Werner Lamm

Musik aus dem Himmel

von Guido Krawinkel

28. Mai 2018

Carillons – die großen Glockenspiele in Türmen oder Kirchen – hört man kilometerweit. Zu Gesicht bekommt man die Menschen, die sie spielen, aber so gut wie nie.

51 Stufen braucht Caril­lo­neur Werner Lamm zu seinem Arbeits­platz. Der befindet sich inmitten der Hamburger City, auf der ersten Turm­ebene des Mahn­mals St. Nikolai. Bis 1943 stand hier eine neugo­ti­sche Kirche, die im Bomben­hagel auf die Hanse­stadt weit­ge­hend zerstört wurde. Nur der gut 147 Meter hohe Turm – immer noch der fünft­höchste der Welt – blieb außer ein paar Mauer­resten stehen und erin­nert als Mahnmal an die Schre­cken des Zweiten Welt­krieges. 1993 wurde dort ein Carillon instal­liert, das mit 51 Glocken und einem Gesamt­ge­wicht von 13 Tonnen eines der größten Deutsch­lands ist – der chro­ma­ti­sche Tonum­fang beträgt mehr als vier Oktaven. Das größte steht in und umfasst 76 Glocken.

Vor allem seit dem Film Will­kommen bei den Sch’tis ist das Carillon wieder vermehrt in den Fokus der Öffent­lich­keit gerückt. Doch kann das nicht darüber hinweg­täu­schen, dass die Zunft der Caril­lo­neure Zukunfts­sorgen hat. Die Kunst des Glocken­spiels wird von immer weniger Musi­kern beherrscht, auch weil vieler­orts eine Auto­matik das über­nommen hat, was früher von Hand erle­digt wurde.

Der Caril­lo­neur Werner Lamm am Glocken­spiel von St. Nikolai in

Leicht hat man es als Caril­lo­neur nicht: Üben? Fehl­an­zeige! Wollte Werner Lamm einmal unge­stört proben, müsste er nach oder reisen, wo es eigens einge­rich­tete Spiel­tische gibt, an denen er unter Ausschluss der Öffent­lich­keit üben kann. Lamm, der im Haupt­beruf Kirchen­mu­siker in Hamburg ist, behilft sich zuweilen, indem er an seiner Orgel ein Brett und Decken über die Klavia­turen legt. Auch sein Arbeits­platz im Turm des Mahn­mals St. Nikolai ist nicht unbe­dingt ein idyl­li­scher Ort: Im Sommer heiß, im Winter kalt, befindet er sich in einem kleinen Glas­kasten, der ihn vor dem ohren­be­täu­benden Lärm der Glocken schützt, inmitten derer er sitzt. Sein Publikum bekommt den in luftiger Höhe spie­lenden Musiker indes nie zu Gesicht.

Von hier aus schlägt er auf eine Art Klaviatur ein, die aussieht wie eine Tastatur für Grob­mo­to­riker: große hölzerne Zapfen („Stokken“), auf die er mit seinen Fäusten und Füßen einschlägt. Dies erfor­dert jedoch mehr Fein­ge­fühl, als man denkt. Die Klöppel, die den Glocken­körper anschlagen, sind bis auf wenige Zenti­meter an den Korpus heran­ge­zogen, die Verbin­dung von den Tasten zu den Klöp­peln erfolgt mittels Seil­zügen aus Metall. Die Masse, die hierbei bewegt werden muss, reicht von wenigen Gramm bis zu einigen Kilo­gramm – eine Heraus­for­de­rung für jeden Caril­lon­neur, der Anschlags­nu­ancen je nach Größe der Glocke und der gewünschten Laut­stärke genau dosieren muss. Pianisten und Orga­nisten, die schon von Berufs wegen Tastenins­trumente spielen, sind deshalb klar im Vorteil. Auch, weil vieles, was Lamm spielt, impro­vi­siert ist – für Orga­nisten ist das ohnehin ihr täglich Brot. Hinzu kommt eine weitere Beson­der­heit, die mit dem Klang der Glocken zusam­men­hängt: ihre Ober­töne. Das sehr spezi­elle Spek­trum der Ober­töne einer Glocke führt dazu, dass nicht alles gut klingt, was auf dem Noten­pa­pier gut aussieht. Auch hier ist die Erfah­rung eines Caril­lon­neurs gefragt. Lamms Devise: Lieber mal was weglassen, weniger ist bekannt­lich mehr.

Insge­samt gibt es in laut offi­zi­eller Zählung 43 Caril­lons, die per Defi­ni­tion mindes­tens 23 Glocken haben müssen. Ange­fangen hat man im Mittel­alter mit gerade einmal vier Glocken, 1510 entstand im flämi­schen Ouden­aarde schließ­lich rich­tige Carillon. Vor allem im 17. und 18. Jahr­hun­dert florierten Caril­lons, gerade in Nord­frank­reich, Flan­dern und den Nieder­landen. Und hier ist die Dichte an Glocken­spielen auch am größten: Nicht weniger als 806 gibt es. Welt­re­kord.

Fotos: Katharina Hertz-Eichenrode