Musikzensur
Ein Krokodil, das Köpfe abreißt
16. Februar 2019
Machthaber schrieben und schreiben vor, was in der Musik erlaubt und unerlaubt ist – eine kleine Geschichte der Zensur.
„Tonkunst, dich preis ich vor allen, Höchstes Los ist dir gefallen, Aus der Schwesterkünste drei, Du die freiste, einzig frei!“, dichtete Franz Grillparzer 1826. Und irrte. Denn seit jeher ließen sich die Mächtigen mit harmonischen Klängen huldigen und verbannten rigoros die Musik, deren Texte weniger huldvoll waren. Bereits Kaiser Wu (140–87 v. Chr.) ließ die Musiker in seinem Reich kontrollieren, ganz im Sinne von Konfuzius, der meinte, dass man an der Musik erkenne, ob ein Land „wohl regiert und gut gesittet sei“. Für Platon gab es gute und weniger gute Tonarten, solche die aus Männern Krieger machten und solche, die sie „verweichlichten“. Saiteninstrumente hielt er für „staatspolitisch brauchbar“; Harfen, Zimbeln und „weiche“ Flöten nicht. Was er über den Dudelsack gesagt hätte, der im 30-jährigen Krieg als Waffe galt?
Bei den alten Griechen ging es um Krieg, im aufkommenden Christentum um Gottes Wort. Heiliges Ideal war der einstimmige gregorianische Gesang, dessen „Worte von jedermann klar verstanden werden“ sollten. Bereits Augustinus (354–430 n. Chr.) hatte vor „zu schöner“ Musik gewarnt, die von der Buße ablenke. Im Laufe der Jahrzehnte hatten sich weltliche Melodien, oft deftige Liebeslieder, deren Inhalt jedem Geistlichen bekannt (!) waren, ins liturgische Repertoire geschlichen. Dem „sündhaften Lärm“ und „üblen Durcheinander“ der Polyphonie, das die Textverständlichkeit behindere und die pia gravitas verletze, sagte das katholische Konzil von Trient (1545–1563) den Kampf an. Mit einem Trick stimmte Giovanni Pierluigi da Palestrina, der bis zu seinem Tod 1594 am Petersdom wirkte, die Konzilsväter gnädig: die dogmatischen Sätze seiner Missa Papae Marcelli (um 1562) setzte er homophon, die anderen polyphon. Sein Stil wurde zum Inbegriff katholischer Kirchenmusik.
1564 starb in Genf Johannes Calvin. Ein protestantischer Eiferer, der „anständige“ Lieder forderte und abgründige Gedanken hegte. Ja, jede schlechte Rede verderbe „die guten Sitten“. Doch eine Melodie dazu sei wie Wein, der „Gift und Verderben auf den Grund des Herzens“ bringe. Ganz anders war die Haltung von Calvins Lehrmeister Martin Luther. Der freute sich des Lebens und an der Musik. Sie verjage den Teufel, sei ein Mittel gegen „Zorn, Zank, Hass, Neid, Geiz, Sorge, Traurigkeit und Mord“, wie er in der Vorrede zu seinen Gesangbüchern schrieb. „Wittenbergische Nachtigall“ nannte man ihn, weil er gerne sang, die Laute spielte und komponierte. Ihm verdanken wir nicht nur das Lied Eine feste Burg ist unser Gott, das Heinrich Heine die „Marseillaise der Reformation“ nannte, sondern auch viele durch ihn inspirierte Werke von Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach.
Letzterer wird 1706 in Arnstadt vom Superintendent Orearius zur Rede gestellt. „Halthen Ihm vor, dass er bisher in dem Choral viele wunderlichen variationes gemachet, viele fremde Thone mit eingemischet, dass die Gemeinde darüber confundiret worden“, heißt es in der Kirchenakte. Doch Bach verbittet sich jegliche Einmischung.
Nur Frauen durfte auch er in seiner Kirchenmusik nicht einsetzen, galt zu seiner Zeit der von Apostel Paulus formulierte Grundsatz: „mulier tacet in ecclesia“ – Die Frau schweige in der Kirche“. Für „WEIBER“ sei „hier kein Platz“ wird es das Provinzialkonzil der Erzdiözese Köln 1862 drastisch auf dem Punkt bringen. Denn „alles, was im Kirchengesange an Weiblichkeit grenzt, der Heiligkeit des Ortes und der Majestät des Gottesdienstes widerspricht.“ Auf den überirdischen „Angelus Klang“ wollte man im bis heute männlichen päpstlichen Chor der Sixtinischen Kapelle nicht verzichten. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts übernahmen dies die Kastraten.
Ungeachtet dessen gab es aber Frauen im Chor, wie etwa in der Berliner Singakademie. Gegründet wurde sie 1791, zwei Jahre nach der französischen Revolution. Drei Jahre zuvor hatte Mozart noch mit seiner subversiven Hochzeit des Figaro, in der Diener rebellieren und den Herrn überlisten, seine Mühe gehabt. „Revolution in Aktion“ beschrieb sie Napoleon.
