Marina Abramović
Einundzwanzig Gramm leichter oder das perfekte Ende
von Rüdiger Sturm
7. September 2020
Marina Abramović hat ihren Körper zum Werkzeug ihrer Kunst erkoren. Am 10. September 2020 kommt der Dokumentarfilm „Body of Truth“ der Regisseurin Evelyn Schals in die Kinos.
CRESCENDO: Marina Abramović, am 1. September feierte in München Ihre Opern-Performance 7 Deaths of Maria Callas Première. Woher Ihre Obsession, die Sie den Tod immer wieder in den Fokus rücken lässt?
Marina Abramović: Es sind die Opern, die ihre Heldinnen sterben lassen – ob Traviata, Tosca, Madame Butterfly oder Carmen. Ich füge dann noch einen Tod hinzu, wenn Callas aus gebrochenem Herzen über die Trennung von Onassis stirbt. Und dieser Tod aus Liebeskummer ist das, was mich interessiert. Denn ich war auch so sehr verliebt wie die Callas, und so verstand ich genau, was sie durchmachte. Ich wäre auch beinahe gestorben.
Marina Abramović hat ihren Körper zum Werkzeug ihrer Kunst erkoren. Die Inspiration und die Themen ihrer Performances schöpft sie aus ihrer Lebensgeschichte. Am 10. September 2020 kommt der Dokumentarfilm Body of Truth der Regisseurin Evelyn Schals in die Kinos. Abramović erzählt darin neben drei anderen Künstlerinnen von ihrem Leben und ihrer Arbeit. An der Bayerischen Staatsoper konnte man sie in ihrem Performance-Projekt 7 Deaths of Maria Callas sehen, mit dem sie sich anschließend auf Tournee nach Paris, Berlin und Athen begibt. Eines der Hauptprojekte von Marina Abramović hat indes mit dem herkömmlichen Diesseits nicht mehr viel zu tun: die Vorbereitung auf Tod und Unsterblichkeit.
Liebe ist auch mit Sex verbunden – in dem Dokumentationsfilm Body of Truth meinen Sie, dass das die stärkste Energie überhaupt sei.
Richtig, weil Sie diese Energie in jede Richtung kanalisieren können – Liebe und Hass, Schöpfung und Zerstörung. Mit dieser Energie lassen sich Zustände ekstatischer Erleuchtung und Einheit erleben. Dafür braucht es freilich den richtigen Partner. Nicht jeder hat dieses Glück, aber ich durfte das einige Male erfahren.
Trennungen von diesen Partnern haben Sie dann im Gegensatz zur Callas zum Glück überlebt. Warum blieb Ihnen das erspart? Während Callas ihre Kunst aufgegeben hatte, um sich ihrer Liebe zu widmen, hatte ich meine Kunst, die mich gerettet hat. Diese Idee begleitet mich seit über 20 Jahren. Erst wollte ich einen Film daraus machen, doch dann entstand das Konzept einer Oper, mit der ich gleichzeitig die Opernform dekonstruierte und etwas Neues schuf. Das Ganze wird um die Welt gehen – nach Paris, Berlin, Athen, und wir verhandeln noch mit weiteren Opernhäusern. Ich hoffe nur, dass ich nicht mit faulen Tomaten bombardiert werde. Zumindest dauert mein Projekt nicht lange, nur eineinhalb Stunden. Der Tod in der Oper nimmt nie viel Zeit in Anspruch.
Doch wie jede Ihrer Performances wird dieses Projekt nach den Aufführungen der Vergangenheit angehören – anders als beispielsweise die Dokumentation Body of Truth, die Ihr Schaffen und das anderer Künstlerinnen zeigt. Würde es Sie nicht reizen, Kunst zu kreieren, die bestehen bleibt?
Das ist eine Frage der Technik, und zu der habe ich eine Liebe-Hass-Beziehung. Ich hasse sie, weil sie mir meine Zeit wegnimmt. Doch gibt es die Möglichkeiten der „Erweiterten Realität“, und das interessiert mich sehr. So habe ich ein neues Projekt mit dem Titel Alive kreiert. Ich wurde aus 36 Kameras gefilmt, durch die man mich komplett aus der 360-Grad-Perspektive sieht. Das ist fast schon wie ein Hologramm. Ich kann so in Ihrem Wohnzimmer oder Ihrer Küche erscheinen, und das Publikum nimmt mich ganz anders wahr. Das hat auch etwas Einschüchterndes an sich.
Das heißt, aus der Performance-Künstlerin wird ab sofort ein virtuelles Wesen?
So lange ich lebe, werde ich auftreten. Diese Technik hingegen ist für die Zukunft bestimmt, wenn ich nicht mehr existiere. Auf diese Weise bin ich näher dran an der Unsterblichkeit als je zuvor. Christie’s will die erste Edition im Oktober anbieten. Offenbar gibt es unter den jungen Sammlern, die sich für die Avantgarde interessieren, großes Interesse.
Während Sie für Ihre Unsterblichkeit vorsorgen, werden Sie wie wir alle durch die Covid-Krise mit Ihrer Sterblichkeit konfrontiert. Wie haben Sie diese erlebt?
