Axel Brüggemann über Dirigenten

Kann man einen Diri­genten hören?

von Axel Brüggemann

4. Dezember 2018

Neulich erreichte mich auf meinem Insta­gram-Account eine span­nende Frage zweier Sänger. Sie haben sich gewun­dert, dass die zum Geburtstag von auf verschie­dene Aufnahmen verwiesen hat, auf denen er „zu hören“ sei. Der Link führte zu Einspie­lungen, auf deren Cover Nelsons zu sehen war. Die Frage der beiden: Sind Diri­genten auf einer Aufnahme wirk­lich zu „hören“? Und wird diese Art der Werbung den Orches­tern und Mitwir­kenden gerecht? Ist der Klang nicht viel­mehr Ausdruck einer Orchester-Tradi­tion denn des jewei­ligen Diri­genten?

Bei dieser Frage dachte ich spontan an eine Probe von mit dem , der ich einst beiwohnen durfte. Sie lief ungefä so ab: Abbado gab den Einsatz, brach nach 10 oder 20 Takten ab und sagte mit leiser Stimme: „Ja, aber – ähm, können wir das viel­leicht noch einmal machen?“ Dann gab er erneut den Einsatz, um etwas später wieder abzu­bre­chen und zu flüs­tern: „Ja, gut, aber viel­leicht probieren wir das einfach noch Mal.“ So ging es sechs oder sieben Mal. Das für mich Magi­sche an dieser Situa­tion: Der erste Durch­gang und der letzte waren grund­ver­schieden, und das, obwohl Abbado keine einzige konkrete Inter­pre­ta­tions-Anwei­sung gegeben hat. Seine Idee war es offen­sicht­lich, das Orchester zu zwingen, einen eigenen, „rich­tigen“ Weg der Inter­pre­ta­tion zu finden. Das Ergebnis im Konzert war eine Inter­pre­ta­tion, deren große Kunst darin bestand, dass sie sich anhörte, als wollte sie nichts sein, außer Musik.

Etwas später habe ich diese Erfah­rung bei Claudio Abbado noch einmal machen dürfen, bei seiner „Zauber­flöte“ in -Baden. Mozarts „Zauber­flöte“ mit ihrer welt­um­span­nenden, offenen, mysti­schen, symbo­lisch-aufge­la­denen Botschaft verlockt viele Diri­genten, etwas ganz Beson­deres in dieser Oper hörbar werden zu lassen. In der Regel beginnt das schon in den ersten Akkorden, wenn das frei­mau­ri­sche Schwer­ge­wicht dieser Kompo­si­tion ertönt. Ganz anders klang es bei Abbado: Sein Mozart wollte nichts und war viel­leicht gerade deshalb so unglaub­lich selbst­ver­ständ­lich. Ja, viel­leicht ist das Nichts-Wollen, die Kunst, eine Unmit­tel­bar­keit zur Musik zu schaffen, ihr keine Ideo­logie, keine eigene Welt­an­schauung über­zu­stülpen, die größte Anstren­gung eines Musi­kers, die den größten und souve­ränsten Willen erfor­dert. Den Willen, der Musik mehr zu vertrauen als sich selber. Ein Wille, den Abbado übri­gens auch in seiner letzten Aufnahme hören lassen hat, in Mozarts Klavier­kon­zerten mit und dem Mozart Orchester.

Zurück zur ursprüng­li­chen Frage: Claudio Abbado war für mich einer jener Künstler, die es verstanden haben, Musik „einfach“ passieren zu lassen. Und, ja, der – egal, ob bei den Berliner Phil­har­mo­ni­kern, mit dem Orchestra oder eben dem Mozart Orchester – ein Diri­gent war, für den ein Ensemble immer auch einen eigenen Geist hatte. Abbados Diri­genten-Persön­lich­keit bestand auf der einen Seite darin, genau zu wissen, was er wollte, nämlich die Musiker, mit denen er musi­zierte, ihren kollek­tiven Geist, über eine bestimmte Kompo­si­tion zu entwi­ckeln. Abbados Sicht­bar­keit (oder besser seine „Hörbar­keit“) bestand also darin, die Selbst­ver­ständ­lich­keit hörbar werden zu lassen.

