Matthias Georg Kendlinger
Mission Moderne: Musik mit Melodie
von Barbara Schulz
3. September 2021
Hybris, rufen die einen. Genialität, die anderen. Der Tiroler Komponist und Dirigent Matthias Georg Kendlinger polarisiert. Dabei will er nur die Schönheit für die Musik retten. Und damit die Menschheit. Porträt eines visionären Querulanten.
Wer ist er, dieser Matthias Georg Kendlinger? Auf alle Fälle ein Wahnsinniger. Nein, noch schlimmer: ein wahnsinniger Tiroler. Ja, vielleicht auch ein bisschen größenwahnsinnig. Seine Kritiker – und davon hat er viele – würden das fraglos unterschreiben. Aber Kendlinger ist noch mehr – natürlich: hoch emotional, sensibel, leidenschaftlich, intuitiv. Und ja, auch das: verletzlich. Auch wenn er ruppig daherkommen kann, knochenhart, ein Mensch, der den Widerstand erfunden hat. Ein Freigeist, der in keine Schublade passt. Ein Visionär, der mit missionarischem Eifer und einem inneren Auftrag die Welt reicher und die Menschen besser machen will. Das kann eine explosive und durchaus gefährliche Mischung sein, wenn der Grund für all das nicht der richtige ist. In seinem Fall ist er höchst ehrbar: Es ist die klassische Musik, die er hinaustragen will, für die er begeistern will, die er aus der stocksteifen und bierernsten Nische holen will, um die jungen Menschen dafür zu begeistern, um der Nachwelt nicht nur Atonales zu hinterlassen, um die Herzen zu öffnen. All das will er, für all das arbeitet er, für all das würde er seine Seele verkaufen. Es ist – ja, eben: ein Auftrag.
»Ich bin Autodidakt in der fünften Generation.«
Fast möchte man schon von einer Marke sprechen, wenn der Name Kendlinger fällt – denn wie der Hof in Tirol früher, wird jetzt die Musik im Familienbetrieb gemanaged. Von ungefähr kommt das nicht – die Familie hat grundsätzlich oberste Priorität. Und damit ist nicht nur die aktuelle Familie gemeint. Matthias Kendlinger wäre nicht der, der er heute ist, hätte er sich nicht auf die Suche nach seinen Wurzeln gemacht. „Ich vergleiche das mit dem goldenen Lebensbaum. Die Wurzeln sind verantwortlich für meine Erdung, sie sind mein Fundament.“ Also wollte er seine Ahnen und damit seine eigene Geschichte kennenlernen. „Ich dachte bis dahin, ich wäre der einzig Verrückte. Aber nein! Ich bin Autodidakt in der fünften Generation. Mein Vater hatte Maurer gelernt und war dann Polier auf den schwierigsten Baustellen. Mein Großvater war Tierarzt ohne Ausbildung, sein Vater und sein Großvater auch schon.“ Wie es aussieht, wurde ihm also Willensstärke, Durchsetzungsvermögen und der Mut, eigene Wege zu gehen, in die Wiege gelegt.
Die eigene Persönlichkeit hingegen sieht er schon viel individualistischer: „Der Stamm ist die Persönlichkeit – weil man selbst entscheidet, was in den Stamm kommen darf. Die Verästelungen sind wie Fühler, die Informationen sensitiv aufnehmen.“ Wie ein Filter würden die wirken, der entscheidet, was er nimmt und was nicht. Und so fülle sich nach und nach der Stamm dieses Baums mit einem Wissen, das vorher hinterfragt und selektiert wird.
Das Fragen und Hinterfragen ist ohnehin eine Passion von Matthias Kendlinger. Und er ärgert sich bis heute über unser Schulsystem, das sich nur wenig von dem unterscheidet, was er in seiner Kindheit kennengelernt hat. „Wehe, Kinder fragen zu viel! Und vor allem zu anderen Dingen, als der Lehrplan sie vorsieht. Dann heißt es, ‚jetzt setz dich hin und gib Ruhe‘. Ja, wie sollen Kinder denn da neugierig bleiben?“ Aber wenn einer schon Hausaufgaben als Freiheitsberaubung wahrnimmt, für den ist ein starres System definitiv nicht der Ort, an dem er sich entwickeln kann.
