Martin Stadtfeld

»Wir müssen das Staunen wieder lernen«

von Katherina Knees

12. Dezember 2021

Martin Stadtfeld hat sich seinen Entdeckersinn bewahrt. Daraus schöpft er Energie, Lust am Spiel und Inspiration. Auf seinem Album „Piano Songbook“ ergänzt er Bearbeitungen mit eigenen Kompositionen.

CRESCENDO: Wenn man sich Ihr Album „Piano Song­book“ anhört, kann man darauf eine unbän­dige Spiel­freude spüren. Haben Sie das während der Aufnahmen selbst wahr­ge­nommen?

: Das finde ich schön, dass Sie das sagen. Es waren für mich tatsäch­lich sehr persön­liche Aufnahmen, die rund­herum Spaß gemacht haben, und es freut mich sehr, dass man das offen­sicht­lich auch hören kann. Bei der Entste­hung von „Piano Song­book“ bin ich über die Wieder­ent­de­ckung der Einfach­heit und der Freude, die Musik in mir auslöst, fast wieder Kind geworden. Jedes Stück war außerdem sowohl für den Tonmeister als auch für mich eine gemein­same musi­ka­li­sche Entde­ckungs­reise, denn keines der Stücke kennt man bisher so.

Martin Stadt­feld spielt Night Song nach Franz Schu­berts Nacht­stück op. 36 von seinem Album „Piano Song­book“

Manche Stücke haben Sie nicht nur verän­dert, sondern komplett selbst geschrieben. Inwie­fern fühlt es sich für Sie anders an, wenn Sie eigene Kompo­si­tionen spielen?

Als ich das zum ersten Mal gemacht habe, hatte ich furcht­bare Angst, die Leute würden schimp­fend aus dem Saal gehen und die Tür knallen. Nach wie vor löst es ja auch tatsäch­lich Ambi­va­lenz aus. Ein Teil des Publi­kums findet es total schön und hat viel­leicht das Gefühl, mich darüber noch viel tiefer kennen­zu­lernen. Aber manche mögen das tatsäch­lich nicht. Und für mich selbst fühlt es sich auch viel heikler an, denn ich zeige natür­lich viel mehr von mir selbst mit eigenen Werken. Wenn ich Schu­mann oder Beet­hoven spiele, ist immer noch etwas dazwi­schen. Wenn jemand sagt: „Mir hat es nicht gefallen, wie er den Beet­hoven gespielt hat“, ist das etwas anderes als wenn jemand sagt: „Mir hat das Stück nicht gefallen, das er kompo­niert hat.“ Das geht mir noch mal anders nahe.

Martin Stadtfeld über die Anfänge seines Komponierens
(Foto: © Ingrid Hert­felder)

»Es war unglaub­lich befreiend, mir diesen Umgang mit den Stücken selbst zu erlauben. Und dann wurde es ein großes und lust­volles Spielen.«

Wie ist denn dann die Idee für das Album „Piano Song­book“ entstanden, auf dem Sie Ihre Kompo­si­tionen mit eigenen, sehr freien Bear­bei­tungen mischen?

Auslöser waren schon die zehn eigenen kleinen Stücke, die ich kompo­niert hatte. Mein Grund­ge­danke war etwas Roman­ti­sches, aber auch irgendwie in sich Gekehrtes und Schlichtes und „Eichendorff’sches“ möchte ich es fast nennen. Das ist eine Poesie, die mich sehr berührt. Und dann erklangen immer mehr Frag­mente in mir, aus denen sich alles Weitere entwi­ckelt hat. Ich wollte mit meinen Bear­bei­tungen der anderen Kompo­si­tionen mal zeigen, dass im Großen auch Kleines enthalten ist. Mit diesem Gedanken ist für mich der Knoten geplatzt. Und mir wurde klar: Man darf das machen. Man kann frei damit umgehen, und man darf sich auch einfach mal etwas heraus­nehmen aus so einem großen Stück, was einem beson­ders gut gefällt und dann damit spielen und etwas Neues daraus bauen. Da steckt für mich auch wieder diese kind­liche Neugier und Unbe­fan­gen­heit drin. Es war unglaub­lich befreiend, mir diesen Umgang mit den Stücken selbst zu erlauben. Und dann wurde es ein großes und lust­volles Spielen.

