KlassikWoche 27/2023
Automatische Dirigenten und Mozart auf YouTube
von Axel Brüggemann
3. Juli 2023
Die Experimente des Koreanischen Nationalorchesters mit Roboter-Dirigent EveR6, Creator in Residence an der Elbphilharmonie Nahre Sol, das Prater-Picknick der Wiener Symphoniker unter Dirk Kaftan trotz strömenden Regens.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute wird es sommerlich bunt: ein dirigierender Roboter und eine YouTuberin an der Elbphilharmonie. Dazu ein Sprung in den Wagner-Garten von Stefan Vinke und – natürlich – ein kurzer Blick nach Russland. Genießen Sie die Sonne und die Musik! Um kompakt informiert zu bleiben, abonnieren Sie einfach diesen kostenlosen Newsletter (auf der Seite ein wenig nach unten scrollen und anmelden). Und jetzt geht’s los!
Wer braucht noch ‘nen Dirigenten?
Sucht noch irgendein Orchester einen neuen Chefdirigenten? Wie wäre es mit EveR6? Kein Witz: Das Koreanische Nationalorchester experimentiert gerade mit einem Roboter-Dirigenten. Wie das aussieht, sehen Sie im Video (einfach oben auf das Bild klicken!). Die gute Nachricht: Liebe Dirigentinnen und Dirigenten da draußen – Ihr könnt Euch locker machen, denn genau das kann EveR6 (noch) nicht. Nun, wenn man sich überzeugen will, dass Menschen die Sache zuweilen doch besser können als ihre technischen Kollegen, dann schlage ich die ARD Mediathek und Christian Thielemanns Bruckner-Dirigat beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) vor, vor allen Dingen aber das BR-Audio, in dem er für Redakteur Bernhard Neuhoff Bruckners Achte am Klavier erklärt – wirklich SEHR hörenswert!
Arbeitszeitfrage an Theatern: ungelöst!
Das Thema ist etwas sperrig, aber umso wichtiger. Seit 2020 streiten Gewerkschaften und Bühnenverein um eine Neuregelung der Arbeitszeiten bei KünstlerInnen. Es geht um mehr Planbarkeit, aber auch um grundlegende Fragen der Arbeitszeit-Dokumentation. Nun erklären die Gewerkschaften die Verhandlungen für gescheitert.
„Das Ziel, Arbeitsbelastungen zu reduzieren und mehr Planbarkeit mit Hilfe eines Arbeitszeitrahmenmodells für die KünstlerInnen zu vereinbaren, war mit dem Deutschen Bühnenverein nicht zu erreichen“, heißt es. Man habe „konkrete und umfassende Vorschläge zum Abbau bzw. Ausgleich von Spitzenbelastungen vorgelegt“ und sei auf Bedenken des Deutschen Bühnenvereins „immer wieder mit weiterführenden Kompromissvorschlägen eingegangen“. Nach „anfänglichen Verhandlungsfortschritten“ habe der Bühnenverein sich „jedoch von gemeinsam erarbeiteten Lösungsansätzen nach und nach wieder distanziert“. Der Vorsitzende des Tarifausschusses, Armin Augat, wird mit den Worten zitiert: „Ich habe in den Verhandlungen nicht den Eindruck gewonnen, dass die Gewerkschaften an zukunftsfähigen Regelungen zur Arbeitszeit für die NV Bühne-Beschäftigten ernsthaft interessiert sind. Wir begegnen hier einer Position, mit der die Verhandlungspartner uns Themen diktieren wollen und zu Gesprächen und Konzessionen nicht bereit sind.“ Klingt nach allerhand Theaterdonner!
Personalien der Woche I
Es wird ernst für Alexander Pereira: Im Zuge der gegen ihn laufenden Ermittlungen wegen Geldunterschlagung während seiner Amtszeit als Intendant des Opernhauses von Florenz hat die Polizei in Florenz bei dem Wiener Kulturmanager 126.483 Euro konfisziert. Pereira wird vorgeworfen, sich Gelder der Stiftung angeeignet zu haben, die das Opernhaus Maggio Musicale Fiorentino verwaltet, berichteten italienische Medien.
