KlassikWoche 37/2020

Der Steiger kommt – das Publikum noch nicht

von Axel Brüggemann

7. September 2020

Markus Hinterhäuser über die Corona-Politik in der Kultur, ein Pilotversuch an der Bayerischen Staatsoper, die Nichtverlängerung des Vertrags von Robert Meyer an der Wiener Volksoper

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit der poli­ti­schen Igno­ranz gegen­über Kultur, aktu­ellen Bayreu­ther Planungen und ein biss­chen Leni Riefen­stahl.

POLITIK VS. ÖFFNUNGS­VER­SUCHE

Um klar zu machen, was möglich ist, hier das Zitat aus einem wie immer klug geführten Inter­view mit Markus Thiel im Merkur , in dem Salz­burg-Inten­dant diese Woche rück­bli­ckend sehr kluge Dinge über die Corona-Politik in der Kultur sagte: „Risi­kolos war es nicht, das gebe ich zu. Aber, und da möchte ich uns jetzt gar nicht auf die Schulter klopfen: Es war außer­or­dent­lich wichtig, diesen Versuch zu unter­nehmen. Nicht nur, um 100 Jahre zu feiern, sondern auch als Signal an die euro­päi­sche Kultur und Politik: Es kann etwas möglich sein! Wir durch­leben zurzeit etwas, das in dieser Drastik noch nie da war. Alles, was mit Bildung, mit Kultur zu tun hat, mit der „Erzie­hung des Herzens“, wie es Flau­bert formu­lierte, wird nicht nur infrage gestellt, sondern sogar verun­mög­licht. Man kann in Restau­rants gehen, man kann reisen, man kann ins Büro zum Arbeiten – aber Bildungs­stätten und Kultur­ein­rich­tungen sind geschlossen. Das ist gefähr­lich. Uns droht gerade, Entschei­dendes verloren zu gehen.“ 

Ja – Salz­burg und , in den nächsten Wochen aber auch die Wiener Konzert- und Opern­häuser könnten als Vorbild für dienen. Aber Fehl­an­zeige! Hier hadert die Politik, während die Künstler umso krea­tiver werden. Wie Hohn klingt es da, wenn Bayerns Staats­mi­nister für Kultur, Bernd Sibler, davon spricht, dass längst noch nicht alle Künstler-Hilfen abge­rufen wurden (was an der Komple­xität der Bewer­bung und den zum Teil absurden Bedin­gungen liegt und nicht an den Künst­lern in Not!) und dass man nicht daran denke, dem öster­rei­chi­schen Vorbild zu folgen. Man würde sich schließ­lich auch an Italien und den orien­tieren – und da liefe eben noch nichts (beide Länder waren ja auch vorbild­lich in der Pandemie-Bekämp­fung!!!)! Immerhin redet Sibler noch öffent­lich, während seine Kollegin auf Bundes­ebene, Monika Grüt­ters, sich inzwi­schen in Luft aufge­löst zu haben scheint. Immerhin: Ein Pilot­ver­such ermög­licht der Baye­ri­schen Staats­oper vier Wochen lang 500 statt 200 Besu­cher zuzu­lassen. In hat das Bezirksamt Mitte derweil den Auffüh­rungs-Allein­gang im Boulez Saal in aller­letzter Minute gestoppt und stellt weiterhin die Première der Walküre von an der Deut­schen Oper infrage – das berichtet Frederik Hanssen im Tages­spiegel. Wer soll das verstehen? Und wer versteht, wenn die BILD-Zeitung in dieser Zeit auch noch den Neid schürt und fragt, warum in Konzert­häu­sern Publikum möglich sei und in Fußball­sta­dien nicht. In diesen Tagen scheint es umso wich­tiger, soli­da­risch zu sein – und das Spiel der Aufhet­zung einfach zu igno­rieren. 

AGENTUR FORDERT NEUE SPIEL­RE­GELN

Letzte Woche haben wir hier über den Konkurs von Columbia Artists Manage­ment berichtet – und ihn einge­ordnet. Der Spiegel hat unsere Argu­men­ta­tion groß­flä­chig in der aktu­ellen Bericht­erstat­tung zitiert. Span­nend war die Debatte auf meiner FB- und Insta­gram-Seite, auf der es hin- und herging: Gefährden Agen­turen wie CAMI künst­le­ri­sche Qualität auf Kosten des Profits? Und wie genau könnte eine Klassik der Zukunft aussehen? Klar wurde: Der Diskurs ist offen und äußerst span­nend! Konkre­teres habe ich von Nora Pötter gehört, der Leiterin der Agentur „ & Böhm“ in Wien. In unserem Inter­view forderte sie unter anderem eine neue Vertei­lung des Risikos zwischen Künst­lern, Veran­stal­tern, Agen­turen und Publikum. Von der Politik erhofft sie eine Gewäh­rung von euro­päi­schen Reisen wenigs­tens für Dienst­rei­sende, um über­haupt hand­lungs­fähig zu werden. Grund­sätz­lich glaubt Pötter, dass es in Zukunft eher klei­nere Spieler geben wird, dass sich Qualität statt Quan­tität durch­setzen und dass einige Spit­zen­gagen geringer ausfallen werden.

BAYREU­THER PLANUNGEN

Nachdem die viel Protest dafür geerntet hatten, dass sie das Karten-Bestell­system außer Kraft gesetzt und ange­kün­digt haben, Kunden zu bevor­zugen, die ihre Karten für 2020 nicht zurück­er­statten lassen haben, vertei­digte Pres­se­spre­cher Hubertus Herr­mann das Vorgehen nun: „Für 2020 gekaufte Karten bleiben auch 2021 gültig, ‚Ring‘-Tickets bis 2022. Das bewährte Karten-Bestell­ver­fahren ist auf Mai 2021 verschoben, alles andere wäre grob fahr­lässig.“ Außerdem sagte Hermann: „Die folgenden Fest­spiel­jahre müssen neu geplant, mit jedem Künstler einzeln neu verhan­delt werden. Eins zu eins sind die für heuer geplanten Auffüh­rungen ins nächste Jahr nicht zu über­tragen. Geplant sind die Neuin­sze­nie­rung ‚Der flie­gende Holländer‘ und die Wieder­auf­nahmen ‚Tann­häuser‘, ‚Lohen­grin‘ und ‚Die Meis­ter­singer von ‘, sowie konzer­tante Auffüh­rungen als Ersatz­pro­gramm für verscho­bene Spiel­tage der ‚Ring des Nibelungen‘-Neuproduktion.“ Derweil hat Tenor in einem Inter­view das Geheimnis gelüftet, dass er 2022 in den Parsifal singen will (mit und ) – und dass das seine letzte neue Wagner-Rolle sein wird. Er wird die Partie zuvor mit in Cleve­land einstu­dieren.

WIE SINGEN DIE PROMS?

Was für ein Hick­hack! hatte die Debatte begonnen: Lieder mit impe­ria­lis­ti­schen Texten wie „Rule, Britannia“ und „Land of Hope and Glory“ hätten ihn bei der Last Night of the Proms schon immer gestört. Und auch der BBC schien die Tradi­tion ein Dorn im Auge zu sein. Man würde 2020 auf diese Lieder verzichten, hieß es – genau aus diesem Grund. Dann das Zurück­ru­dern: Beide Stücke würden zwar nicht in der gesungen, wegen der Covid-Verord­nungen (wie es nun hieß), aber die Zuschauer seien frei, zu Hause mitzu­singen. Dann folgte die dritte Wendung: Der neue Gene­ral­di­rektor der BBC, Tim Davie, hat nun entschieden, dass die Lieder in der Last Night of the Proms nun doch gesungen werden. Auch wenn ich mich mit meiner Meinung unbe­liebt mache: Was ist denn so schlimm daran, diese Texte nicht mehr zu singen? Wir haben uns doch auch gut daran gewöhnt, „Scho­ko­kuss“ zu sagen, weil sich Menschen durch den „Neger­kuss“ diskri­mi­niert fühlen, wir gewöhnen uns gerade daran, dass auch in der Klassik (wenn auch langsam) Gleich­be­rech­ti­gung einzieht (beson­ders in Führungs­po­si­tionen), und ich persön­lich finde es auch verdammt legitim, keine impe­ria­lis­ti­schen Lieder von Blut, Schweiß und Feinden mehr anzu­stimmen – das machen wir in unserer deut­schen Hymne doch auch nicht mehr. Und das ist doch auch gut so! Warum, bitte­schön, kann die huma­nis­ti­sche Kunst der Klassik in diesen Dingen nicht einfach voran­gehen? Also: Mehr Mut, BBC! 

WIENER ALLERLEI

Volksoper Wien

An der Wiener Volks­oper hat Inten­dant Robert Meyer nun endgültig eine Absage von Kultur­staats­se­kre­tärin Andrea Mayer für seine Vertrags­ver­län­ge­rung erhalten. Und antwor­tete darauf nun betont: „Ich hatte einen entspannten Sommer. Denn ich musste mich nicht fürs Hearing vorbe­reiten.“ Tatsäch­lich hat Mayer das Haus mit seinem Musical-Kurs in gute Verkaufs­zahlen gelenkt, gleich­zeitig haben Ensemble und Haus unter genau diesem Trend auch gelitten. Für die Neuaus­rich­tung wird offen­sicht­lich in Rich­tung Komi­sche Oper Berlin geschielt. Die gebür­tige Salz­bur­gerin Susanne Moser gilt derzeit als erfolg­ver­spre­chendste aller 32 Kandi­daten – möglich wäre auch eine Lösung mit Wiener Charakter. Derweil meldete sich Burg­theater-Chef Martin Kušej zu Wort und erteilte Ego-Shoo­tern der Wiener Kultur­szene im Stan­dard eine Absage: „Ich habe das (die öffent­li­chen Strei­te­reien der Kultur­schaf­fenden) als öster­rei­chi­sches Phänomen wahr­ge­nommen. In der öster­rei­chi­schen Kultur­szene herrscht ein gewisser Vampi­ris­mus­re­flex, der mir fremd ist.“ Er meint nicht nur Josef­stadt-Direktor Herbert Föttinger, sondern auch den aufge­bla­senen Streit zwischen Alber­tina-Chef Klaus Albrecht Schröder und Staats­opern-Inten­dant Bogdan Roščić. Der gab Armin Wolf von der ZIB2 ein ausführ­li­ches Inter­view, in dem er seinen Angriff auf Schröder vertei­digte und ansonsten in epischer Lange­weile die Situa­tion seines Hauses erklärte. Übri­gens, da in Wien Gerüchte kursieren: Auf Anfrage unseres News­let­ters erklärte Roščić, dass Ex-Inten­dant keinerlei bera­tende Funk­tion an der Staats­oper inne­habe. Roščić will in dieser Saison haupt­säch­lich inter­na­tio­nale Regie-Klas­siker wie Calixto Bieitos Carmen an seinem Haus zeigen, das einst selber Regie-Klas­siker geschaffen hat.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Es sah – nun ja – ziem­lich (lokal)patriotisch aus, als und die Staats­ka­pelle mit Musi­kern des Landes­berg­mu­sik­korps Sachsen und einem – nicht ganz so patrio­tisch schmet­ternden – das „Stei­ger­lied“ anstimmten: spek­ta­kulär illu­mi­niert, im Fußball­sta­dion und in echt schnieken Uniformen. Das Fest „30 Jahre Sachsen“ (übri­gens dabei: Opern­ball-Projekt­lei­terin und Hajo-Frey-Vertraute Trixi Steiner) sah ein biss­chen aus wie „84 Jahre Olym­pi­sche Spiele“. Typisch säch­sisch? +++ Nun ist es sicher: wurde für fünf weitere Jahre als Gene­ral­mu­sik­di­rektor in bestä­tigt. Sein Vertrag läuft nun bis 2027. +++ Inten­dant wurde 80 Jahre alt – eine Würdi­gung in den Stutt­garter Nach­richten. +++ Schlimmer als befürchtet: Nun sind wohl auch Teile des Mari­insky-Chores mit Covid-19 infi­ziert, einige Sänge­rinnen und Sänger mit schwer­wie­genden Symptomen.

UND DAS NOCH

Ich habe zwei Schman­kerl am Ende: Im Netz habe ich eine groß­ar­tige Auffüh­rung von Wagners „Ring“ gesehen – in einem US-Hof, mit Kammer-Ensemble in Corona-Zeiten. Der Clou: Alle Mitwir­kenden waren People of Colour – die Idee hatte der Sänger Kevin Maynor. Ich habe ihn ausfindig gemacht und mir seine Idee erklären lassen. Alles dazu: hier.

Wofür steht „WAP“? – Finden Sie es heraus. Die Sängerin Sara Hersh­ko­witz singt die volle Bedeu­tung dieses Wortes auf ihrer Face­book-Seite gleich in ganz verschie­denen Kompo­si­ti­ons­stilen: Wagner, Puccini oder Glass? – So klingt die kleine Perver­sion ganz klas­sisch!

https://​www​.face​book​.com/​5​9​2​4​8​6​0​2​0​/​v​i​d​e​o​s​/​1​0​1​5​7​2​9​4​5​1​4​7​8​1​0​2​1​/​?​e​x​t​i​d​=​p​u​B​2​7​q​4​t​o​p​X​T​P​fw6

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Georg Soulek