Die Schule war ihm immer zu eng, er fühlte sich in der eigenen Kreativität eingeschränkt, seine Neugierde wurde weder geweckt noch gestillt. Und so vertraute er viel mehr als schulischem Wissen seiner Intuition. Was ihm sinnlos und der Beachtung nicht wert erschien, das schob er beiseite. Grenzen aufbrechen, unabhängig und frei sein, das war sein Weg. Sein ständiger Begleiter dabei: Selbstzweifel. Weil er spürte, dass er anders ist.
Ob Kendlinger diesen Selbstzweifeln zum Trotz den Kurs nicht verändert hat, oder ob er nicht anders konnte, sei dahingestellt. Aber die Musik war immer da, und sie blieb: zunächst im Kinderchor, dann in der Blaskapelle, seine ersten Engagements. Dass er nach der Schule eine Ausbildung zum Kaufmann machte, scheint nur schlüssig. Denn wer seinen Weg selbst gehen will, abseits vom System, der sollte mit Zahlen umgehen können. Schließlich war er Konzertveranstalter, als Geschäftsführer Gründungsmitglied bei den Tiroler Festspielen, gründete ein Orchester, einen Chor, ein Ballett, ein Musikfestival. Und während all dieser Zeit hat er sich vom Musikanten zum Musiker entwickelt, hat sich das Dirigieren beigebracht und irgendwann auch das Komponieren. „Weil ich übergehe vor Ideen. Ich weiß gar nicht, wann ich das alles komponieren soll!“
Selbstüberschätzung? Natürlich sind die Kritiker getriggert, seine Sinfonien und seine Kammermusik entsprechend zu degradieren. Da kommt so ein „einfacher Tiroler Bauernbub – und das bin ich immer noch am liebsten“ – daher und füllt plötzlich Konzertsäle. Ohne jegliche akademische Vorbildung. Aber irgendetwas scheint er ja richtig zu machen. Ein bisschen erinnert das an Enoch zu Guttenberg, wenn der sich auch nicht zur Komposition verstiegen hat. „Ich hab ihn nie kennengelernt, aber ich spüre schon eine Nähe“, meint Kendlinger.
»Wir sollten der Schönheit wieder mehr Wert zugestehen.«
Die spürt er auch zu Beethoven – was nicht zu übersehen ist, spaziert man während seines 2017 gegründeten Matthias Georg Kendlinger Music Festival Lviv durch das ukrainische Lemberg, das inzwischen auch Weltkulturerbe ist. Ein Zufall hatte ihn hierhergeführt: Oleh Stankevych, ehemaliger Lehrer in Lemberg, war vor 20 Jahren mit den sogenannten Tschernobyl-Kindern nach Schwendt gekommen, also in die Heimat von Kendlinger. Es wurde eine fruchtbare Freundschaft daraus, mit Kendlingers Ehefrau Larissa war bald die Idee zur „Klassikschmiede“ DaCapo geschmiedet und umgesetzt, die Zusammenarbeit wurde enger, intensiver, und schließlich gründet er in Lemberg sein Orchester, die K&K Philharmoniker, außerdem den K&K Opernchor, das Österreichische K&K Ballett. K&K, das ist einerseits eine Referenz an die gemeinsame Geschichte Lembergs und Österreichs, „aber es kann natürlich auch für Kendlinger & Kendlinger stehen, denn das Unternehmen gründet ja auf der Arbeit und vor allem auf dem Risiko meiner Frau Larissa und mir“.
Aber zurück zu Beethoven: Die überlebensgroßen Plakate, die während des Festivals über ganz Lemberg verteilt sind, rufen im schnellen Vorbeigehen unweigerlich die Assoziation zum Titan hervor: grimmiger Blick, wildes Haar, das Hemd hochgeschlossen – der „Look“ ist unverkennbar. Spielt er mit dem Bild?