Martin Stadtfeld über seine Motivation, Musik zu machen

»Ich mache Musik, weil sie mich schon als Kind zutiefst und intuitiv mensch­lich berührt hat – und das möchte ich auch heute noch weiter­tragen «

Hat man Ihrer Meinung nach manchmal zu viele Berüh­rungs­ängste den großen Werken der Musik­ge­schichte gegen­über?

Ja, auf jeden Fall. Das steht viel zu sehr im Vorder­grund. Die Musik ist dem Zeit­geist unter­worfen, und der heutige Ansatz ist für mich viel zu unter­kühlt. Es gibt von jedem Stück so viele Ausgaben, und man grübelt immer nur „Wie könnte der Kompo­nist das gemeint haben?“. Und irgend­wann sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Jeder bereitet sich akri­bisch mit den Metro­nom­zahlen vor und verliert dabei fast die Musik aus den Augen vor lauter Exegese – wie ein Schrift­ge­lehrter. Aber dann ist man kein Musiker mehr, eher ein Musik­wis­sen­schaftler, der eine Abhand­lung darüber schreiben könnte. Ich glaube aller­dings, dass auch ein Musik­wis­sen­schaftler die Musik eigent­lich fühlen muss, um sie wirk­lich zu verstehen. Und ich finde, wir müssen wieder dorthin zurück­finden, dass wir uns in erster Linie wieder von der Musik berühren lassen und dass wir auch wir selbst sein dürfen als Inter­preten. Ich komme immer wieder an den Punkt, an dem ich mich frage: Wofür mache ich das eigent­lich? Ich mache es, weil es mich schon als Kind zutiefst und intuitiv mensch­lich berührt hat – und das möchte ich auch heute noch weiter­tragen.

Martin Stadtfeld über den wunderbaren Garten der Musik

»Ich moti­viere dazu, diesen wunder­schönen Garten, den die Musik uns mit all ihren Wundern und Geheim­nissen bietet, neu zu entde­cken.«

Neben aller kind­li­chen Begeis­te­rung sind Sie ja trotzdem ein sehr erfah­rener und erfolg­rei­cher Pianist. Glauben Sie, dass Sie vor allem das Span­nungs­feld aus Erfah­rung und unver­dor­bener Spiel­freude zu einem guten Musiker macht?

Ich muss mir immer wieder in Erin­ne­rung rufen, dass ich erfahren bin und dass ich diese Erfah­rungen ja auch beispiels­weise weiter­gebe, wenn ich unter­richte. Ich nehme das selbst eigent­lich gar nicht wahr. Eigent­lich möchte ich immer noch und immer wieder meine Beglü­ckung darüber teilen, dass ich das machen darf. Wenn ich unter­richte, dann habe ich oft den Eindruck, dass die jungen Leute viel gewis­sen­hafter rangehen als ich selbst und dass ich sie immer dazu moti­viere, diesen wunder­schönen Garten, den die Musik uns mit all ihren Wundern und Geheim­nissen bietet, neu zu entde­cken. Dass wir uns mehr trauen sollten, einfach zu staunen, ohne immer gleich alles genau wissen zu wollen.

Martin Stadtfeld über die schönsten Momente des Spiels

»Die schönsten Momente in der Musik entstehen, wenn man aufhört, alles kontrol­lieren zu wollen, und einfach nur spielt.«

Gerade unter­richten Sie hier in der Villa Musica im Schloss Engers. Was sind für Sie wich­tige Erkennt­nisse, die Sie Ihren Schü­lern mitgeben?