„Das Nichts­wollen als größter Wille“

An dieser Stelle ist viel­leicht ein kleiner Exkurs über den Fußball ange­bracht. Als leid­ge­plagter Werder-Fan weiß ich, dass sich ein Trai­ner­wechsel zuweilen durchaus auf eine Mann­schaft auswirken kann. Alex­ander Nouri hatte irgend­wann keinen Zugriff mehr auf sein Team, Florian Kohfeld gelang das wieder – durch Begeis­te­rung, aber eben auch dadurch, dass er sein ausge­klü­geltes Taktik-System nicht über die Spieler stülpte, sondern seine Taktik nach den Spie­lern (und mit den Spie­lern zusammen) ausrich­tete. Bei Trai­nern ist es viel­leicht ein biss­chen wie bei Diri­genten: Sie spielen nicht mit, schießen keine Tore, aber sie haben durchaus einen großen Einfluss auf das Spiel: Dadurch, wie sie trai­nieren und dadurch, wie sie während des Spieles von der Seiten­linie agieren. Dabei ist die Mischung aus der Pflege eines Team­geistes, der Verin­ner­li­chung einer passenden Taktik und des Momentes während des Spieles meist am erfolg­reichsten. Borussia spielt unter Lucien Favre eben anders als unter Peter Stöger. 

Und so klangen auch die unter Abbado anders als unter seinem Vorgänger, – aber sie waren immer als Berliner Phil­har­mo­niker erkennbar! Abbado verän­derte das Reper­toire und förderte die Sehn­sucht des Orches­ters, den roman­ti­schen Rausch mit Analyse, voll­kommen neuen Perspek­tiven und musik­his­to­ri­scher Befra­gung aufzu­füllen. Ein Weg, den man – beson­ders in den Beet­hoven-Aufnahmen, aber auch im Mahler-Zyklus – gemeinsam gegangen ist. Ein Weg, der irgend­wann zum Frust inner­halb des Orches­ters führte: Abbado sei ein „Abend­di­ri­gent“, seine Proben würden das Orchester nicht weiter­führen, man begann sich zu entfremden. Und als Simon Rattle das Orchester über­nahm, stand da plötz­lich wieder einer, der sagte, wo es lang­geht und läutete erneut eine Klang­wende ein. 

Auch bei einigen Proben von Simon Rattle durfte ich anwe­send sein. Rattle liebt es, das Detail als Stell­ver­treter für das Ganze zu proben. Er konfron­tiert das Orchester mit einer genauen Klang­vor­stel­lung in wenigen Takten, probt einzelne Stellen akri­bisch und erhofft sich eine Umset­zung der erar­bei­teten „Sprache“ auf das gesamte Werk. Rattle arbeitet mit Effekten, Verblüf­fung, Kontrasten. Die Berliner klangen unter ihm wieder eklek­ti­zis­ti­scher, exzen­tri­scher, sprung­hafter – der große Bogen wurde gegen mikro­kos­mi­sche Ideen einge­tauscht. Der tech­ni­sche Apparat des Orches­ters blieb dabei der Gleiche: Musiker, die in der Lage sind, jede musi­ka­li­sche Idee umzu­setzen, folgten der neuen Klang­sprache willig und detail­ver­sessen.

„Man hört den Geist“

Ich bin also der festen Über­zeu­gung, dass man den Diri­genten in einer Aufnahme durchaus hören kann. Aber man hört, wenn man sich einlässt, noch viel mehr: Ist ein musi­ka­li­sches Konzept am Reiß­brett entworfen und über ein Orchester gestülpt? Liegt eine Inter­pre­ta­tion, also der bewusste Wille, dieses oder jenes unbe­dingt und konzep­tio­nell anders zu machen als andere Diri­genten, vor? Oder entsteht ein kollek­tiver Klang, der so etwas wie den „Geist“ eines Orches­ters frei­legt und genau diesen als Grund­lage der Inter­pre­ta­tion versteht? Gute Aufnahmen, von Karajan, Abbado oder Rattle sind immer auch deshalb gut, weil der rich­tige Diri­gent zur rich­tigen Zeit am Pult stand und die Sehn­sucht nach Erneue­rung und Wandel inner­halb des Orches­ters bediente (oder gar durch die Einstel­lung neuer Musiker förderte). 

Es gibt viele Beispiele, in denen der Diri­gent noch offen­sicht­li­cher zum Teil eines Klang­kör­pers wird. Nehmen wir etwa den Concentus Musicus, der quasi eine Einheit mit seinem Leiter, mit , geworden ist: Selbst­be­stimmte Musiker, die sich einer gemein­samen musi­ka­li­schen Philo­so­phie gewidmet haben. Und, ja, deren Aushän­ge­schild immer Harnon­court war. Aber nun, nach seinem Tod, zeigt das Concentus, dass ein Orchester auch Sach­walter eines Klanges sein kann und damit selber zum gegen­wär­tigen Erbe großer Diri­genten werden kann, das es versteht, das Vergan­gene zu bewahren und gleich­zeitig neu zu befragen.

Ich habe mir, um die Frage der beiden Musiker zu beant­worten, noch einmal die alten Cover der Abbado-Aufnahmen ange­schaut. Auch er ist auf vielen Titeln allein zu sehen: Diri­gie­rend, nach­denk­lich, oder im Studium einer Partitur vertieft. Doch es gibt auch Cover – etwa bei den Verdi-Ouver­türen – auf denen er nur einer der vielen Berliner Phil­har­mo­niker ist. Bei den Mozart-Sympho­nien mit dem Mozart Orchester ist Abbado zu sehen, wie er diri­giert, mitten im Orchester: Ausdruck gemein­samer Arbeit. Der Mahler-Zyklus mit den Berli­nern verzichtet (fast) komplett auf Bilder. Auf ihnen ist groß zu lesen: „Mahler“, in den Buch­staben verschie­dene Bilder, die Abbado beim Diri­gieren zeigen – im Zentrum stehen hier also weniger der Diri­gent oder das Orchester, sondern: der Kompo­nist. Und so hören sich die meisten dieser Mahler-Sympho­nien auch an.

„Selbst­be­wusst­sein der Orchester“

Noch einmal zurück zum Fußball: Hier ist der Trainer wichtig, und, ja, oft auch ein Star. Aber die Tradi­tion einer Mann­schaft, der Geist eines Teams und in der Regel auch die mediale Präsenz einiger Star-Spieler zeigen dem Fan: Fußball ist ein Team­sport. Im Musik-Marke­ting ins der Team­geist nicht immer so ausge­prägt: Einzelne Stars oder große Maestri werden in den Vorder­grund gestellt. Warum eigent­lich? Das SWR-Orchester fährt gerade die große Curr­entzis-Marke­ting-Tour. Klar, ein span­nender Mann an einem span­nenden Ort – aber das Orchester ist gut genug, um auch ohne seinen promi­nenten Diri­genten auf eine große Vergan­gen­heit zu blicken. Die Staats­ka­pelle in macht das längst vor und stellt immer wieder auch ihr eigenes Image in den Vorder­grund. Durch Formate wie die Auffüh­rungs­abende, die von den Musi­kern selber orga­ni­siert werden, durch popu­läre Exkurse wie „Kapelle in der Kneipe“, durch Auftritte mit jungen Diri­genten oder die Treue zu alten Legenden wie eman­zi­piert sie sich von einem durchaus über­mäch­tigen Maestro wie und zeigt: Im Ideal­fall trifft hier ein passender Diri­gent auf ein passendes Orchester – aber beide sind gleich­be­rech­tigt. Ich bin der festen Über­zeu­gung, dass jeder wirk­lich gute Diri­gent den Spagat zwischen eigener Vorstel­lung und der Situa­tion eines Orches­ters schaffen muss. Denn, nein, er ist auf einer Aufnahme konkret nicht zu hören, höchs­tens sein Ideal der Inter­pre­ta­tion eines Werkes mit eben diesem Orchester.

Die Frage, ob es gerecht ist, wenn eine Plat­ten­firma einen großen Diri­genten auf das Cover hebt, kann man stellen. Aber, ja: Das kann durchaus Sinn machen. Man darf dabei nur nicht den Fehler begehen, ihn von der Tradi­tion und dem Geist jenes Orches­ters, mit dem er im Ideal­fall gemeinsam musi­ziert, zu entkop­peln. Ein Mecha­nismus, den leider viel zu viele Orchester zulassen und damit ihre eigene Sicht­bar­keit unge­hört werden lassen.