„Dass ich im Denken Beethoven nahe bin, das ist logisch. Er war auch ein Revoluzzer. Ihm waren die Menschenrechte wichtig, er hat gesehen, was da alles läuft in der Politik. Nicht umsonst ließ er sich von Napoleon zu seiner Eroica inspirieren. Das ist schon alles sehr ähnlich. Ich hab einmal einen Marsch Barack Obama gewidmet – nach einem halben Jahr, als ich gesehen habe, dass er Kriege beginnt, hab ich ihn wieder umbenannt. Ich dachte, er sei einer, der Kriege beendet.“
Nein, Scheu vor großen Namen hat er nicht. Aber vielleicht ist es ja genau diese Mischung, die ihn so anders macht als die anderen, die Intellektuellen, wie er sie nennt, wenn es um die zeitgenössische Musik geht. Die zeitgenössische Avantgarde ist definitiv nicht seins – ihm fehlt die Melodie, die Harmonie. „Wir sollten der Schönheit wieder mehr Wert zugestehen. In der Architektur ist es doch nicht anders, da legt man doch auch Wert darauf. Modern, aber schön.“
Und genau da sieht er seine Musik, dort will er sie verorten. „Zeitgenössische melodiöse Klassik, damit die Nachwelt sieht, dass wir nicht nur schräge Musik gemacht haben. Was soll es denn, dass ein Klarinettist mit einem Fuß in einem Eimer voller Steine rühren muss, wie ich es in einer Konzertprobe der Konzertreihe musica viva einmal erlebt habe. Wenn wir nur atonale Musik hinterlassen, werden die Menschen in hundert Jahren sich fragen, was wir hier getan haben. Ob wir alle bescheuert waren…“
Und so bewegt sich seine Musik zwischen Jazz, Filmmusik und Klassik. Er selbst versteht sich dabei als Brückenbauer. Nicht nur zwischen den Genres, sondern auch zwischen Musik und Mensch, zwischen Generationen, zwischen Gesellschaftsschichten. Und obwohl es ihm in der Hauptsache um die Melodie geht, steckt doch auch immer eine Botschaft in seinen Werken. Manipulation, Der Priester, Heilung, Heimweh und natürlich Larissa, ein Klavierkonzert als Hommage an seine Frau. Fast alle seine Werke beginnen ein wenig düster, mitunter martialisch. Und doch weiß er sie am Ende immer aufzulösen, die Spannung, die Bedrohung, die Fessel. „Das ist mein Ziel: Die Probleme, die ja deutlich da sind – Manipulation, Menschenrechte … Wir haben die Macht, sie zu lösen.“ Ein Komponist mit Erlösersyndrom.
Mit diesem Auftrag löst sich auch für ihn etwas auf: Im Oktober kehrt er zurück nach Erl, das er nach Spannungen mit dem Gründer Gustav Kuhn verlassen hat. In diesem Jahr zunächst mit der Vorstellung seiner Autobiographie „Der verlorene Sohn“ vor seinem Besuchskonzert, ab nächstem Jahr mit einem neuen Festivalkonzept. Nun, wo Kuhn seine Ämter beim Tiroler Musikfestival Erl nach heftigen Vorwürfen niedergelegt hat, ist es Zeit, zurückzukehren. Und er wäre nicht Kendlinger, würde er das ohne Vision tun: „Mit ‚Galaxy of Kendlinger« will ich ein neues, ein multimediales Format einführen. Das futuristische Festspielhaus Erl ist genau der richtige Ort dafür, um Klassik und Moderne zu verbinden. Die Idee war, dass ich das „MK Festival Lviv“ mit meiner Musik nach Erl bringen sollte. Ich wollte aber nicht das gleiche Festival dorthin tragen. Das bin ich Lemberg auch schuldig. Man hat dort so lang an mich geglaubt, dass ich das nicht wegziehen will.“
Doch Ideen beziehungsweise Einfallslosigkeit waren noch nie sein Problem. Und so fühlt er sich buchstäblich beflügelt (das Plakat zeigt ihn in einer Collage mit zwei Flügeln, vor denen er steht) und inspiriert von der Herausforderung: „Ich will eine Initiative gründen: Fifty-Fifty. Will heißen: 50 Prozent alte Musik und 50 Prozent melodiöse Klassik unserer Zeit. Außerdem überlege ich, einen Wettbewerb auszurufen, wo junge bzw. zeitgenössische Komponisten sich bewerben können und wir in der einen Hälfte des Konzerts ihre Musik spielen. Seit ich im Konzertbetrieb bin, stelle ich mir die Frage, warum vor 180 Jahren 90 Prozent aktuelle Musik gespielt wurde und nur zehn Prozent alte, heute spielen wir 98 Prozent alte Musik und nur zwei Prozent zeitgenössische. Das hat natürlich damit zu tun, dass man mit der atonalen neuen Musik so gegen die Hörer arbeitet.“ Auch einen Geigenwettbewerb will er initiieren, zwei Instrumente à 25.000 Euro wurden ihm schon angeboten. Am Ende sollen die Preisträger auch zum Festival eingereichte Stücke der Komponisten spielen.