Es ist für mich zum Beispiel wichtig, beim Spielen ein Stück nicht aktiv zu beginnen. Ich habe eher das Gefühl, das Stück fährt vorbei und ist in Bewe­gung, wie ein Riesenrad – und ich steige einfach nur ein. Es dreht sich aber trotzdem weiter. Und irgend­wann steige ich wieder aus. Ich könnte natür­lich auch den ganzen Tag darin sitzen bleiben. Gerade bei Bachs Musik empfinde ich das so. Sie hat natür­lich einen Anfang und ein Ende, aber das müsste sie gar nicht haben. Sie ist einfach schon da. Und das ist etwas total Schönes und irgendwie auch Philo­so­phi­sches. Das Gefühl: Steig einfach ein, lass einfach los. Man sollte die Musik viel mehr erfahren, als sie aktiv zu machen. Die schönsten Momente in der Musik entstehen, wenn man aufhört, alles kontrol­lieren zu wollen, und einfach nur spielt. Dieses Gefühl ist unbe­zahlbar.

Endlich finden wieder Konzerte statt. Geht es Ihnen eigent­lich auch so, dass die einfach aus dem Moment heraus entste­hende regungs­lose Stille des Publi­kums unmit­telbar nach dem letzten Ton in einem Konzert viel wert­voller ist als tosender Applaus?

Ja, das empfinde ich absolut so. Eine Stille, die sich ihrer selbst bewusst ist, ist schon wieder falsch – man kann diese Atmo­sphäre nicht erzwingen. Wenn die Stim­mung entsteht, dass alle Menschen im Saal kollektiv inne­halten, jeder für sich und kollektiv zugleich, dann hat man wirk­lich das Gefühl, dass das in dem Moment die Musik erreicht hat. Dann hat die Musik etwas mit den Menschen gemacht. Das ist magisch, da bleibt die Zeit stehen. Die Musik kann uns dahin­bringen, dass wir den Moment inten­siver erleben, dass wir ganz bei uns sind und gleich­zeitig ist die Seele auch offen. Dann bin ich auch nur noch ein Teil des Ganzen und nur noch minimal derje­nige, der es gestaltet. Der Pianist Edwin Fischer hat mal den wunder­baren Satz geprägt: „Nicht ich spiele es, es spielt.“

Martin Stadtfeld darüber, dass ein Konzert sich nicht festhalten lässt

»Viel­leicht ist es ein Glück, dass die Musik in einem Konzert mit die letzte Sache bleibt, die uns lehrt, dass wir nicht alles fest­halten können.«

Wenn man im Konzert sitzt, dann lebt das Geschehen von dem Gefühl, dass das, was dort passiert, nur für den Moment ist und dass man es nicht fest­halten kann. Ist das für Sie eine wert­volle Erfah­rung?

Viel­leicht ist es fast ein Glück, dass die Musik in einem Konzert mit die letzte Sache bleibt, die uns lehrt, dass wir nicht alles fest­halten können. Selbst wenn man das Konzert aus Reihe 23 mit dem Handy filmt, würde es nicht wirk­lich das trans­por­tieren, was sich im Saal gerade musi­ka­lisch erleben lässt. Ich glaube, es geht auch gar nicht darum, Dinge aufzu­nehmen, damit man sie hinterher jemandem zeigen kann. Das Internet ist sowieso über­schwemmt davon, was die Leute alles zeigen wollen. Da gibt es inzwi­schen aber bereits ein großes Gähnen und einen Über­druss, denn in dem Moment, wo etwas alle machen, hat es auch schon keinen Wert mehr und ist völlig sinnlos. Ich glaube, dieses Mitfilmen ist mehr ein Ausdruck davon, dass man etwas braucht, das man zwischen sich und das Geschehen schaltet, weil man es gar nicht zulassen möchte, tatsäch­lich emotional in Kontakt mit dem Moment zu sein. Uns darauf zurück­zu­be­sinnen, wäre in vielen Situa­tionen eine gute Sache.

Martin Stadt­feld: „Piano Song­book“ (Sony)

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Weitere Infor­ma­tionen zu dem Album „Piano Song­book“ von Martin Stadt­feld unter: CRESCENDO​.DE

Martin Stadt­feld spielt seine Kompo­si­tion Bells aus seinem Zyklus Christmas Time, mit dem er sein Album „Christmas Piano“ eröffnet.

Martin Stadt­feld: „Christmas Piano“ (Sony)

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Fotos: Andreas Zierhut