Sergei Loznitsa
Die Frage nach der Würde des Volkes
von Ruth Renée Reif
8. April 2022
Der Film Maïdan von Sergei Loznitsa über die Proteste in Kiew 2013/2014 ist aus tragisch aktuellem Anlass in ausgewählten Städten wieder zu sehen und erscheint am 15. April 2022 auf DVD.
„Ich sehe die Ereignisse rund um den Maidan wie eine griechische Tragödie“, erläutert Sergei Loznitsa seinen Film Maïdan. „Am Anfang steht eine Gruppe von Menschen, der Chor… Er nimmt gewissermaßen die objektive Position der Masse ein. Der Chor in Maïdan stellt die Frage nach der Würde des Volkes. Und er weigert sich, die Bühne zu verlassen, bis diese Frage geklärt ist – zwar nicht mit den Göttern, aber den herrschenden Autoritäten.“
Loznitsa befand sich mit seinem Kameramann Serhiy Stetsenko im Winter 2013/2014 auf dem Maidan in Kiew und filmte die Proteste. Nach der Orange Revolution im Herbst 2004, die ebenfalls auf dem Maidan stattgefunden hatte, herrschte Zuversicht. Die Präsidentschaftswahlen bescherten Wiktor Juschtschenko die Mehrheit gegenüber Putins-Protegé Wiktor Janukowytsch. 2010 aber erhielt Janukowytsch doch wieder die Mehrheit und lehrte in sein Amt zurück. Drei Jahre darauf wandelte sich die Stimmung abermals, und im Winter 2013/2014 kam es erneut zu Massenprotesten auf dem Maidan.
Eine halbe Million Menschen aus allen Bevölkerungsschichten demonstrierte und besetzte das Kiewer Rathaus. Sie trieb Janukowytsch aus dem Amt, der untertauchte und nach Russland floh. In der Folge verschärfte sich die Lage und mündete in eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der Polizei und zunehmend radikalisierten Demonstranten, die über 100 Todesopfer forderten. Noch im selben Jahr brach der Krieg über den Osten der Ukraine herein, und Russland annektierte völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer.
Loznitsas Film Maïdan besteht aus weitgehend unkommentierten Totalaufnahmen. „Wir leben in einer Welt, in der es immer diese Art von Diffusion von Verantwortung gibt“, erklärt Loznitsa. „Wo man Teil einer Kette ist, bei der man nicht unbedingt weiß, was am Ende steht. Also muss man auf eine höhere Ebene springen, um überblicken zu können, was passiert.“
Seit Mitte der 1990er-Jahre dreht Loznitsa, der 1964 im belarusischen Baranawitschy geboren wurde und in Kiew aufwuchs, Dokumentarfilme über die sowjetische Geschichte. 2010 entstand sein erster Spielfilm Mein Glück, gefolgt 2012 von Im Nebel, Ponts de Sarajevo 2014, Die Sanfte 2017 und Donbass 2018.
2021 zeigte er bei den Filmfestspielen in Cannes den Dokumentarfilm Babyn Jar. Kontext über das Massaker von Babi Jar, bei dem 1941 in Kiew 33.000 Juden von Sondereinheiten der SS ermordet wurde. „Ich glaube, in dieser Region geschieht gerade wieder etwas Gefährliches“, sagt Loznitsa. „Wir müssen verstehen lernen, wie es im 20. Jahrhundert zu den unvorstellbaren Grausamkeiten auf diesem Boden kommen konnte. Wie Schritt für Schritt der Weg in die Barbarei gegangen wurde, von der es irgendwann kein Zurück mehr gab.“ Babyn Jar. Kontext wird erneut im Rahmen des Festivals des mittel- und osteuropäischen Films goEast gezeigt.
Der Film Maïdan von Sergei Loznitsa ist in folgenden Städten zu sehen:
Singen, Weitwinkel, 10. April 2022. Weitere Informationen unter: www.diegems.de
Rottweil, Central, 14. April 2022. Weitere Informationen unter: central-kino-rottweil.de
Bayreuth, Kino ist Programm, 7. Mai 2022. Weitere Informationen unter: www.kino-ist-programm.de
Hannover, Koki, 11. bis 13. Mai 2022. Weitere Informationen unter: www.hannover.de
Cottbus, Staatstheater, 24. Mai 2022. Weitere Informationen unter: www.staatstheater-cottbus.de
Weitere Informationen zu goEast, dem Festival des mittel- und osteuropäischen Films, das vom 19. bis 25. April 2022 in Wiesbaden stattfindet, unter: www.filmfestival-goeast.de