KlassikWoche 38/2020
Kämpfe für die Klassik
von Axel Brüggemann
14. September 2020
Das Schicksal der belarusischen Oppositionellen Maria Kalesnikawa, Kritik an den Corona-Regelungen, die aktuelle Situation der Künstler-Agenturen.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einer Freiheitskämpferin, ersten Gehversuchen und einem genialen Vorhang. Außerdem: ein Gruß an meinen Vater.
FREIHEIT FÜR KOLESNIKAWA
Auf offener Straße in einen schwarzen Van gezerrt und einige Tage später unter fadenscheinigen Vorwürfen inhaftiert – Das Schicksal der weißrussischen Oppositionellen, Maria Kolesnikawa, ist nicht nur politisch bestürzend, sondern auch ein Schlag gegen die Musik. Kolesnikowa hat Flöte in Stuttgart studiert, war hier aktiv in der Neuen-Musik-Szene, ihre Gefangennahme ist ein Skandal! Der SWR berichtet über die Reaktionen aus ihrer Wahlheimat Stuttgart. Das System von Alexander Lukaschenko zeigt seine ganze Unmenschlichkeit. Mit umso größerem Befremden erinnern wir uns an die Instagram-Bilder von Anna Netrebko, auf denen sie vor wenigen Monaten vor der Stalin-Architektur Weißrusslands posierte (Wir hatten schon damals gefragt: Geschmacklose Entgleisung oder dämliche Naivität?). Gerade in diesen Tagen ist Solidarität mit Maria Kolesnikowa und ihren Mitstreitern nötig – auch und gerade aus der Musikwelt. Unbedingt lesenswert ist der Artikel im VAN Magazin, in dem der Dirigent Vitali Alekseenok über den Protest in Weißrussland berichtet und darüber, wie Künstler sich nicht abschrecken lassen. „Viele Künstler:innen bleiben bei politischen Entwicklungen oft im Abseits, das habe ich auch in Belarus erwartet. Außerdem werden sie hier stets eingeschüchtert. Momentan beobachten wir jedoch so viele Initiativen von KünstlerInnen aller Sparten, dass ich jeden Tag staune, wie kreativ, vielseitig und stark die belarusische Kunstwelt ist. Eines der jüngst entstandenen Projekte heißt Symphonie der Solidarität – eine Collage von musikalischen Klängen, die von Dutzenden unterschiedlichster MusikerInnen aufgenommen wurden, zusammen mit den Originalklängen der Autos, der Polizei und der Zivilbevölkerung während der Proteste.“
DEN BETRIEB HOCHFAHREN
Wenigstens ein bisschen! Langsam, ganz langsam fährt der Klassik-Betrieb wieder hoch. Auch wenn deutsche Häuser neidisch nach Österreich schauen. Zu Recht, denn warum kann in München oder Hamburg nicht möglich sein, was in Linz, Salzburg oder Wien geht? Nicht nur in Fragen von Publikum, sondern auch von gemeinsamem Musizieren bei Orchestern und Ensembles: Die Tests in Österreich erlauben den Orchestern zusammen zu spielen. Viele deutsche Regionen wehren sich noch dagegen. Etwas polterig und redundant drehte Bariton Matthias Goerne mal wieder an der Corona-Leier: Die Kultur stünde vor einem Bankrott, erklärte er der Welt, und zwar grundlos: „Wenn die Autoindustrie so behandelt werden würde wie die Kultur, dann würde längst schon kein einziger Wagen mehr vom Band rollen.“ Für mich war ausgerechnet ein Pop-Künstler da differenzierter und klarer: Mir hat der Auftritt von Herbert Grönemeyer bei seiner Rede in Berlin zugesagt: Protest mit Maske und Abstand ist auch eine Möglichkeit, mit klaren Statements und fernab populistischer Verschwörungs-Hetze!
In der Abendzeitung kritisierte Andreas Schessl von MünchenMusik die bayerische 200-Zuschauer-Regel ebenso wie die 500-Besucher-Ausnahmen für Gasteig und Staatsoper: „Schwierig finde ich auch, dass die Regelung nur für zwei ausgewählte Spielstätten gilt und nicht auch für andere Säle, beispielsweise das Prinzregententheater. Wir veranstalten außerdem Konzerte in der Nürnberger Meistersingerhalle mit 2.100 Plätzen.“ Wenigstens in Berlin tut sich ein bisschen etwas: Die Abstandsregeln werden gelockert, berichtet der Tagesspiegel. „In Räumen mit fest eingebauter maschineller Belüftung, die eine Frischluftzufuhr entsprechend der maximalen Personenzahl gewährleistet, darf der Mindestabstand von 1,5 Meter auf 1 Meter von Sitzmitte zu Sitzmitte reduziert werden.“ Voraussetzung dafür ist, dass das Publikum die Mund-Nasen-Bedeckung auch während der gesamten Vorstellung nicht ablegt. Intellektuell wird derweil um die Deutungshoheit gestritten: Interessant fand ich den Text der Philosophin Svenja Flaßpöhler im Philosophie Magazin über die so genannte „Cancel Culture“.
WO IST GRÜTTERS?
