Nadja Loschky

Perso­nal­kom­pe­tenz im Vernich­tungs­lager

von Roland H. Dippel

12. Juli 2022

Nadja Loschky setzte an der Grazer Oper Mieczysław Weinbergs Oper »Die Passagierin« mit Dshamilja Kaiser als Lisa und Nadja Stefanoff als Marta in Szene, und Axel Stummer zeichnete das Werk auf.

Seit ihrer post­humen szeni­schen Urauf­füh­rung 2010 wurde Miec­zysław Wein­bergs Oper inner­halb kürzester Zeit zum Reper­toire­stück. Seine inten­sive frei­to­nale Musik auf Alex­ander Medwe­dews Libretto nach dem auto­bio­gra­phi­schen Roman Pasażerka von Zofia Posmysz gibt der psychisch aufrei­benden Konfron­ta­tion einer Täterin mit einer Gefan­genen mehrere Jahre nach den Kata­stro­phen der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vernich­tungs­lager in packenden Rück­blenden Ausdruck. Auf einer Schiffs­reise nach Brasi­lien erkennt die ehema­lige KZ-Aufse­herin Lisa in einer Mitpas­sa­gierin die tot geglaubte Gefan­gene Marta. Bittere Erin­ne­rungen, spätes Schuld­be­wusst­sein und die prag­ma­ti­sche Angst vor sozialer Ächtung treiben Lisa in einen exis­ten­zi­ellen Konflikt und in die Konfron­ta­tion mit ihrem Ehemann Walter, der bisher nichts von ihrer beruf­li­chen Vergan­gen­heit wusste. Wein­berg charak­te­ri­sierte – das macht die außer­or­dent­liche Faszi­na­ti­ons­kraft dieser Oper aus – Lisa mit ebenso subtiler mensch­li­cher Anteil­nahme wie das erst schat­ten­haft auftau­chende Opfer Marta.

Dshamilja Kaiser als Lisa und Will Hart­mann als ihr Mann Walter, der nicht wusste, dass seine Frau KZ-Aufse­herin war, an der Oper Graz

In einem weißen Amts­raum (Bühne: Etienne Pluss), dessen Möbel­in­halte viele unge­klärte Fälle zu enthalten scheinen, werden böse Erin­ne­rungen wach: Hitlers willige Voll­ste­cker bringen sich auf dem Abort mit herun­ter­ge­las­senen Hosen in Schlächter-Stim­mung. Nadja Loschky schafft in dieser in dieser und anderen Grup­pen­szenen, wenn sich gesell­schaft­li­ches Treiben und der Lager­alltag unter stän­digem Todes- und Gewalt­druck durch­dringen, eine beklem­mende Atmo­sphäre. Mit Roland Kluttig und den Wein­bergs Musik emotional, aber nie senti­mental spie­lenden Grazer Phil­har­mo­ni­kern agiert Loschky auf einer gemein­samen Schwin­gungs­ebene. Analy­ti­sche und emotio­nale Thea­ter­mittel ergänzen sich ideal. Die Bezie­hung Lisas zu der Über­le­benden Marta (Nadja Stefanoff) gerät in der Grazer Produk­tion nicht ganz so span­nend wie die Dynamik des Ehepaars Lisa (Dshamilja Kaiser) und Walter (Will Hart­mann). Sie und er tragen auf ihrer inter­kon­ti­nen­talen Reise Tracht (Kostüme: Irina Spre­ckel­meyer). Derart demons­triert das Paar, dessen Bezie­hungs­struktur die bis Mitte des 20. Jahr­hun­derts kaum ange­foch­tenen Geschlech­ter­hier­ar­chien spie­gelt, eine wert­kon­ser­va­tive Haltung. Walter schätzt an Lisa eine gewisse Unter­wür­fig­keit und damit jene Eigen­schaft, durch die sie für die Aufsichts­tä­tig­keit im Vernich­tungs­lager ideal präde­sti­niert war. Auch da, wo ihr part­ner­schaft­li­cher Beistand helfen würde, behan­delt Walter Lisa mit Strenge. Aus dieser verän­derten thema­ti­schen Gewich­tung erwachsen viele inten­sive Details. Diese entziehen dem Drama aller­dings einige seiner wenigen warmen Farben.

Die Passagierin, Oper Graz
Nadja Stefanoff als Marta und Isabella Albrecht als alte Lisa an der Oper Graz

Die Bezie­hung Martas zum Mitge­fan­genen Tadeusz (Markus Butter) verliert in den schlichten und damit sehr glaub­würdig gestal­teten Lager­szenen zwangs­läufig etwas von ihrem Gewicht. Der psycho­lo­gi­sche Biss der Insze­nie­rung stei­gert sich aber zu noch größerer Eindring­lich­keit. Denn Nadja Loschky verhan­delt neben der anstren­genden Figu­ren­kon­stel­la­tion nicht weniger als die komplexe Frage, ob etablierte soziale Konven­tionen nicht sogar eine uner­läss­liche Voraus­set­zung für die funk­tio­nale Maschi­nerie eines Unrechts­sys­tems sind. Etwas versöhn­li­cher gerät Loschkys Studie, weil eine geal­terte Lisa auf einer dritten szeni­schen Ebene an die grau­same Zeit und deren miss­lin­gende Bewäl­ti­gung zurück­denkt. Mit einer exzel­lenten Ensem­ble­leis­tung ist die Produk­tion der Oper Graz auch dank der prägnanten Video­auf­zeich­nung durch Axel Stummer ein großer Wurf.

Fotos: Werner Kmetitsch / Oper Graz