Saite

Eine bewegte Geschichte

von Sina Kleinedler

7. Juni 2017

Von „Katzendarm“ zu umsponnenem Stahl: Im Jubel um ach so gut gebaute Musikinstrumente wird oft der Teil vergessen, der sie zum Schwingen bringt: die Saite mit ihrer bewegten Geschichte.

Von „Katzen­darm“ zu umspon­nenem Stahl: Im Jubel um ach so gut gebaute Musik­in­stru­mente wird oft der Teil vergessen, der sie zum Schwingen bringt: die Saite mit ihrer bewegten Geschichte.

Die Verwen­dung von Darm­saiten für Streich- oder Zupf­in­stru­mente lässt sich bis in frühe Hoch­kul­turen zurück­ver­folgen. In den 1950er-Jahren kam eine Saite aus Stahl auf den Markt, die diese alte Tradi­tion ablösen sollte. Im sechsten Wiener Bezirk hatten Geigen­bauer Franz Thomastik und Inge­nieur Peter Infeld im Jahr 1919 begonnen, an dieser neuen Saitenart zu tüfteln. Mitt­ler­weile ist Thomastik-Infeld als euro­päi­scher Markt­führer und Produ­zent von rund 2.000 verschie­denen Saiten nicht mehr aus der Musik­branche wegzu­denken.

Um Saiten gibt es in der Welt der Streich­in­stru­men­ta­listen unheim­lich viele Diskus­sionen. Manch ein Musiker wech­selt seine Saiten­kom­bi­na­tionen scheinbar öfter als sein Outfit. Andere schwören jahr­zehn­te­lang auf ihre „perfekte Kombi­na­tion“ – und keine Saite klingt auf jedem Instru­ment gleich. Für Expe­ri­mente mit verschie­densten Saiten gibt es genü­gend Mate­rial, denn auf dem Markt tummeln sich diverse Produkte, die sich äußer­lich, bis auf unter­schied­liche farbige Stoff­um­wick­lungen an beiden Enden, kaum unter­scheiden lassen. Erst mit einem Blick auf die Mate­ria­lien finden sich Unter­schiede. Im Verkauf werden sie mit Attri­buten wie „weich“, „warm“, „strah­lend“, „kräftig“, „bril­lant“ beschrieben und unter­schieden. Aber wie genau will man etwas so subjektiv Empfun­denes wie Klang benennen?

Beson­ders einig scheinen sich viele Musiker plötz­lich zu sein, wenn es um die Qualität der Saiten der Firma Thomastik-Infeld geht. Sie sind sozu­sagen ein „Klas­siker“ – und das lässt sich auch histo­risch begründen. Saiten aus Pflan­zen­fa­sern oder Sehnen wurden schon in prähis­to­ri­scher Zeit zum Musi­zieren verwendet. In asia­ti­schen Hoch­kul­turen setzte man auch Ross­haar, Seide und Darm ein. Im Grab des Musi­kers Harmosis, der um 1500 v. Chr. starb, fand man seine mit Darm­saiten bespannte Laute beinahe unver­sehrt vor. Das Instru­ment ist noch immer im Museum in Kairo zu bewun­dern.

„In asia­ti­schen Hoch­kul­turen setzte man auch Ross­haar, Seide und Darm ein“

Mitte des 17. Jahr­hun­derts begann man, Saiten zusätz­lich mit dünnem Draht zu umspinnen. Der Kern aus Darm, auch „Seele“ genannt, wurde durch die spiral­för­mige Umwick­lung robuster. Bis zum Ersten Welt­krieg waren aus dem Darm von Huftieren gefer­tigte Saiten Stan­dard. Die Legende, dass Darm­saiten aus Katzen­darm bestehen – im Engli­schen wird bis heute der Begriff „catgut“ verwendet – ist einer sehr alten Geschichte geschuldet. Ein italie­ni­scher Sattel­meister entdeckte um das Jahr 1300, dass der von ihm zum Nähen verwen­dete Darm der Berg­schafe sich auch hervor­ra­gend als Saite für Musik­in­stru­mente eignet, und schon bald stellte die Saiten­her­stel­lung die wich­tigste Einnah­me­quelle der Region dar. Da das Töten von Katzen als unheil­brin­gend galt, erzählte man, es handele sich bei dem neuen Mate­rial um Katzen­darm – und schreckte so mögliche Konkur­renz ab.

Nach dem Ersten Welt­krieg war Natur­darm ein knapp bemes­senes Mate­rial, da es zum Nähen der Wunden benö­tigt wurde. Es musste also eine alter­na­tive Möglich­keit gefunden werden, Saiten herzu­stellen. In hatte sich Dr. Franz Thomastik, nicht nur Geigen­bauer, sondern auch Doktor der Philo­so­phie, gemeinsam mit dem Inge­nieur Otto Infeld bereits seit 1919 mit anderen Rohstoffen zur Saiten­her­stel­lung ausein­an­der­ge­setzt. Stahl­draht war in der Produk­tion von Klavier­saiten schon ausrei­chend erprobt. Bis 1926 gelang es Thomastik-Infeld, das Mate­rial auch in solide Streich­in­stru­menten-Saiten zu verar­beiten. In den 1950er-Jahren gelang ihnen die wohl größte Inno­va­tion, die der Firma zu welt­weitem Ansehen verhalf: die Herstel­lung einer Saite mit synthe­ti­schem Kern­ma­te­rial und Bandum­spin­nung. Die berühmte „Dominant“-Saite ist bis heute die „Refe­renz­saite“ für Violine.

Der Wechsel zu Stahl­saiten brachte viele Vorteile mit sich: Neben der größeren Robust­heit reagieren sie im Vergleich zum Natur­pro­dukt Darm weniger stark auf Tempe­ratur- und Luft­feuch­tig­keits­schwan­kungen oder Hand­schweiß. In der histo­ri­schen Auffüh­rungs­praxis sind Darm­saiten, umsponnen wie unum­sponnen, noch immer präsent. Für den Kern und die Umspin­nung der Saite kommt mitt­ler­weile aber auch eine große Band­breite unter­schied­lichster Mate­ria­lien zum Einsatz: modernste, teil­weise der Luft­fahrt entstam­mende Kunst­stoffe, aus denen synthe­ti­sche Saiten herge­stellt werden, Kunst­stoff­saiten aus Nylon, Perlon oder Poly­ester umsponnen oder beschichtet mit Alumi­nium, Wolfram, Chrom­stahl, Silber oder Gold und auch biokom­pa­tible Werk­stoffe wie Titan werden verar­beitet. Allein bei Thomastik-Infeld gibt es eine Auswahl von rund 2.000 Saiten, 97 Prozent davon gehen jähr­lich in die ganze Welt. Darm­saiten wurden in der Wiener Manu­faktur jedoch nie herge­stellt, nicht nur weil die Firma als Erfinder der Stahl­saite und Synthe­tik­saite tradi­tio­nell nicht auf diesem Gebiet tätig ist. Mitten im Wiener Stadt­ge­biet wäre es wohl kompli­ziert, zu gerben oder andere für die Herstel­lung von Darm­saiten benö­tigte Prozesse auszu­führen.