Nachdem ich letzte Woche bemerkt habe, dass Kulturstaatsministerin Monika Grütters weitgehend abgetaucht ist (und sich damit allmählich als Krisenmanagerin vollkommen disqualifiziert hat), habe ich mich besonders über einen augenzwinkernden Leserbrief gefreut, der mich belehrte: „Lieber Herr Brüggemann, unsere BKM ist nicht verschwunden. Heute hat sie im Mittagsmagazin der ARD stolz berichtet, dass sie 38,5 Mill. Euro für die Restaurierung des Viermasters ‚Peking« in Hamburg ausgegeben hat.“
NEUER VORHANG IN WIEN
Auch in Wien hat die Klassik-Saison begonnen: Der neue Chefdirigent der Staatsoper, Philippe Jordan, hat die Staatsopern-Eröffnung mit Puccinis „Madame Butterfly“ und einer gefeierten Asmik Grigorian dirigiert (lustig übrigens: Nach Franz Welser-Mösts Autobiografie „Wie ich die Stille fand“, legte Jordan nun das Buch „Der Klang der Stille“ vor). Franz Welser-Möst wurde bei seiner „Elektra“ trotz Corona bedingtem „Bravo-Verbot“ frenetisch zurück im Haus am Ring begrüßt – besonders vom Stehplatz, den Wiener Opern-Ultras. Und dann gab es noch einen echten Scoop von Intendant Bogdan Roščić: Die US-Künstlerin Carrie Mae Weems hat den neuen Eisernen Vorhang gestaltet, der R&B‑Ikone Mary J. Blige zeigt. Unter dem Titel „Queen B (Mary J. Blige)“ betrachtet sie sich im altmeisterlichen Setting eines barock-überladenen Tischbildes im Spiegel – gewandet in eine Mischung aus heutigem Outfit und Versatzstücken einstiger Herrschaftssymbole des Okzidents. In diesem Zusammenhang auch spannend: das Porträt von Dirigent Roderick Cox in der Kulturzeit bei 3sat und unser Gespräch mit der Sängerin der Last Night of the Proms, Golda Schultz, die erklärt, warum es gerade in Südafrika wichtig ist, dass colored people die einst „weiß-besetzte“ Oper auf die Bühne bringen.
US-AGENTUREN SCHLIESSEN SICH ZUSAMMEN
In diesem Newsletter haben wir immer wieder die aktuelle Situation von Künstler-Agenturen thematisiert, unter anderem in einem Gespräch mit Nora Pötter von Raab & Böhm. BR-Klassik hat in einem interessanten Bericht nun in die USA geschaut und unter anderem mit Sabine Frank von Harrison Parrott und Charlotte Lee von Primo Artists gesprochen. Letztere fürchtet, dass es in den USA keine Hilfen wie in Europa geben wird und hat die Vereinigung PAMAC gegründet: Performing Arts Managers & Agents Coalition. Praktisch alle Agenturen in den USA sind beigetreten. Sie haben hunderte Briefe an Kongressabgeordnete und führende Politiker geschrieben, sagt Lee, „damit sie darauf aufmerksam werden, wie überproportional die Branche von der Pandemie betroffen ist“.
BAYREUTHER PLÄNE
Letzte Woche haben wir bereits in groben Zügen die Pläne der Bayreuther Festspiele skizziert, nun besteht Klarheit: Georg Freiherr von Waldenfels hat das Programm bestätigt, und auch Katharina Wagner soll schon bald wieder in ihr Büro zurückkehren. Geplant seien eine Neuproduktion des „Fliegenden Holländer“, der „Lohengrin“, die „Meistersinger von Nürnberg“ und auch der „Tannhäuser“, der eigentlich erst 2022 wieder aufgeführt werden sollte. „Das ist die jetzige Beschlusslage“, sagte Georg Freiherr von Waldenfels, Vorsitzender des Verwaltungsrats, am Dienstag. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nächstes Jahr Festspiele in Bayreuth haben werden. Was in Wien, Salzburg und Zürich möglich ist, sollte auch in Bayreuth durchführbar sein.“ Parallel dazu sollen die Proben für den „Ring des Nibelungen“ von Regisseur Valentin Schwarz laufen, der eigentlich in diesem Jahr Première feiern sollte und auf 2022 verschoben wurde. „Daran hat sich nichts geändert“, betonte von Waldenfels.
PERSONALIEN DER WOCHE
Regisseur Yuval Sharon wird Intendant an der Michigan Opera. Spannend, wie er, der das Musiktheater gern als Event in Szene setzt, mit einer traditionellen Institution umgehen wird. +++ Zubin Mehta fühlt sich fit nach seiner Nieren-Tumor-OP. „Ich habe nach der Operation eine experimentelle Behandlung durchgeführt und der Tumor ist nicht mehr da. Ich bin jetzt stärker als vorher“, so Mehta im Interview mit der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“. +++ In den letzten Wochen haben wir immer wieder über die Corona-Katastrophe am St. Petersburger Mariinski-Theater berichtet. Nun ist die Lage so schlimm, dass Anna Netrebko ihre „Onegin“-Auftritte verschoben hat. +++ Der Dirigent Anton Lubchenko hat seinen Job bei Vladimir Putins Lieblingsorchester in Sotschi gekündigt. +++ Der Bundestheater-Konzern hat neue Aufsichtsratsmitglieder bestellt. Prominentester Neuzugang ist Ex-Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, die den Vorsitz des Aufsichtsrats der Bundestheater-Holding von Manfred Matzka übernimmt. Neu im Aufsichtsrat des Burgtheaters sind u.a. Doris Schmidauer, Ehefrau von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, und Bettina Hering, Schauspielchefin der Salzburger Festspiele. Muth-Direktorin Elke Hesse, Bankmanager Andreas Treichl und Clemens Jabloner (Vorsitzender des Restitutionsbeirats) stoßen zum Aufsichtsrat der Wiener Staatsoper.
UND DAS NOCH
Mein Vater neigt dazu, beim Fernsehen die Hände hinter die Ohren zu halten – das sei ihm lieber, als zum Ohrenarzt zu gehen. Lieber Papa, ich weiß, dass Du den Newsletter liest, und deshalb hier für Dich, mit ganz besonderem Gruß eine Empfehlung von Dirigent Iván Fischer: ein perfekter Mundschutz und Ohrenöffner.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr