KlassikWoche 45/2023

Wer macht Chicago? Was wird aus Ludwigs­burg? Und der Nahost­kon­flikt in der Klassik.

von Axel Brüggemann

6. November 2023

Der designierte Chefdirigent des Concertgebouworkest Klaus Mäkelä und das Chicago Symphony Orchestra, die neue Videospieloper »Kairosis« von Moritz Eggert, die Stellungnahme der Barenboim-Said Akademie.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit Klaus Mäkeläs neuer Musik-Lieb­schaft, einem span­nenden Opern-Compu­ter­spiel, dem Ludwigs­burger Erbe und einer Stel­lung­nahme der Baren­boim-Said Akademie.

Hat sich das Concert­ge­bouw verzockt?

Die Mäuse pfeifen es seit Wochen durch die Löcher des hollän­di­schen Käses: der desi­gnierte Chef­di­ri­gent des Concert­ge­bou­wor­kest, , scheint eine neue Liebe zu haben (nein, Yuja ist noch immer aktuell!). Angeb­lich flirtet er derzeit heftig mit dem Chicago Symphony Orchestra – und das mit ihm. Wird der Finne Nach­folger von , und ?

Bestä­tigt ist noch nichts, aber es scheint nicht unmög­lich, dass Mäkelä noch vor seinem Amts­an­tritt in Amsterdam im Jahre 2027 Chef in Chicago wird. Hat das Concert­ge­bou­wor­kest sich etwa verzockt, als es dem jungen Diri­genten so viele Jahre im Voraus einen Vertrag gab, um zu warten, bis Mäkeläs Verträge in Paris und Oslo auslaufen? 

Neues Genre: Compu­ter­spiel-Oper

Stellen Sie sich vor, Sie sind eine junge Kompo­nistin, aber die Proben zu Ihrem neuen Stück werden immer wieder gestört. Sie müssen entscheiden, wie es weiter­geht. So unge­fähr funk­tio­niert die welt­weit erste Video­spiel-Oper Kairosis von Kompo­nist . Ein inter­ak­tives Neue-Musik-Erlebnis, das durchaus seinen Charme entwi­ckelt und Musik ganz selbst­ver­ständ­lich als Leit­motiv der digi­talen Fiktion begreift. Der Klari­net­tist des Offen­ba­cher Broken Frames Syndi­cate, Moritz Schnei­de­wendt, hatte die Idee – und nun lesen Sie erst den News­letter zu Ende, und dann auf zum kosten­losen Spiel­ver­gnügen: Hier entlang

Perso­na­lien der Woche I

100 Jahre , und die ARD feiert. Unter anderem mit einem Zusam­men­schnitt seiner besten Klassik-Auftritte wie dem legen­dären Klavier­träger-Dirigat bei den Berliner Phil­har­mo­ni­kern. Unbe­dingt ansehen! +++ Deut­sche Häuser und der Publi­kums­schwund: Die Deut­sche Oper am Rhein lockt das Publikum mit der Aktion „Zahl, so viel Du willst“, am Theater Bremen gibt es sogar den „No pay November“ – alle Vorstel­lungen sind für Azubis umsonst! In einer unre­prä­sen­ta­tiven Umfrage auf meinem Insta-Kanal votierten 78 Prozent für „geniales Marke­ting“, 22 Prozent für „Kultur-Dumping“.

Am 6. November wird der Verein art but fair UNITED unter seinem Vorsit­zenden eine weitere Muster­klage zur Provi­si­ons­tei­lung gegen die öster­rei­chi­sche Bundes­thea­ter­hol­ding einrei­chen. Zudem soll über den Verfah­rens­stand der Muster­klage im Chor­be­reich gegen die Salz­burger Fest­spiele infor­miert werden.

Stel­lung­nahme der Baren­boim-Said Akademie

Nach unserer Bericht­erstat­tung letzte Woche erklärte der Kanzler der Baren­boim-Said Akademie, Carsten Siebert, dass Posts zum Nahost­kon­flikt seiner Alumni (unter anderem ein Boykott-Aufruf gegen deut­sche Geschäfte) für ihn keine anti­deut­schen Tendenzen aufweisen. Für Seibert gehören die ihm bekannten Social-Media-Kommen­tare ins „Spek­trum der akade­mi­schen Meinungs­äu­ße­rung“. Einen Wider­spruch zu den Idealen der Akademie, zu Empa­thie und Mitmensch­lich­keit, könne er auch in den explizit pro-paläs­ti­nen­si­schen Posts nicht erkennen (das ganze State­ment am Ende des News­let­ters). Ein Spre­cher von Kultur­staats­mi­nis­terin (die Bundes­re­gie­rung finan­ziert die Akademie mit) erklärte mir gegen­über: „Die Baren­boim-Said Akademie leistet seit vielen Jahren unglaub­lich wert­volle Arbeit bei der Verstän­di­gung zwischen israe­li­schen und arabi­schen Menschen, unter Musi­ke­rInnen aus der Region. (…) Wir haben Vertrauen in die Akademie, dass sie diese Debatten respekt­voll führt. Keinen Zweifel haben wir, dass sich die Baren­boim-Said Akademie gegen Anti­se­mi­tismus und Rassismus posi­tio­niert und dies auch zum Selbst­ver­ständnis aller dort gehört.“ Auf Grund der Komple­xität der Lage habe ich eine ausführ­liche Doku­men­ta­tion der Situa­tion an das Ende dieses News­let­ters gestellt.

Ludwigs­burgs schwie­riges Erbe

Sagen wir es einmal so: Jochen Sandig war kein idealer Inten­dant für die Ludwigs­burger Schloss­fest­spiele, die er gern kosmo­po­li­tisch „Ludwigs­burg Festival“ nannte. Viel­leicht symbo­li­siert dieser Anspruch auch sein großes Miss­ver­ständnis: Das Festival hat einen Groß­teil seines Publi­kums einfach nicht mehr mitge­nommen, Mitar­bei­te­rInnen waren enttäuscht – am Ende schien sich alles mehr um den Selfie-Inten­danten als um die Kunst zu drehen. Irgendwie wirkte alles ein biss­chen oppor­tu­nis­tisch und namens­geil. Und, ja, die dünne finan­zi­elle Ausstat­tung des Festi­vals tat das Ihre. Nun werde alles auf den Prüf­stand gestellt, und der Aufsichts­rats­vor­sit­zende Matthias Knecht erklärte, man plane die Zukunft mit einer Doppel­spitze für künst­le­ri­sche und kauf­män­ni­sche Ange­le­gen­heiten. Derzeit gebe es rund acht Kandi­da­tInnen, Anfang 2024 soll eine Entschei­dung fallen. Sicher ist schon jetzt: Das 2,5 Millionen Budget soll um 500.000 Euro aufge­stockt werden (man weiß aller­dings noch nicht nicht, woher das Geld kommen soll). Gleich­zeitig soll das Fest­spiel­or­chester ab 2025 in seiner jetzigen Form aufge­geben und Personal abge­baut werden. Außerdem wird die Spiel­zeit um zwei Wochen verkürzt. Ich persön­lich glaube, dass Ludwigs­burg endlich wieder zu den Menschen kommen muss – in Bonn zeigt Steven Walter gerade, wie man ein altba­ckenes Festival neu beleben kann, ohne altes Publikum zu vergraulen.

Auf unseren Bühnen

Mozarts Meis­ter­werk Le nozze di Figaro stand gleich mehr­fach auf dem Programm unserer Bühnen. Evgeny Titov insze­nierte die Oper in München als wohl über­drehten Quatsch mit Sauce, sodass für vom Münchner Merkur haupt­säch­lich eine Frage blieb: „Wie dieser voll­au­to­ma­ti­sche Dildo-Thron funk­tio­niert, was es mit einem anstellt, wenn die Beine ausein­an­der­ge­fahren werden und die Lust­dinger nach oben klappen, man hätte es gern gewusst.“ Gefeiert indes die Insze­nie­rung von Philipp M. Krenn am Staats­theater Meiningen. „Perfekte Unter­hal­tung mit Hinter­sinn“, schwärmt Joachim Lange in der Neuen Musik­zei­tung

Perso­na­lien der Woche II

Ales­sandra Ferri wird neue Tanz­chefin an der Wiener Staats­oper und damit Nach­fol­gerin von . +++ Markus Fein wird vorzeitig als Inten­dant der Alten Oper in Frank­furt verlän­gert. „Markus Fein denkt in Koope­ra­tionen und kultu­reller Teil­habe und das passt zu Frank­furt. Es ist ihm ein großes Anliegen, die Alte Oper für unsere plura­lis­ti­sche und viel­stim­mige Stadt­ge­sell­schaft zu öffnen und neue Ziel­gruppen zu erschließen“, sagte die Kultur­de­zer­nentin Ina Hartwig. +++ Kara­jans ehema­liger Pres­se­spre­cher, Peter Csobádi, ist im Alter von 100 Jahren verstorben. Ein span­nendes Leben an der Seite der Diri­genten-Legende – sehr lesens­wert die Würdi­gung in der Internet-Zeitung Dreh­Punkt­Kultur.

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier? Es mag sein, dass wir schrei­benden Klassik-Fuzzis einander das C‑Dur im E‑Mail-Fach nicht gönnen. Aber es gibt eben auch posi­tive Beispiele. Die Kolle­gInnen von Klassik begeis­tert haben nach dem Vorab­druck meines Buches über die Situa­tion des Klassik-Jour­na­lismus so was von losge­le­dert, dass ich lieber geschwiegen habe. Umso mehr hat mich nun die diffe­ren­zierte Ausein­an­der­set­zung mit dem Essay Die Zwei-Klassik-Gesell­schaft durch Leander Bull auf eben dieser Seite gefreut: Er stimmt nicht mit all meinen Analysen überein, kriti­siert, dass ich nur wenige ästhe­ti­sche Antworten liefere, findet aber durchaus Ansatz­punkte für gemein­same Debatten. Genau das ist der offene Diskurs, den ich gemeint habe: konstruk­tive Kritik, gemein­sames Weiter­denken – mit offenem Visier. Ich freue mich auf die nächste Bayreuth-Warte-Schlange, Andreas Schmidt!

Und weil gerade alles so Friede-Freude-Eier­ku­chen ist, soll an dieser Stelle nicht uner­wähnt bleiben, dass auch aus dem Hause VAN ein neues Buch erschienen ist: Arno Lückers Serie über Kompo­nis­tinnen stellt 250 Tonset­ze­rinnen vor: 250 Kompo­nis­tinnen vereint berühmte und verges­sene Frauen, amüsant und ernst­haft, unter­haltsam und zuweilen mit erschre­ckenden Blicken auf Leben und Werk – ein Buch, das nach dem Lesen Lust auf ein Weiter­hören macht! 

Wer jetzt noch nicht genug hat, dem sei die Klassik-Woche zum Nach­hören empfohlen: Doro­thea Gregor und ich bespre­chen in der aktu­ellen Folge von Alles klar, Klassik? die Themen der Woche (alle Formate, apple podcast).

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Baren­boim-Said Akademie: Was war

Selbst in der New York Times war in dieser Woche zu lesen, dass die Baren­boim-Said Akademie in Berlin derzeit vorbild­lich unver­ein­bare Pole in der Musik vereine. Die Zeit druckte den eindrucks­vollen Bericht eines Lehrenden. Aber ist die Situa­tion wirk­lich so unein­ge­schränkt positiv, wie es zu lesen ist? Ich habe letzte Woche an dieser Stelle aus Posts von Alumni zitiert, in denen eindeutig pro-paläs­ti­nen­si­sche Posi­tionen einge­nommen wurden, ohne die Gräu­el­taten an Israelis zu erwähnen (ich hielt und halte es auf Grund der Sensi­bi­lität des Themas für richtig, keine Namen in die Öffent­lich­keit zu stellen). 