Laura Berman, seit 2019 Intendantin der Staatsoper Hannover, hat um die vorzeitige Auflösung ihres Vertrages gebeten, der noch vier Jahre laufen sollte. Etwas für alle anzubieten, verriet die Intendantin damals, sei ihr Konzept. Ob sie dieses nun in einem neuen Wirkungsfeld einsetzen will, wurde nicht mitgeteilt. Berman wolle sich neuen Aufgaben zuwenden, teilte sie in einer Pressemitteilung mit: „Ich bin stolz auf das, was wir bisher für die Staatsoper einschließlich Staatsorchester und Staatsballett erreicht haben, und freue mich auf zwei weitere Spielzeiten, in denen ich gemeinsam mit meinem Team diesen Weg weitergehen werde.“
Deutsche in Russland, Russen in Deutschland
Die letzte Woche war von der in diesem Newsletter veröffentlichten Nachricht geprägt, dass Pianist Justus Frantz als Juror bei Putins Tschaikowski-Wettbewerb dabei sein wird. Gegenüber dem NDR verteidigte Frantz sein Engagement, warum er damit wahrscheinlich irrt, erkläre ich derweil im WDR. Was außerdem geschah: Der Bass Ildar Adbrazakov hatte dem russischen Staatsmedium TASS kürzlich noch erklärt, dass er – trotz seiner Nähe zum Putin-Régime – überall in Europa auftreten könne. Doch nun kommt der Sänger, der eigentlich an der Staatsoper in München singen sollte, auf dem Spielplan des Hauses nicht mehr vor – stillschweigend ersetzt ohne große Pressemitteilung. Beim SWR ist die Frage um den Sänger Alexey Tikhomirov, dem ebenfalls eine Nähe zum russischen Kriegskurs vorgeworfen wird und der mit Teodor Currentzis unter anderem in der Elbphilharmonie auftreten soll, noch weiter offen.
Mal wieder mahlen die SWR-Mühlen sehr langsam (zwei Wochen sind seit unserer Anfrage vergangen). Es wäre allerdings auch hier nicht verwunderlich, wenn der SWR seiner merkwürdigen Handhabung der Russland-Frage treu bliebe und irgendeinen anderen Grund (familiäre Verpflichtungen?) fände, warum Tikhomirov letztlich nicht auftreten kann. Das Sender-Orchester hat bis heute auch noch nicht darauf reagiert, dass Teodor Currentzis sich seit Kriegsausbruch nicht nur weiter mit seinem Orchester musicAeterna von russischem Geld abhängig gemacht hat (VTB, Gazprom), sondern dass – wie nun bekannt wurde – auch sein Diaghilev Festival in Perm wesentlich von russischem Staats-Geld und von Privat-Geld finanziert wird, das von Firmen kommt, die am Krieg beteiligt sind. Unter anderem von der sanktionierten Sberbank und dem Immobilien-Unternehmen KORTROS.
Kann das Konzerthaus von YouTube profitieren?
Nichts finden alte Intendanten aufregender, als junge Menschen, die erfolgreich auf YouTube sind – und dann noch mit: klassischer Musik. Ray Chen ist einer von ihnen (er hat 100.000e Follower im Netz und ist gar nicht mehr auf die echte Bühne angewiesen), die Amerikanerin Nahre Sol ist noch erfolgreicher, hat sogar 600.000 AbonnentInnen – und das durch: reine Musikanalyse. Nun wird sie „Creator in Residence“ an der Elbphilharmonie. Das ist auf jeden Fall spannend, denn bislang ist es selten gelungen, Klicks in Ticket-Verkäufe zu verwandeln. Dazu müsste vielleicht auch das Konzerthaus als solches neu gedacht werden, wie es sich selber im virtuellen Raum positioniert, und wie viel Netz-Credibility die Häuser haben. Wer nun von Klicks profitieren will, wird sicherlich enttäuscht werden. Ob es reicht, sich einfach klickstarke YouTuberInnen einzuladen – wir werden das mit Neugier und großem Interesse verfolgen.
