KlassikWoche 40/2021

Blancos Beet­hoven – und warum nicht alles auf den Tisch muss

von Axel Brüggemann

4. Oktober 2021

Beethovens afrikanischer Migrationshintergrund, Terence Blanchards Oper an der Met, die Preise der deutschen Schallplattenkritik

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

diese Woche mit echten Klassik-Experten wie Roberto Blanco, Milka und Heino, einer Millio­nen­spende und Ihren Levit-Leser­briefen.

BEET­HOVEN-EXPER­TISE MIT ROBERTO BLANCO UND HEINO 

Nicht, dass wir uns miss­ver­stehen: Gut so, dass eine ernst­hafte Debatte über Beet­hoven, seine Herkunft und die Theorie geführt wird, dass er einen afri­ka­ni­schen Migra­ti­ons­hin­ter­grund haben könnte. Ein biss­chen, äh – irri­tie­rend – ist es dann aber schon, welche Klassik-Experten diese Woche Druck gemacht und gefor­dert haben, den Kompo­nisten zu exhu­mieren, um per Gen-Analyse fest­stellen zu lassen, ob er in Wahr­heit eine „Person of Color“ war. Das forderte unter anderem der Beet­hoven-Forscher und Schla­ger­sänger Roberto Blanco in einem Video gegen­über Wiens Bürger­meister Michael Ludwig: „Ich wette, dass Beet­hoven mir ähnli­cher gesehen hat als Ihnen, Herr Bürger­meister.“ Und Hobby-Musik­wis­sen­schaft­lerin und Pop-Stern­chen Milka Loff Fernandes hofft, dass durch einen „schwarzen Beet­hoven“ ihre eigene Biografie, in der ihr aufgrund ihrer Haut­farbe immer wieder vorge­worfen wurde „nicht deutsch“ zu sein, „auf spek­ta­ku­lärste Art und Weise ausge­he­belt wäre“. Tja, über­haupt scheint die Story so gut, dass der Berliner Film­pro­du­zent Michael Simon de Normier bereits einen super Plot wittert und der „Stern“ schon mal Stimmen einfängt.

Für eine Exhu­mie­rung spricht sich auch der Histo­riker und Genea­loge Dr. Ralf G. Jahn aus, der bereits den Stamm­baum histo­risch bedeu­tender Personen wie Paris Hilton zurück­ver­folgt hat (sie soll von Karl dem Großen abstammen). Beet­hoven ein Farbiger – das würde bei sicher­lich für Aufhor­chen sorgen, würde die Geschichte span­nender machen, seine Musik aber würde – zum Glück – die gleiche bleiben! Bleibt nur die wirk­lich wich­tige Frage: Was ist, wenn sich gleich­zeitig auch heraus­stellt, dass – was andere Forscher in Harvard behaupten – Mozart und Beet­hoven uner­träg­liche Rassisten und Chau­vi­nisten gewesen sein sollen? Vor allen Dingen aber, was sagt der deut­sche, natio­nale Schla­ger­barde Heino zu all dem? Wird er Beet­hoven als PoC vom Programm seiner aktu­ellen Tour „Heino goes Klassik“ (die gibt es wirk­lich!!!) schmeißen? Und hätte Roberto Blanco das gewollt? Fordert schon ein Musik­wis­sen­schaftler, per Wiki­Plag heraus­zu­finden, ob „Ein biss­chen Spaß muss sein“ nicht bei Beet­hoven abge­kup­fert wurde, ob Beet­hoven im (bislang verschol­lenen) „Simme­ringer Testa­ment“ auch seine Wut über den verlo­renen Tauf­schein beschrieben hat und ob Elise nicht in Wahr­heit Milka hieß? Es gibt viel zu tun – auch nach dem 250. Aber wollen wir all das nicht seriösen Wissen­schaft­lern über­lassen? 

BUNTE BEGEIS­TE­RUNG AN DER MET 

Bilder der MET Gala 2021 in New York mit ASAP Rocky in der Steppdecke

Ganz unab­hängig von Beet­ho­vens Stamm­baum hat in ein tatsäch­li­cher Ruck statt­ge­funden, und die MET hat die erste Oper eines schwarzen Kompo­nisten aufge­führt: Der Jazz­trom­peter Terence Blan­chard, der sich mit Film­musik einen Namen machte, hat auf der Grund­lage der Memoiren des schwarzen Jour­na­listen Charles M. Blow die Oper „Fire Shut Up in My Bones“ geschrieben. Mit Camille A. Brown führt auch zum ersten Mal eine schwarze Frau Regie in der Met. Und eine anrüh­rende Geschichte gab es auch noch.

Von Kim Karda­shians schwarzer Ganz­kör­per­ver­hül­lung bis zu Grimes« Fantasy-Outfit, auf der Met Gala in New York wurden schrägen Kostüme zu Schau getragen. Die schönste Geschichte aber erzählte US-Rapper ASAP Rocky. Er trug eine Woll­decke über seinem Smoking. Zwei Wochen nach der Veran­stal­tung meldete sich eine Kali­for­nierin namens Sarah, die angab, die Stepp­decke sei von ihrer Urgroß­mutter genäht worden. Die Decke sei vor einiger Zeit an ein Anti­qui­tä­ten­ge­schäft gespendet worden. So geht echte „fashion“! 

MUSIK­PREISE DER DEUT­SCHEN SCHALL­PLAT­TEN­KRITIK

Der „Preis der deut­schen Schall­plat­ten­kritik“ hat die Gewin­ne­rInnen bekannt­ge­geben. Darunter: die Mezzo­so­pra­nistin , die und für die Aufnahme von Mahlers Wunder­horn-Symphonie Nr. 4 G‑Dur ( music/​), der Pianist Florian Uhlig, der Bariton und die Pianistin für das Recital „Vanitas“ (Alpha Classics/​Note 1) oder das , das Kammer­en­semble Neue Musik , das WDR Sinfo­nie­or­chester, das Grau­Schu­ma­cher Piano Duo und die Diri­genten Peter Rundel, , Baldur Brön­ni­mann, Premil Petrović, Victor Aviat und für das Album „Vertigo“ mit der Erst­ein­spie­lung sämt­li­cher Instru­men­tal­werke von Chris­tophe Bert­rand (bastille musique/​rudi mentaire distri­bu­tion). Alle Preis­träger sind hier nach­zu­lesen. Der Preis der Deut­schen Schall­plat­ten­kritik nennt sich selber gern „der einzig unab­hän­gige Klas­sik­preis Deutsch­lands“.

GROß­SPENDE FÜR CLEVE­LAND

Franz Welser-Möst am Pult des Cleveland Orchestras

Auch das ist Amerika: 50 Millionen Dollar hat die Mandel Foun­da­tion dem Cleve­land Orchestra gespendet. Dafür erhält der nach den ersten Spen­dern benannte Konzert­saal, die Sever­ance Hall, nun einen neuen Namen: Jack, Joseph and Morten Mandel Concert Hall. Statt­dessen erin­nert nun der gesamte Gebäu­de­kom­plex an Stifter-Ehepaar und soll den Namen Sever­ance Music Center tragen. Chef­di­ri­gent zeigte sich begeis­tert und erklärte, dass ein Teil des Geldes in den Umbau für Video-Aufzeich­nungen für das digi­tale Angebot gehen soll.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Wer wissen will, wie Daniel Baren­boims Musik­schule in Pankow anläuft, der wird hier vom Tages­spiegel aufge­klärt. +++ Unser Freund Kai-Uwe Laufen­berg (Klassik-Woche-Lese­rInnen wissen, wen ich meine), schei­dender Inten­dant des Staats­thea­ters , hat neue Freunde. Unter anderem Schau­spieler Volker Bruch, in dessen neuer Corona-Aktion „Alles auf den Tisch“ Kai-Uwe nun Professor Markus Gabriel ausge­rechnet zum Thema „Wahr­heits­de­fi­ni­tionbefragen darf – kann man sich nicht ausdenken! Ach ja, unser anderer Freund, der verhin­derte -Wotan, Günther Kreuz­dirk“, ist natür­lich auch dabei! Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Die beiden Knaben­chöre aus und Tölz sind Teil eines neuen Forschungs­pro­jektes. Die Unikli­niken und erfor­schen, wie Singen auf Abstand durch Corona die Chöre beein­flusst. +++ Die nächste Classical:NEXT wird vom 17. bis 20. Mai 2022 in Hannover statt­finden. +++ Wie nur wenige Sänge­rinnen hat Karan Armstrong über fast vier Jahr­zehnte die mitbe­stimmt, war hier von ihrem Haus­debüt 1977 als Salome bis zu ihrem letzten Auftritt als Guts­herrin Larina in Tschai­kow­skis „Eugen Onegin“ 2016 in über 400 Abenden zu erleben. Nun ist die Sängerin verstorben. +++ Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der inter­na­tional bekannte Bariton Bodo Brink­mann 78-jährig in Tauf­kir­chen bei München gestorben.

