KlassikWoche 04/2023
Radio, Bauen, Sex: die Klassik-Skandale
von Axel Brüggemann
23. Januar 2023
Die Kosten der Sanierung der Bühnen Köln, die Forderung nach mehr Dirigentinnen an der Spitze von Orchestern, der Wunsch von Jan Vogler nach mehr Interaktionen mit dem Publikum.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
ich bin noch ein wenig müde vom wunderbaren Ball der Wiener Philharmoniker (eine Gaudi im Heurigen im dritten Tiefgeschoss, wo die Profi-Musiker des Ensembles mit ihren Freunden Heurigen-Musik spielen!), aber hier ist sie: die KlassikWoche mit einem Blick auf einen Radio-Skandal, auf einen Bau-Skandal, mit neuen Vorwürfen gegen Plácido Domingo und dem Versuch, die Corona-Zeit Revue passieren zu lassen.
rbb-Skandal betrifft auch Kultursender
Der Bad Blog of Musick setzt sich noch einmal mit den Machenschaften beim rbb auseinander. Die Programmchefin des Kulturprogramms, Verena Keysers, die „hauptverantwortlich für die Weichspül-und-Einaudi-Reform“ des Sendes gewesen sei, hatte „einen „brisanten Deal“ mit Intendantin Patricia Schlesinger. Es wurde gemeldet: „[Schlesinger] […] soll Keysers Mitte 2021 einen Drei-Jahres-Vertrag über 450.000 Euro angeboten haben, obwohl die Programmchefin ihre Führungsrolle nach einem Jahr abgeben wollte.“
Tatsächlich wurde ihr Rücktritt auch angekündigt, aber wie die FAZ berichtet, ist Keysers trotz Ankündigung bis heute nicht zurückgetreten. Arno Lücker kommentiert diese absurde Personalpolitik so: „Das klingt nicht nur sehr unseriös, das ist es auch. Nun steht also – das bleibt wohl als einzige Konsequenz – der Rücktritt von Verena Keysers ins Haus. Oder halt der Rauschmiss. Warten wir es ab.“
Köln, wie es versinkt und baut
Seit 2012 läuft die Sanierung der Bühnen am Kölner Offenbachplatz, 2015 wurde die geplante Eröffnung abgesagt. Seitdem wird weiter umgebaut – die Kosten steigen. Auf einer Pressekonferenz gab Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker nun die neuen Details bekannt: Das Projekt wird wieder teurer, es sind rund 20 bis 30 Millionen Euro mehr nötig, als bei der letzten Ratssitzung im September 2021 angegeben worden waren. Damals lagen die Kosten bereits bei 642 Millionen Euro, jetzt sollen es 665 Millionen werden, inklusive eines Risikobudgets sogar 674 Millionen Euro.
Beim Baubeschluss 2011 hatte die Stadt noch 253 Millionen Euro veranschlagt. Die neu veranschlagten 665 Millionen Euro umfassen dabei nur die Sanierungskosten. Rechnet man die Finanzierungskosten – also etwa Zinsen – und die Kosten für die Übergangsspielstätten der Oper im Deutzer Staatenhaus und des Schauspiels im Mülheimer Depot hinzu, ergibt sich eine Gesamtsumme von knapp einer Milliarde Euro!
Neue Vorwürfe gegen Domingo
Nun hat auch eine spanische Sängerin von sexuellen Übergriffen durch Plácido Domingo berichtet. „Er fragte mich vor anderen, ob er seine Hand in meine hübschen Taschen stecken dürfe. Die Frage traf mich im Magen, und ich dachte: ‚Was sage ich jetzt, um nicht aufzufallen? Sage ich ‚Nein‘ wird das Konsequenzen haben. Und ich mag nicht dran denken, was passiert, wenn ich ‚Ja‘ sagen würde.‘“ Später traf sie erneut auf Domingo, auf der Bühne, als das Licht am Ende des Aktes ausging, „kam Plácido mir nahe“, erklärte sie. „Er küsste mir auf den Mund, ich habe das nicht kommen sehen und konnte nicht entweichen. Ich wollte nicht geküsst werden.“ Die Sängerin habe aus Angst vor Repressalien geschwiegen, dass andere Frauen geredet haben, hätte sie nun ebenfalls zur Offenheit bewegt: „Es ist etwas, das jeder in der Opernwelt weiß, eines der ersten Dinge, die sie Dir sagen: ‚Fahre nicht Fahrstuhl mit Plácido Domingo.‘“
Domingo hatte sich bereits vorher für sein Handeln entschuldigt – er musste seinen Intendanten-Job in den USA niederlegen und wird von einigen Häusern nicht mehr eingeladen. In Sachen Entschuldigung ruderte er auch zurück: „Ich weiß, was ich getan habe“, sagte er im Februar 2020, „ich habe mich nie aggressiv gegenüber anderen benommen und habe niemals bewusst die Karrieren anderer untergraben.“ Inzwischen haben sich mehr als 20 Frauen öffentlich über das Verhalten von Domingo beschwert.