Personalien der Woche II
Vitali Alekseenok ist neuer Chefdirigent der Deutschen Oper am Rhein. Der 32-Jährige beginnt mit der Saison 2024 und beerbt damit seinen Vorgänger Axel Kober. +++ Riccardo Muti ist zum Dirigenten auf Lebenszeit des Chicago Symphony Orchestra ernannt worden. +++ Letzte Woche haben wir an dieser Stelle darüber berichtet, dass der Deutsche Kulturrat für die Erhaltung des Kulturauftrags beim Öffentlich-rechtlichen Rundfunk geworben hat. Martin Hufner fragt in seinem Blog musik|kultur|unrat noch mal nach und: bekommt keine Antwort. Warum hat der Kulturrat diese Pressemitteilung überhaupt verschickt, warum gab es dabei zeitliche Differenzen? Vor allen Dingen: Was wird hinter den Kulissen der Radio-Intendanzen debattiert. Hufner nimmt sich ein Interview vor, das die neue NDR Kulturchefin Anja Würzberg gegeben hat, in dem sie erklärt, warum nach 20 Uhr die Angebote der Sender wie im Radiosommer zusammengelegt werden sollen. „Sülz, Sülz und Tripel-Sülz“ nennt das Hufner. Mich interessiert noch eines: Warum ist ausgerechnet die NDR-Radio-Klassik-Abteilung in letzter Zeit immer so nahe und unkritisch an ihren Lokalhelden, etwa am Elbphilharmonie-Chef oder – jetzt gerade – an Justus Frantz (siehe weiter unten)? Warum scheint da immer wieder der Lokalpatriotismus über kritischen Journalismus zu siegen?
Ioan Holender weiß es mal wieder besser: dieses Mal, wie man die Bayreuther Festspiele in die Zukunft führen sollte. Liebe Die Presse – was, bitteschön, bringen Artikel, für deren Autoren die Zeit bereits vor 20 Jahren stehengeblieben ist, und die einfach nicht begreifen, dass sich die Welt auch ohne sie längst weiter dreht (genau, es handelt sich um den „Die Krim ist russisch“ Holender)? Unnötige Aufmerksamkeit! Das Theater der Gegenwart soll der Grund von Publikums-Zurückhaltung sein, und der Herr Ex-Staatsopernintendant weiß eh alles besser? Ach Gottchen – kann Opi von News (um den ist es aber auch ziemlich ruhig geworden) ihm nicht die Hälfte seiner Kultur-Märchen-Kolumne abgeben? Dann wäre der Altherren-Quatsch wenigstens gebündelt irgendwo abgelagert.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Das hat mich auch der Tenor Stefan Vinke gefragt – ob es denn in meinem Newsletter nur noch um Politik gehe? Nein, lieber Stefan: Es geht natürlich IMMER auch um die Lust und die Freude an der Musik. Zu sehen war sie übrigens gerade auch beim großen Prater-Picknick der Wiener Symphoniker: Am zweiten Abend regnete es Katzen und Hunde, das Konzert musste abgesagt werden, aber das Publikum blieb. Dirigent Dirk Kaftan beschloss: „Komm, wir spielen einfach weiter.“ Musikerinnen und Musiker waren schon auf dem Heimweg, kamen zurück auf die Bühne, zum Teil in Shorts oder Regenjacken – und das Publikum dankt es ihnen mit Pop-Star-Applaus. So geht Leidenschaft. Oder eben so wie im Garten von Stefan Vinke: In Corona-Zeiten erfand er die Wagner Festspiele in Hargesheim, für Klassik Radio haben wir das Ganze damals live aus dem Garten übertragen. Und: Stefan hat einfach weiter gemacht. Dieses Jahr stehen ab dem 21. Juli wieder Querschnitte aus Tannhäuser, Walküre, und die Fledermaus auf dem Programm, das hier ganz zu sehen ist.
Haben wir was vergessen? Ach ja, die Nominierungen für den Opus Klassik. Auch egal.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr