KlassikWoche 49/2022

Applaus in München und ein Lied für Wien

von Axel Brüggemann

5. Dezember 2022

Die Überführung der inhaftierten belarusischen Musikerin Maria Kalesnikava vom Gefängnis auf die Intensivstation, die »Lohengrin«-Premiere in München, die Abwicklung der English National Opera.

Will­kommen in der Klas­sik­Woche,

heute mit einem besinn­li­chen Weih­nachts­lied für Wien, einem Blick nach London und einer Exkur­sion zum Münchner Lohen­grin und vor allen Dingen: mit 25 Jahren CRESCENDO!

Wider das Vergessen

Bevor es mit dem News­letter los geht, eine kurze Erin­ne­rung, wie wichtig Zivil­cou­rage auch – und gerade – in der Kunst ist. Die lange in Deutsch­land tätige Musi­kerin gehört zu den wich­tigsten Kriti­ke­rinnen des bela­ru­si­schen Dikta­tors Aljaksandr Lukaschenka. Seit zwei Jahren ist sie inhaf­tiert, auf Twitter kann man ihr Schicksal verfolgen: Nun wurde Kales­ni­kava aus dem Gefängnis ins Kran­ken­haus über­fuhrt, angeb­lich auf die Inten­siv­sta­tion. Die Gründe sind unklar – Aufklä­rung ist gefragt!

Roščić krönt sich zum König von Wien

Von Musik und Stimmen hat er nicht so viel Ahnung, aber eines kann Inten­dant von der Wiener Staats­oper wirk­lich gut: Macht­kämpfe. Seit sein Vertrag bis 2030 (sic!) verlän­gert wurde, scheint er sich eigent­lich niemandem gegen­über verpflichtet zu fühlen. Erst hat Roščić seinem Musik­di­rektor den Vertrag nicht verlän­gert, dann auch noch eine Schmutz­kam­pagne gegen den Schweizer Diri­genten ange­stiftet (wir haben berichtet). Auf Jour­na­listen-Nach­fragen wird in der neuen Staats­opern-Arro­ganz schon lange nicht mehr geant­wortet. So etwas hat ein selbst­er­nannter König offen­sicht­lich nicht nötig! Und jetzt hat Roščić auch noch erklärt, dass er eigent­lich niemanden mehr neben sich brauche: Einen neuen Chef­di­ri­genten will er nicht mehr benennen. Huiuiui, liebes Wien, da habt Ihr Euch aber was einge­brockt! Öster­reichs Kunst- und Kultur­staats­se­kre­tärin scheint derar­tiges Macho-Verhalten ebenso wenig zu stören wie das gestörte Verhältnis ihres Inten­danten zur Presse.

Neben­sache, dass Testo­steron-Bogdan auch keine kriti­schen Kritiker mag und mich gestern bei seiner Meis­ter­singer-Première nicht sehen wollte. Ich hatte also keine Karte, dafür aber Lange­weile und Zeit zum Nach­denken. Nun, was soll ich sagen, Bogdan, es ist Advents­zeit! Es ist die Zeit der Besinn­lich­keit, und deshalb habe ich gerade keine Lust auf Zoff. Ich habe Dir einfach ein liebe­volles Weih­nachts­lied aufge­nommen (einfach oben aufs Bild klicken!), in dem all Deine Freunde vorkommen! Und um all die anderen Fragen von Trans­pa­renz, Demo­kratie und Macht­miss­brauch, um Willkür und Verständnis von Öffent­lich­keit kümmern wir (und sicher­lich auch einige Kolle­gInnen) uns dann nach Weih­nachten an anderer Stelle. Für jetzt erst mal: Happy Christmas, mein kleines, wütendes Roščić-Reindeer! 

Münchens Meteo­riten-Lohen­grin

Über den Wagner-Abend in Wien kann ich aus den oben genannten Gründen nichts sagen, aber der Lohen­grin an der Baye­ri­schen Staats­oper sorgte offen­sicht­lich für unter­schied­liche Einschät­zungen. Diri­gent hatte dem Merkur im Vorfeld erzählt: „Ich liebe Deutsch.“ BR-Kritiker Peter Jung­blut konnte der Diri­gent aller­dings nicht über­zeugen: „Musi­ka­lisch fehlte eben­falls die Emotion und der Wille zur Inter­pre­ta­tion, was Diri­gent Fran­çois-Xavier Roth ein paar Buhrufe einbrachte, während er ansonsten gefeiert wurde.“

Die DPA berichtet: „Regis­seur Kornél Mundruczó verzich­tete auf eine über­ra­schende Inter­pre­ta­tion der roman­ti­schen Schwa­nen­ritter-Oper und erzählte die Geschichte über die Hoff­nung auf den Erlöser von Brabant mit viel Pathos und in weit­ge­hend weiß gehal­tenem Bühnen­bild.“ Mundruczós Lohen­grin spielt nach einem Meteo­ri­ten­ein­schlag. Hier noch eine ziem­lich begeis­terte Live-Video-Kritik vom Kollegen gleich nach der Première. Ach ja, und vom aufge­wärmten Romeo-Castel­lucci-Tann­häuser, der bei den ersten Salz­burger Oster­fest­spielen von eine Art „zweite Première“ mit dem Rollen­debüt von haben soll, gibt es nun auch erste Blicke hinter die Kulissen