Die Zensur trieb bunte Blüten, je nach politischer Situation. Im revolutionären Paris konnte eine Oper zensiert werden, wenn das Wort Freiheit nicht vorkam. Im kaiserlichen Wien wiederum gängelte man Verdi, weil man den Gefangenenchor aus Nabucco (1842) als eine Art italienische Revolte gegen die Donaumonarchie verstand.
Neben Religion-Doktrinen und politischen Machtinteressen bestimmte auch der Geschmack des Herrschers, der oft auch Mäzen war, die Auftragslage der Komponisten. Monteverdi musste 1612 Mantua verlassen, weil man nach dem Tod seines Dienstherrn die Oper nicht mehr schätzte. Im Frankreich des 17. und frühen 18. Jahrhundert musste laut Dekret (!) jede Oper ein Ballett haben, weil der König so gerne tanzte. Im sogenannten Buffonistenstreit von 1752, einer Auseinandersetzung um die Vorherrschaft der französischen oder der italienischen Oper, ging es wieder um Politik.
In Russland durfte ein Zar nicht auf der Bühne dargestellt werden – schon gar nicht als Dummkopf, wie in Der goldene Hahn (1909) von Rimski-Korsakow. Opern wurden vom Zaren höchstpersönlich umbenannt, Libretti umgetextet, Szenen gestrichen. Fast schon harmlos gegenüber dem, was im 20. Jahrhundert auf Musiker zukommen sollte.
„Ein Zensor ist ein menschgewordener Bleistift oder ein bleistiftgewordener Mensch… ein Krokodil, das an den Ufern des Ideenstromes lagert und den darin schwimmenden Literaten die Köpf« abbeißt“, witzelte Johann Nestroy. Wie wahr. Egal ob Nazi oder Kommunist: beide lehnten die Atonalität und die Dodekaphonie ab. Nach der Oktoberrevolution 1917 hatte Nadeshda Krupskaja, die Witwe Lenins, die Leitung des Volkskommissariats für Bildung übernommen. Anfangs eher liberal, änderte sich allmählich die Stimmung. Die Musikzensur wurde zur Musikdiktatur. Bestes Beispiel: Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk. 1934 uraufgeführt feierte sie große Erfolge bis zum 26. Januar 1936, als Stalin zu einer Aufführung kam. Am nächsten Tag sprach die Prawda von „linker Monstrosität“, „formalistischer Perversion“ und „pathologischen Naturalismus und Erotizismus“. Schostakowitsch geriet in Panik. Er wusste um die Schauprozesse, die sich hinter der fröhlichen Fassade propagierter Lebensfreude abspielten. Wie Prokofjew „bekannte“ er sich zu seinen „atonalen Sünden“ und gelobte im Sinne des Zentralkomitees der KPdSU zu komponieren: Lieder für die Rote Armee, Festpoeme und Ergebenheitsadressen.
Ein Parteifunktionär wird Schostakowitsch und Prokofjew 1948 erklären, wie man „melodische Musik“ komponiert. 1953 starb Stalin, am selben Tag übrigens auch Prokofjew. Der stalinistische Personenkult verschwand, die staatliche Kunstregulierung blieb. 308 Seiten umfasste das Handbuch mit erlaubtem Repertoire. Weder Jazz, der „spätimperialistische Giftanschlag der amerikanischen Gangster“ noch die „Monotonie des Je-Je-Je“, dieser „Dreck aus dem Westen“, wie Walter Ulbricht die Beatles nennt, gehörten dazu. Daran änderte nicht, dass Nikita Chruschtschow 1962 den „Ideologen der imperialistischen Bourgeoisie“ Strawinsky empfing.
Zensur, Berufsverbot, antisemitische Diffamierung. Analog zur Bücherverbrennung fordern die Nazis „einen Scheiterhaufen für Musik“ – so ein Aufsatz von 1933. Es sind Zeiten, in denen sogar der Thomaskantor – Karl Straube – ein NSDAP-Mitglied ist. Die Liste der Verfemten ist lang: von Mendelssohn-Bartholdy, Hindemith, Weill bis hin zum „Brunnenvergifter der deutschen Musik“ Alban Berg. Auch der ambivalente Richard Strauss, von 1933 bis 1935 Präsident der Reichsmusikkammer, hatte in jungen Jahren unter der Wilhelminischen Zensur in Berlin und der k.u.k. Hofzensur in Wien zu leiden.
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, wenn er 1912 in Ariadne auf Naxos einer Figur die, übrigens später entfernten, Sätze sagen lässt: „Warum führt man solches Zeug auf? Wäre ich König, ich ließe von Polizei wegen jedes Musikstück verbieten, das ein Kanarienvogel nicht vom ersten Hören nachsingen kann. Und den Kerl, der es in die Welt geschafft hat, in Eisen legen, da wäre bald reiner Tisch.“