Unter anderem postete eine Alumni der Akademie unter dem Titel Aus Soli­da­rität mit Paläs­tina folgenden Aufruf auf Insta­gram: „Jeder soll die nächsten drei Tage die deut­schen Geschäfte meiden und am besten auch nicht tanken (…) Deutsch­land soll sehen, wie es ist, wenn Ausländer zusam­men­halten und wie sehr sie an uns gebunden sind. Die ganzen Geschäfte werden sich wundern, wieso der Umsatz abnimmt und was für Verluste sie machen.“ Ein anderer Post eines Alumni schreibt auf dem Foto eines kämp­fenden Paläs­ti­nen­sers „Seht, wie man das Fleisch von Menschen, aber nicht ihren Geist brechen kann.“ Ein Ex-Alumni und Lehrer der Akademie in Ramallah rela­ti­vierte den Terror der Hamas vom 7. Oktober auf Face­book wie folgt: „Hamas wurde nicht gegründet, um Juden auszu­rotten, und die Attacke vom 7. Oktober hat nichts mit Juden zu tun. Es geht um Siedler mit kolo­nia­lis­tisch weißem und supre­ma­tis­ti­schen Zionismus, um eine Gruppe von Juden – nicht um alle. Hamas bekämpft seine Besetzer, seine Kolo­nia­listen seine Unter­drü­cker, die seit fast 100 Jahren Straf­taten an Paläs­ti­nen­sern begehen, die 100 Mal schlimmer sind als die Taten vom 7. Oktober.“ Und dann lassen sich auf Seiten von Profes­soren der Akademie auch noch Posts finden, in denen Deutsch­land als neue „DDR“ oder als „einen vom Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit geführten Menschenzoo“ beschrieben wird. Wie weit her ist es also mit der Behaup­tung, dass Menschen­würde und Empa­thie in der Baren­boim-Said Akademie an erster Stelle stehen? Ich wurde stutzig, auch, weil aus dem Umfeld jüdi­scher Alumni Berichte an mich heran­ge­tragen wurden, dass die Musi­ke­rInnen aus Israel sich zum Teil nicht mehr wohl an der Akademie fühlten.

Baren­boim-Said Akademie: Stel­lung­nahme des Kanz­lers

Der Kanzler und Geschäfts­führer der Akademie, Carsten Siebert, erklärte mir in einem Tele­fonat nun, dass derar­tige Ängste jüdi­scher Alumni bislang nicht an ihn heran­ge­tra­genen wurden und verwies auf das gemein­same Konzert von jüdi­schen und arabi­schen Alumni mit Daniel Baren­boim. In den Social-Media-Posts erkennt Siebert keine anti­deut­schen Tendenzen, sie bewegen sich für ihn im Spek­trum der akade­mi­schen Meinungs­äu­ße­rung. Und auch einen Wider­spruch zu den Idealen der Akademie, zu Empa­thie und Mitmensch­lich­keit, könne er nirgendwo entde­cken. 

Schrift­lich erklärte Siebert: „Die Frage nach einer ‚Duldung‘ von Social-Media-Beiträgen stellt sich nicht – alle Menschen in diesem Land haben zum Glück das Recht, sich frei zu äußern. Wir sind als Hoch­schule sogar in beson­derer Weise zum Schutz und zur Pflege dieser Rechte verpflichtet. Das gilt auch und beson­ders für Meinungen, die die Hoch­schul­lei­tung mögli­cher­weise nicht teilt – Frei­heit ist tatsäch­lich immer die Frei­heit des Anders­den­kenden.“ 

Baren­boim-Said Akademie: Stel­lung­nahme von Claudia Roth

Die Baren­boim-Said Akademie wird zu einem großen Teil von der Bundes­re­gie­rung mitfi­nan­ziert, die Stipen­dien vom Auswär­tigen Amt gestellt. Mit den aktu­ellen Posts konfron­tiert, erklärte ein Spre­cher von Kultur­staats­mi­nis­terin Claudia Roth: „Die Baren­boim-Said Akademie leistet seit vielen Jahren unglaub­lich wert­volle Arbeit bei der Verstän­di­gung zwischen israe­li­schen und arabi­schen Menschen, unter Musi­ke­rInnen aus der Region. Dies ist in diesen Tagen durch den schreck­li­chen Terror der Hamas und den Militär-Einsatz in Gaza keine leichte Aufgabe. Viele, die in der BSA lernen und lehren sind direkt von den Ereig­nissen betroffen, haben Freunde und Familie in der Region. Wir haben Vertrauen in die Akademie, dass sie diese Debatten unter ihren Schü­le­rInnen, Lehre­rInnen und Mitar­bei­tenden respekt­voll führt. Keinen Zweifel haben wir, dass sich die Baren­boim-Said Akademie gegen Anti­se­mi­tismus und Rassismus posi­tio­niert und dies auch zum Selbst­ver­ständnis aller dort gehört.“

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