„Das ist so ein leben­diges Gefühl unter den Fingern“

Natür­lich kennt die Weiter­ent­wick­lung der Saiten kein Ende. Entwickler Bern­hard Rieger stellt auf der Musik­messe das neuste Thomastik-Infeld-Produkt vor: die Versum Solo Cello­saiten, die, so hofft er, ein neuer Stan­dard werden könnten. Für die Tests während der Entwick­lung hat Rieger selbst 100 Cellisten und Instru­mente ausge­wählt und die Eigen­schaften der Saiten so über 18 Monate lang in über 300 Tests immer weiter perfek­tio­niert. Jetzt liegen sie in mint­grünen kleinen Umschlägen in der Verkaufs­vi­trine, und ihr Entwickler muss den Messe­be­su­chern und Jour­na­listen Rede und Antwort stehen. Rieger hat selbst Kontra­bass studiert und dann – als er im Wehr­dienst von den Kollegen in der Mili­tär­musik ermahnt wurde, doch bloß etwas anderes zu lernen – zusätz­lich ein tech­ni­sches Studium ange­schlossen. Neben seinem Job als Saiten­ent­wickler spielt er als Gast in vielen verschie­denen Wiener Orches­tern wie im RSO, der Staats­oper oder dem Wiener Kammer­or­chester. Das hilft ihm auch bei der Arbeit als Inge­nieur: „Ich starte immer mit einem Klang im Kopf! Natür­lich ist auch Mathe­matik im Spiel, aber man braucht sie nur als Werk­zeug, manchmal muss man auch tief in die Physik eintau­chen, um intui­tive Ideen zu über­prüfen. Es ist sehr viel Hand­werk und Erfah­rung – aber vor allem sehr viel Zuhören!“

Der Weg von einer Idee bis hin zu einer fertigen neuen Saite dauert gut und gerne zwei Jahre und ist mit vielen Tests und Mate­ri­al­ver­än­de­rungen verbunden. Die lange Firmen­ge­schichte ist für Rieger dabei immer präsent: „Eine der inno­va­tivsten Entwick­lungen für mich ist rück­bli­ckend die Entwick­lung des Spiral­seils, das Spiro­core-Saiten als Kern haben, ein stark verdrehtes Bündel von Stahl­drähten. Dadurch entsteht eine hohe Elas­ti­zität. Für diese Erfin­dung bewun­dere ich meine Vorgänger, was für eine verrückte Idee! Die Maschinen, um das möglich zu machen haben, sie selbst entwi­ckelt, einige dieser Maschinen laufen noch immer in der Produk­tion mit.“

Michael Veit, Solo­cel­list im Staats­or­chester , hat sich spontan bereit­erklärt, am Messe­stand zu spielen und die neuen Saiten vorzu­stellen. Andächtig stehen Thomastik-Mitar­beiter und Zuschauer um ihn herum und lauschen einigen Sätzen aus Bachs Cello­suiten. Bach schrieb mit Darm­sai­ten­klang im Ohr, aber auch dieser Klang hätte ihm wohl gefallen können. Veit jeden­falls scheint restlos begeis­tert „Das ist so ein leben­diges Gefühl unter den Fingern, das ruft eine unheim­liche Spiel­freude hervor, alles Mögliche auszu­pro­bieren!“ Und diese Spiel­freude ist es wohl, die Saiten­pro­du­zenten anspornt, immer einen Schritt weiter­zu­denken.

Aleksey Igudesman

Aleksey Igudesman; Foto: Dominik Joelsohn Production„Bei Thomastik-Infeld werden neue Saiten entwi­ckelt, aber auch alte verbes­sert. Das gefällt mir. Wie wir Musiker sind sie eigent­lich ein Haufen inspi­rierter Künstler, die Grenzen sprengen wollen. Deshalb schaue ich gern dort vorbei und teste die neuesten Produkte. Da ist für jeden was dabei.”

Ray Chen

Ray Chen; Foto: Julian Hargreaves„Ein Instru­ment ist wie ein schöner, großer Fern­seher. Der Spieler ist die Elek­tri­zität, die durch die Maschine fließt und uns die strah­lendsten Farben sehen lässt. Und die Saiten? Sie sind wie die Kabel, durch die die Elek­tri­zität geleitet wird, die alles verbinden. Ohne sie bleibt der Bild­schirm schwarz.“

Hilary Hahn

Hilary Hahn; Foto: Michael Patrick O`Leary„Ich spiele Thomastik-Infeld-Saiten, seit ich 13 Jahre alt bin. Ich muss meinen Saiten vertrauen, weil ich auf meinen welt­weiten Tour­neen sehr unter­schied­li­ches Reper­toire in unter­schied­li­chen klima­ti­schen Verhält­nissen und in unter­schied­li­cher Akustik spiele. Ich mag den warmen Klang dieser Saiten.“

Fotos: Thomastik-Infeld