Ich habe die letzten Monate damit verbracht, Tomaten und Gurken anzupflanzen und zu lesen – Mishima Yukios Tetralogie Das Meer der Fruchtbarkeit zum Beispiel. Ich liebe Mishima. Für mich war das eine gute Zeit. Das Einzige, was ich vermisse, ist der Humor. Heutzutage muss alles so politisch korrekt sein. Die Menschen sind nicht frei, und das ist schädlich für die Kreativität.
Was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse dieser Zeit?
Zum Beispiel, dass die Menschen nicht für sich sein können. Sie wollen ständig kommunizieren und ihre Zeit mit anderen verbringen, anstatt allein ein gutes Buch zu lesen. Und sie fürchten sich vor der Ungewissheit – weil sie alles planen wollen. Momentan wissen wir ja nicht mal, was im nächsten Monat geschieht. All das sind Anzeichen dafür, dass wir uns in einem Prozess der Transformation befinden. Etwas muss sich verändern, denn wir können so nicht weiterleben. Der Planet kann nicht so viele Menschen auf einmal tragen. Es gibt von allem zu viel. Irgendetwas ist in Bewegung geraten – fragen Sie mich nicht genau was. Wir leben jedenfalls in einer Zeit des Wandels.
Marina Abramović: »Wir leben im Hier und Jetzt, und nur darauf sollten wir uns konzentrieren. Das ist unsere größte Aufgabe.«
Zeiten des Wandels können auch sehr zerstörerisch sein. Sie vergleichen den Lockdown mit einem Kriegszustand. Hätten Sie sich selbst einer wirklichen Kriegssituation aussetzen wollen – so wie Ihre Eltern, die als Partisanen im Zweiten Weltkrieg kämpften?
Ich lebte zur Zeit des Jugoslawien-Krieges in Amsterdam, und ich schämte mich furchtbar für diesen Konflikt. So fragte ich einen meiner tibetischen Lehrer: „Soll ich dorthin fahren? Soll ich herausfinden, was da wirklich vor sich geht?“ Doch er meinte: „Die Tatsache, dass du jetzt nicht dort bist, zeigt, dass das nicht dein Karma ist. Das ist nicht deine Aufgabe. Deine Aufgabe ist, das zu tun, was du am besten kannst – nämlich Kunst.“ So entstand meine Performance Balkan Baroque. Wir sollten nicht immer überlegen ‚Was wäre wenn…?« Wir leben im Hier und Jetzt, und nur darauf sollten wir uns konzentrieren. Das ist unsere größte Aufgabe. Das ist es auch, was die Menschen aktuell lernen müssen: im Moment zu leben. Denn wenn sie über die Vergangenheit nachgrübeln, die eben schon geschehen ist, und die Zukunft, die noch nicht passiert ist, dann verpassen sie die Gegenwart. Im nächsten Moment kann die Decke herunterfallen, und wir sterben alle. Aber ich konfrontiere mich erst damit, wenn das wirklich geschieht.
Ein Ereignis der Zukunft haben Sie indes schon vorgeplant – Ihr Begräbnis.
Das ist richtig. Ich habe mit drei Rechtsanwälten Verträge abgeschlossen. Es werden drei Körper begraben – jeweils an den verschiedenen Orten, die in meinem Leben die wichtigsten Rollen spielten: Belgrad, New York, Amsterdam. Und keiner weiß, welche Leiche die meine ist. Ich sehe das Ganze als große Feier mit Musik. Keiner darf weinen, keiner darf Schwarz tragen, alle sollen politisch unkorrekte Witze erzählen. Für mich ist der Tod einfach nur ein Übergang in eine nächste Phase.
Und welcher Teil von Ihnen vollzieht diesen Übergang?
Ich glaube nicht wirklich an Reinkarnation. Aber ich glaube daran, dass wir alle aus Licht und Energie bestehen. Es gibt ja die Theorie, dass der Körper des Menschen nach dem Tod 21 Gramm leichter ist. Das sind die 21 Gramm unserer Energie, unserer Seele. Und nach dem Tod kann sich diese Energie wieder mit dem Universum verbinden, aus dem wir alle kommen.
Sie sagten „kann“. Das ist also nicht sicher?
In der Tat. Man muss es schon zeitlebens schaffen, sich auf diese Energie zu konzentrieren. Wenn man sich nicht damit beschäftigt, dann verflüchtigt sie sich irgendwohin. Man stirbt, und das war’s. Ich aber setze mich jeden Tag damit auseinander, ich möchte bereit für diesen Übergang sein. Tibetische Mönche üben vier Jahre lang den Prozess, die Energie beim Sterben umzuwandeln. Ich zitiere gerne den Spruch der Sufis: „Das Leben ist ein Traum, und der Tod ist das Erwachen.“ Denn dieses Erwachen bedeutet, dass man eben ins Universum zurückkehrt. Dieser Kreislauf hört nie auf. Das ist das perfekte Ende.
Das Opernprojekt 7 Deaths of Maria Callas von Marina Abramović mit Kompositionen von Marko Nikodijević an der Bayerischen Staatsoper: Bis 7. Oktober 2020, 11:59 Uhr als Video-on-Demand auf STAATSOPER.TV
Und auf ARTE Concert
Mehr über das Opernprojekt auf CRESCENDO.DE
Der Dokumentarfilm Body of Truth von Evelyn Schels kommt am 10. September 2020 ins Kino.
Kinos und Termine unter: www.kino.de
Mehr zu Body of Truth unter: www.indifilm.de
und unter www.bodyoftruth-derfilm.de