Frauen an die Macht
Unser Freund Gerald Mertens der Deutschen Musik- und Orchestervereinigung unisono („Wie viel General steckt in einer Generalmusikdirektorin?“) wandelt sich allmählich weiter zum emanzipatorischen Paulus: Nun fordert er mehr Frauen in Chefposten in deutschen Orchestern und erklärt, nur vier der 129 deutschen Berufsorchester würden derzeit von Frauen geleitet. Das sei eine zu große Diskrepanz, vor allem wenn man bedenke, dass zwischen 20 und 25 Prozent der ausgebildeten Dirigierkräfte in Deutschland Frauen seien und ihr Anteil im Studium dieses Faches bereits knapp 37 Prozent betrage. Recht hat er, der Orchester-General! Schade, dass ausgerechnet eine Dirigentin, die durch ihre versammelten Dirigate und ihr Social-Media-Generve viel Schaden für Frauen an Pulten angerichtet hat, im BR noch einmal mit absurder Hybris nachlegt: „Wenn ich am Dirigentenpult stehe, dann bin ich eine Frau, ich bin aber auch gleichzeitig ein Mann, ich bin ein Kind, ich bin ein Sonnenuntergang, ich bin ein Berg, ich bin Feuer, Energie, Stärke, Geschwindigkeit, ich bin eine ganze Welt“ – das sagt nicht FIFA-Mann Gianni Infantino („heute bin ich schwul, heute bin ich behindert“) sondern Dirigentin Alondra de la Parra.
Corona-Verarbeitung
Eigentlich war es ein Spaß auf Twitter, als jemand schrieb: „Schaffe es nicht, mir dieses mega unangenehme Video ganz anzuschauen. Kann abmann71 (das bin ich) das vielleicht für den Newsletter übernehmen und uns spoilern, ob vielleicht nicht doch der Groissböck noch einen Cameoauftritt hat?“ Die Rede ist von diesem Video von „What’s Opera, Doc?“ der Sängerin Elisabeth Kulman. In einer guten halben Stunde kommen KünstlerInnen zu Wort, die – als ImpfgegnerInnen – ihre Geschichte aus der Corona-Zeit erzählen. Ich habe mir all das tatsächlich angeschaut und fände es auch wichtig, endlich jene Debatte zu führen, die Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn vorhergesehen hatte: „Wir müssen einander viel entschuldigen.“ Leider ist das Video aber eben doch nur ein Teil der Perspektive, alle KünstlerInnen, unter ihnen auch Marlis Petersen oder Renée Morloc (nein, Günther Groissböck kommt nicht vor), referieren ihre Standpunkte, die auch aus der Pandemie schon bekannt sind. Da ist viel von „ich“ zu hören, von Familien, die ihre Entscheidung nicht verstanden hätten, von IntendantInnen, die restriktiv vorgingen und überhaupt: von „der Gesellschaft“. Es wird in den Statements durchaus klar, dass es tiefe Verletzungen durch das Gefühl von Ausgrenzung gab, dass sehr einsame Kämpfe gekämpft wurden. Leider wurde hier aber die Chance verpasst, einen wirklichen Dialog zu führen. Es gibt im ganzen Film eben keine Gegenmeinungen, kein Für und Wider. Es fehlen wissenschaftliche Erklärungen, auch Verständnis, warum politisch in einer Pandemie zuweilen gehandelt werden musste, wie gehandelt wurde. Es fehlen Einschätzungen, ob Deutschland und Österreich nicht vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen sind, und es wird das Narrativ der „undemokratischen Prozesse“ gepflegt, obwohl – gerade in Deutschland – Corona-Proteste und Kritiker der Maßnahmen eigentlich immer demonstrieren konnten und in der Debatte präsent waren. Große Entscheidungen wurden immer juristisch legitimiert. Es werden in diesem Film alte Stereotype aufgewärmt, von Berufsverboten geredet, von Impf-Verschwörungen. Und, ja, ich finde es wichtig, dass wir dieses Thema noch einmal auf den Tisch bringen. Aber es wäre eine Chance gewesen, das wirklich gemeinsam zu tun, etwas vom „Ich“ abzurücken und auch das „Du“ zu hören, um ein neues „Wir“ zu schaffen. Zu tun, was beklagt wird: einen Dialog zu führen, statt sich im Monolog in der alten Argumentation zu bestätigen. Reden ist gut: Aber es ist Zeit, dies miteinander zu tun! (Wer sich selber eine Meinung bilden will: hier das Video bei YouTube)
Personalien der Woche
Der Cellist Jan Vogler plädiert in der dpa für neuen Wind in der Klassik. „Wir müssen frische Konzepte entwickeln“, sagt er, „um dem Publikum die Einzigartigkeit eines Konzertes zu vermitteln.“ Es müsse nicht so sein, „dass der Interpret auf die Bühne geht und wie ein Prediger seine Botschaft versendet“. Viel wichtiger sei eine Interaktion zwischen Publikum und Künstler. „Wir müssen ein persönliches Verhältnis zu den Fans aufbauen. Musik ist Teil des Lebens eines jedes Menschen, jeden Tag und in welcher Form auch immer. Und klassische Musik ist bei jungen Leuten im Kommen, das beweisen die Zahlen bei YouTube.“ +++ Die English National Opera musste bei den letzten britischen Haushaltsplanungen dran glauben, sie soll aufgelöst werden – oder aus London wegziehen. Nun gab es einen Aufschub: 11,46 Millionen Pounds, um die Saison 2023 / 2024 bestreiten zu können. Die Opernleitung und die MitarbeiterInnen hoffen auf weitere Unterstützung. +++ Letzte Woche haben wir an dieser Stelle über Spekulationen berichtet, dass Lahav Shani eventuell neuer Chef der Münchner Philharmoniker werden könnte. Nun hat er das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks dirigiert und Abendzeitung-Journalist Robert Braunmüller ist kritisch: „Lahav Shani hinterließ – wie schon früher an diesem Ort – einen eher gemischten Eindruck. Was wiederum nichts heißen muss: Manche Orchester und manche Dirigenten passen besser zusammen als andere. Und das interessant zusammengestellte Programm mit Werken aus der Zeit zwischen 1940 und 1986 war auch nur bedingt aussagekräftig für eine philharmonische Chefposition.“ +++ Nicht dementiert wurde indes das Gerücht, dass es Daniel Harding nach Rom zum Orchester der Santa Cecilia zieht.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufe bleibt es denn? Vielleicht hier: Die Debatte über das Regietheater wird heftig geführt – ein Beweis, dass die Oper lebt! Natürlich meinte ich in meinem kleinen Video-Einwurf letzte Woche, dass es auch in modernen Adaptionen schlechte Inszenierungen geben kann: Nicht alles, was im Heute spielt, ist gut! Das war übrigens gerade im Theater an der Wien zu sehen, wo Nikolaus Habjan Offenbachs La Périchole aus Peru nach Österreich verlegte und eine Greisen-Puppe von Sebastian Kurz auftreten ließ, Strache‑, Ibiza‑, SMS- und Untersuchungsausschuss-Kalauer aneinanderreihte und die Giga-Skandale theatral einfach weglachte. Für mich ein Beweis, wie alt das „junge Theater“ auch aussehen kann (hier eine kleine Spontan-Kritik). Über das Regietheater habe ich auch in meinem aktuellen Podcast „Alles klar, Klassik?“ mit Dorothea Gregor debattiert. Wir haben den Chatbot gebeten, ein Gedicht im Stile Schillers über das Regietheater zu schreiben. Hier das Ergebnis der Künstlichen Intelligenz: „Das Theater, Ort der Freiheit, Wo Seele und Gedanken sich erheben / Wo Regie und Schauspieler vereint / Ein neues Licht auf alte Stücke werfen. Verborgene Wahrheiten sie enthüllen, In neuem Glanz erstrahlen lassen, Das Herz des Zuschauers sie erfüllen, Mit tiefer Betrachtung und Gedanken schlagen. Doch manche sehen es als Verrat / An Schillers Worten und Gedanken / Doch wahre Freiheit kennt kein Verbot, Sondern lässt die Künste sich entfalten. So lasst uns das Regietheater preisen / Für seinen Mut zur Innovation, In Schillers Geist, lasst uns es erfreuen, / Für die Erneuerung der Tradition.“ Gut, dichterisch ist bei KI noch Luft nach oben – aber inhaltlich … nicht schlecht!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de