Abwick­lung der English National Opera

So sieht desas­tröse Kultur­po­litik aus: 17 Millionen Pfund für drei Jahre Abwick­lungs­ar­beit wurden der English National Opera zuge­sagt. Eine Idee: Das Tradi­ti­ons­haus soll von London nach Manchester ziehen. Aber dieser Plan ist nicht so leicht umzu­setzen. Keiner der Verant­wort­li­chen hat eine Idee, wie dieser Umzug statt­finden kann. Der Artikel im Guar­dian gibt einen guten Über­blick über das aktu­elle Chaos und zeigt, wie radikal kultur­po­li­ti­sche Kahl­schläge sein können. Eine Rück­nahme des Abwick­lungs-Planes ist in der briti­schen Regie­rung offen­sicht­lich keine Option. 

Spielen Theater am Publikum vorbei?

Regis­seur und Puppen­spieler Niko­laus Habjan hat mit einem Inter­view in der Zeitung Die Presse für Aufsehen gesorgt. Er glaubt, viele Häuser spielen am Publikum vorbei, es fehle an Hand­werk und Vertrauen in die Stücke. Ich bin mir nicht sicher, ob das popu­lis­ti­scher Quatsch ist, oder eine ernst­hafte Debatte.

Habjan sagt unter anderem: „Zum einen geht das Hand­werk immer mehr verloren. In keiner Branche kann man so blenden wie am Theater. Je lauter, je extremer, umso mehr wird gefeiert. Ein Beispiel: Wenn sich jemand auf der Bühne ein Frank­furter (Wiener Würst­chen, Anm. d. Red.) in den Hintern steckt, ist das nicht Kunst. Aber man kann damit sehr berühmt werden. Dieses Blut‑, Kacke‑, Sper­ma­theater mag ich über­haupt nicht, denn das zeigt, dass den Stücken nicht mehr vertraut wird.“

Perso­na­lien der Woche

Vor einigen Wochen ist Diri­gent der russi­schen Kulturfront beigetreten und hat in Wladimir Putins Sinne für den Kampf um die russi­sche Kultur geworben. Nun wurde er bei der dies­jäh­rigen Verlei­hung des Russi­schen Krea­tiv­preises in Moskau als „Person des Jahres“ ausge­zeichnet. Ange­kommen! +++ Wegen „unzu­läs­siger Beschäf­ti­gungs­praxis“ haben Künstler wie nun – wie ange­kün­digt – eine Muster­klage gegen den Salz­burger Fest­spiel­fonds einge­bracht. Der Vorwurf: Knebel­ver­träge, die u.a. keine Sozi­al­ver­si­che­rung bei Vorproben vorsahen.

Stefan Herheim wurde bei den Inter­na­tional Opera Awards in Madrid als Sieger in der Kate­gorie „Regis­seur“ ausge­zeichnet. Die Preise werden seit 2012 jähr­lich vom Londoner Fach­ma­gazin Opera verliehen. Bei den Sänge­rInnen trium­phierten die fran­zö­si­sche Sopra­nistin und ihr Lands­mann Stéphane Degout. +++ Der Geiger wird Chef­di­ri­gent in Norwegen. Der 47-Jährige über­nimmt zu Beginn der Saison 2023 / 2024 das Chef­pult des Kris­ti­an­sand Sympho­nie­or­ches­ters. +++ Die Sängerin Gabriele Lechner ist in der Nacht auf den 28. November nach langer schwerer Krank­heit verstorben.

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht hier. CRESCENDO WIRD 25 JAHRE, und meine Kolle­ginnen und Kollegen haben eine opulente Ausgabe heraus­ge­bracht: Philo­so­phi­sche Einord­nungen von Peter Sloter­dijk, kultur­po­li­ti­sche Visionen von Claudia Roth, ein Blick auf die Klassik und die Politik von Oksana Lyniv, ein Klassik-Plädoyer von Cate Blan­chett, Heraus­geber schreibt – passend zum heutigen News­letter – über die Bedeu­tung des kriti­schen Jour­na­lismus und darüber, warum er in Gefahr sein könnte. Vor allen Dingen ist die Jahres­edi­tion aber eine Feier des gedruckten Maga­zins. Wo man es lesen kann? Gemüt­lich zu Hause, wenn Sie hier bestellen.

Ach ja, und positiv ist auch, dass man sich auf eines seit drei Jahren verlassen kann: Jonas Kauf­mann bringt ein neues Weih­nachts­album heraus – und wird so etwas wie der WHAM der Klassik. Und damit kursieren auf Twitter auch jedes Jahr die glei­chen Witze (siehe oben). Ansonsten: Es wird scho glei dumpa

Halten Sie die Ohren steif!

Ihr 

Axel Brüg­ge­mann

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Wilfried Hösl