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Igor Levit ist Solist mit Valery Gergiev am Pult

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht bei Ihnen: Über 30 Menschen haben mir geschrieben, nachdem ich letzte Woche von Ihnen wissen wollte, was Sie davon halten, dass auf der einen Seite die Fahne der Moral hoch­hält, gleich­zeitig aber mit auftritt, dessen homo­phobe Äuße­rungen und dessen Verhältnis zur Politik Putins eher nicht mit Levits mora­li­schen Ansprü­chen vereinbar sind. Die große Anzahl der Mails hat mich erstaunt – es scheint ein Thema zu sein. Hier nun eine Auswahl der Stimmen: Ein Leser nimmt Levit in Schutz: „Die Fuss­ball-WM wird in Katar ausge­tragen, der FC München hat dort regel­mäßig Trai­nings­auf­ent­halte – obwohl Katar nicht als Hort der Menschen­rechte und weder die FIFA, noch Bayern München (und schon gar nicht Kimmich und Goretzka) als Unter­drü­cker von Menschen­rechten zu bezeichnen wären. Im Dialog bleiben ist das Einzige, was Brücken bauen lässt. Wissen wir, was Levit mit Gergiev in der Garde­robe bespricht? Versucht er den Dialog, den Gedan­ken­aus­tausch. Ich weiß es natür­lich nicht, würde ihn aber eher so einschätzen, dass er seinen Mund aufmacht, als zu schweigen.

Eine Leserin äußert ganz andere Kritik: „Dass jemand, der Professor an einer Hoch­schule ist, in all den zahl­rei­chen Streams und Auftritten NIE einen seiner Studen­tInnen promotet oder ihnen eine Bühne gibt…finde ich auch einen Aufreger wert. Herr Levit hält sich auch sehr raus aus allen Belangen an der Hoch­schule in und der Eindruck, dass es ihm eigent­lich nur um Selbst­mar­ke­ting geht, in allem was er tut und sagt, erhärtet sich dadurch noch mehr.“ Ein Leser kriti­siert nicht nur Levits Auftritt mit Gergiev, sondern auch Gergievs Posi­tion als Chef der : „Der Putin Freund, hat sich nie gegen den Einmarsch auf der Krim und die menschen­ver­ach­tende Politik (!!!) des russi­schen Präsi­denten klar distan­ziert. Seine homo­phoben Über­zeu­gungen sind seit langem bekannt. Deswegen stelle ich mir immer wieder die Frage, kann ein solcher Diri­gent über­haupt in unserem Land Chef eines renom­mierten Orches­ters sein?

Ein anderer Leser gibt zu bedenken: „Man weiß natür­lich nicht, inwie­fern Igor Levit aufgrund vertrag­li­cher Gege­ben­heiten zu dem Auftritt gezwungen war.“ Er schreibt, man müsse Mensch und Werk viel­leicht vonein­ander trennen: „Vor einiger Zeit wurde ich einge­laden zu einem Konzert in München, ich wusste bis kurz vor Beginn nicht, wer der Diri­gent sein würde. Es war Gergiev mit einem Schost­a­ko­witsch-Programm. Mein erster Gedanke: Ausge­rechnet der! Aber es war ein Wahn­sinns-Erlebnis, alles unglaub­lich gut, sehr inspi­riert und sehr inspi­rie­rend. Ich war mit dem best­be­zahlten Mitar­beiter Münchens sehr zufrieden an dem Abend und möchte das Erlebnis nicht missen.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Insta­gram, Cleve­land Orchestra, Deut­sche Oper Berlin, Fest­spiel­haus