»Ein gutes Konzert gelingt nur, wenn Publikum und Künstler verschmelzen.«
Da ist sie wieder, seine Mission, die zeitgenössische Musik hörbarer zu machen. Und vor allen Dingen nahbarer zu machen: „Ein gutes Konzert gelingt doch nur, wenn Publikum und Künstler verschmelzen. Wenn der Besucher das Gefühl hat, dass er auf der Bühne ist, dass er Teil des Ganzen ist. Und das wollen wir multimedial stützen – nur sphärisch. Wenn zum Beispiel eine ruhige Streicherstelle beginnt, würde ich das mit Licht unterstützen. Auch Videos wird es an der ein oder anderen Stelle geben. Ich will das Grundkonzept ja nicht verändern oder ein Popkonzert daraus machen. Aber ich will einen Weg starten, von dem man später mal sagen wird: Okay, ab dem 21. Jahrhundert hat man mal etwas umgestellt in der Klassik. Und sich der Zeit angenähert.“ Darüber hinaus ist ihm die Programm-Dramaturgie, die er oft zu zufällig, belang- und effektlos findet, ein großes Anliegen.
Was ihm aber vor allem an Herzen liegt – und da redet er sich in schönstem und kehligstem Tirolerisch voller Leidenschaft ins Thema: Jedes seiner Konzerte soll ein Fest werden. Jeder einzelne Abend. „Schluss mit ‚Ich besuche ein Konzert«. ‚Ich bin Teil eines Fests« muss es sein.“ Deshalb ist sein Pilotkonzert in Erl jetzt so geplant, dass der zweite Teil des Konzerts „nur“ ein Fest ist: „Da wird das Streichsextett mit Akkordeon spielen, ich werde erzählen, was die Idee ist und wie sich das in Zukunft alles entwickeln soll und kann. Heißt: Ich kommuniziere mit den Menschen. Der Chor wird ukrainische Volkslieder singen, Wassily spielt Akkordeon, es gibt Getränke. Der Konzertgast soll merken: Ich will es ernsthaft betreiben, aber die Überernsthaftigkeit verlassen. Wenn er nach Hause geht, soll er sagen: super Musiker, super Stimmung! Und ich war nicht nur Besucher, sondern ich habe das Fest auch zu dem gemacht, was es war.“
Es ist alles nicht wirklich neu, was er vorhat, der Matthias Georg Kendlinger. Und dann irgendwie doch. Weil er die Menschen erreicht. Weil er eben nicht nur Selbstdarsteller ist, sondern auch Zweifler. Nicht nur der wahnsinnige Tiroler, sondern auch ein lustiger, kommunikativer. Nicht nur Prophet, sondern wirklich ein Brückenbauer. Und weil er neben dem Musiker immer auch Musikant geblieben ist. Das kann man jetzt auch mit der Kritikern eigenen Häme schreiben. Man kann aber auch sagen: Chapeau! Da hat einer doch irgendwie alles richtig gemacht.
Matthias Georg Kendlinger: „Violinkonzert Galaxy u.a.“, Robert Stepanian, K&K Philharmoniker, Taras Lenko, Maximilian Kendlinger (K21)
Matthias Georg Kendlinger: „Der verlorene Sohn“. Musik – Brücke zwischen Suche und Erkenntnis“ (Goldegg)
Weitere Informationen zur Veranstaltung Galaxy of Kendlinger am 30. Oktober 2021 im Tiroler Festspielhaus Erl unter: kkphil.at