich weigerte zu diri­gieren. Sein Argu­ment: Es fehle an Zeit für die musi­ka­li­sche Einstu­die­rung. Auch hier kam es zum Eklat, an dessen Ende sich der Diri­gent in der Landes­haupt­stadt Wies­baden gegen Vorwürfe des „Macht­miss­brau­ches gegen­über einer jungen Regis­seurin“ erklären sollte. 

Inzwi­schen habe man aller­dings einen „Code of Conduct“ entwi­ckelt, heißt es aus dem Theater, nach dem Konflikte zwischen Regie und Dirigat gelöst werden sollen. Zum letzten Mal fand dieser Master­plan offen­sicht­lich letzte Woche bei den Proben zur neuen Produk­tion der „Hamlet Maschine“ Anwen­dung. Gegen die Verab­re­dungen mit dem Diri­genten Fran­cesco Ange­licio waren während einer Arie Viedo-Mitar­beiter auf der Bühne tätig. Ein Drama­turg soll dem Diri­genten erklärt haben, dass sein Protest „egal“ sei, da es sich um „eine Sache der Regie“ handle. Auch dieser Vorfall landete schließ­lich auf dem Schreib­tisch von Inten­dant Lutz – der nun entschied, dass die Arie ohne Video-Beglei­tung statt­finden soll.

Trotz interner Querelen soll eine Vertrags­ver­län­ge­rung von Florian Lutz bis 2031 bereits in weit­ge­hend trockenen Tüchern sein. Eine Verlän­ge­rung wurde Lutz angeb­lich noch von Hessens alter Kultur­mi­nis­terin (Grüne) zuge­sagt, und auch ihr Nach­folger, Timon Grem­mels (SPD), scheint an der Verlän­ge­rung fest­zu­halten. Was fehlt, ist die Zustim­mung der Stadt Kassel, die eben­falls Trägerin des Thea­ters ist. Die letzten Male gab es vor den Abstim­mungen mit Ober­bür­ger­meister Sven Schoeller (Grüne) immer wieder Inter­ven­tionen: Mal wurden die Nach­richten von der geplatzten Gala-Veran­stal­tung bekannt, dann der „Maul­korb-Erlass“ und nun die Abstim­mung inner­halb des Orch­res­ters gegen eine Vertrags­ver­län­ge­rung von Lutz. 

Spricht man mit Orches­ter­mit­glie­dern hört man Unzu­frie­den­heit darüber, dass der Inten­dant seine Leben­ge­fährtin fördere und dass die allge­meinen Bühnen-Verträge es einem großen Teil des Ensem­bles schwer machen, sich gegen Lutz auszu­spre­chen. Viele Mitar­bei­te­rinnen und Mitar­beiter würden Repres­sa­lien fürchten. Außerdem sugge­riert das Orchester, dass seine ableh­nende Haltung gegen Lutz einer breiten Stim­mung am Haus entspräche. Auch die Auslas­tungs­zahlen liest das Orchester anderes als der Inten­dant, der auf den Karten­ver­kauf beson­ders seiner Arbeiten, der „Carmen“ und der „Zauber­flöte“, verweist.

Tatsäch­lich reagierte ein großer Teil des Thea­ter­en­sem­bles schon bei ersten Vorwürfen gegen den Inten­danten mit einem offenen Brief, der Lutz den Rücken stärkt. Und auch in Gesprä­chen mit Mitar­bei­te­rinnen und Mitar­bei­tern des Hauses gab es durchaus Stimmen, die sich für den Kurs des Inten­danten begeis­tern.

Am Montag, den 4. März, will die Stadt nun angeb­lich abschlie­ßend über eine Vertrags­ver­län­ge­rung von Inten­dant Lutz entscheiden. Bislang haben Kassels Bürger­meister und Hessens Kultur­mi­nister es nicht geschafft, den Frust aus dem Theater in eine konstruk­tive Debatte zu über­führen. Aus Kreisen der Landes­re­gie­rung ist derweil zu hören, dass eine Vertrags­ver­län­ge­rung mit einem media­to­ri­schen Konzept einher­gehen solle, um die internen Kämpfe zu befrieden und eine konstruk­tive Ebene herzu­stellen. 

Letzt­lich ist das, worum es in Kassel eigent­lich geht, eine Debatte, die an vielen deut­schen Thea­tern geführt werden sollte. Es geht nämlich um nichts weniger als um die Frage: Was für ein Theater wollen wir uns als Gesell­schaft leisten und wie soll dieses Theater geführt werden?