Laurence Dreyfus

Wagner, der Schwulen-Versteher

von Roland H. Dippel

7. Oktober 2022

Der Musikwissenschaftler Laurence Dreyfus lässt sich für sein Romandebüt von Richard Wagners Auftrag an Hermann Levi, die Uraufführung seines »Parsifal« zu dirigieren, inspirieren.

Anna Ettlinger recher­chierte in Parten­kir­chen und verliert im Duell um die Autor­schaft für die Biografie des Diri­genten Hermann Levi (1838–1900) gegen dessen Witwe Mary und keine Gerin­gere als Cosima Wagner. Aber Levis lang­jäh­rige Freundin und Vertraute ist keine badi­sche Miss Marple, sondern eine Wagne­ria­nerin mit frei­zü­giger Erotik und eman­zi­pa­to­ri­schem Geist. Der ameri­ka­ni­sche Gambist und Musik­wis­sen­schaftler Laurence Dreyfus (Wagner and the Erotic Impulse, 2012) macht aus den Konstel­la­tionen von Verhül­lungen, Verschweigen und Verdrängen in zahl­rei­chen Rück­blenden den langen Prozess einer mensch­li­chen Selbst­fin­dung.

Eroti­sche Sehn­sucht und der kompli­zierte Umgang mit dieser sind in Dreyfus’ Roman die wahren Gründe für die Bekeh­rung des Brahms-Anhän­gers Hermann Levi zum Wagner-Apostel. Von Wagner erhält der Jude Levi den Ruf zum Dirigat der Urauf­füh­rung von Parsifal bei den Bayreu­ther Fest­spielen 1882. Erst in der Entou­rage des mora­lisch unkom­pli­zierten Zukunfts­mu­si­kers gesteht sich Levi seine homo­se­xu­ellen Neigungen ein. Der in Wagners Bühnen­weih­fest­spiel die Schön­heit Parsi­fals bewun­dernde Selbst­ver­stümmler Klingsor, Brahms’ Schick­sals­lied und Feld­ein­sam­keit erhalten in Dreyfus’ belle­tris­ti­scher Speku­la­tion für Hermann Levi exis­ten­zi­elle Bedeu­tung.

Eigent­lich eine tolle Geschichte. Aber klischee­hafte Zuschrei­bungen über Kompo­si­tionen, Ästhetik und eroti­sche Fanta­sien durch­wirken diese homo­phile Phan­tasie. So bleibt unkom­men­tiert, ob und warum Fran­zosen gene­rell nichts von Goethe verstehen. Beken­nende Homo­se­xu­elle wie der Parsifal-Bühnen­bildner Paul von Joukowsky legen bei Dreyfus eine aufdring­liche, fast ordi­näre Neugier an den Tag und Wagner ist ein prunk­süch­tiger Egomane mit messia­ni­schen Anwand­lungen. Dreyfus bremst seine span­nende Hand­lung in betu­li­cher Detail­ver­ses­sen­heit ab. Worte über psychi­sche und sexu­elle Selbst­be­frei­ungen bewegen sich stilis­tisch zwischen Eugenie Marlitt und Magnus Hirsch­feld. Ohne Ironie und ohne Mumm zum großen Melo­dram ist Parsi­fals Verfüh­rung für die Lektüre in der Gene­ra­tion Queer zum Beispiel im Vergleich mit Hanns Fuchs’ blumig-ironi­scher Schrift Richard Wagner und die Homo­se­xua­lität (1903) eine Enttäu­schung, weil Dreyfus in der Figu­ren­zeich­nung alle bestehenden Vorur­teile repe­tiert und es deshalb keinerlei Über­ra­schungen gibt.

Fotos: Laurence Dreyfus