Niccolò Paganini
Ein Interview mit Paganini
von Andreas Lange
27. Oktober 2022
Am 27. Oktober 2022 wäre er 240 Jahre alt geworden: Niccolò Paganini. Für den Experten Andreas Lange Grund genug, den Teufelsgeiger und -komponisten zum fiktiven, aber sehr aufschlussreichen Gespräch zu bitten.
CRESCENDO: Herr Paganini oder Signor Paganini, Ritter, Baron oder österreichischer oder preußischer Kapellmeister, wie darf ich Sie ansprechen?
Niccolò Paganini: Das überlasse ich Ihnen. In den Jahren meiner Konzertreisen durch Europa bin ich meistens mit Signor, aber auch mit Ritter angesprochen worden. Den Titel Baron, auf den ich besonders stolz war, erhielt ich ja erst 1832. Baron steht seitdem zwar auf meiner Visitenkarte, wurde aber selten gebraucht.
»Ich lebte immer mit der Angst, dass neue ›Paganinis‹ entstehen könnten«
Gut, dann bleiben wir bei „Signor“: Signor Paganini, ich freue mich auf dieses Gespräch aus einem besonderen Anlass: Es jährt sich ja 2022 Ihr 240. Geburtstag. Wie schätzen Sie heute die Würdigung Ihrer Person ein?
Wenn meine letzten Lebensjahre u.a. auch von gescheiterten Liebschaften, vielen Krankheiten und einem missglückten gerichtlichen Prozess in Paris geprägt waren, so war ich mir doch sicher, dass mein Name vor allem durch meine Leistungen nicht in Vergessenheit geraten wird. Dass es dabei im Wesentlichen um den Geiger Paganini und weniger um den Komponisten ging, habe ich selbst verursacht. Ich lebte immer mit der Angst, dass durch die Veröffentlichung meiner Werke neue „Paganinis“ entstehen könnten und damit eine Konkurrenz für mich. Aus diesem Grund kamen zu meinen Lebzeiten nur insgesamt sechs Werke in gedruckter Form auf den Markt. Meine Angst war aber unbegründet. Zwar versuchte man immer wieder, meine Kompositionen nach dem Gedächtnis aufzuschreiben und dann vorzutragen. Auch wurden zahlreiche Werke in meiner Art komponiert. Ob diese Geiger aber dann das mit meiner Spielweise vorgetragen haben, weiß ich nicht. Ich denke da unter anderen an Josef Slavík, an Ole Bull, an Karol Lipiński, an Heinrich Wilhelm Ernst und auch an meinen einzigen Schüler an Camillo Sivori. Alle waren tolle Virtuosen, die ihre eigene Art zu spielen hatten und nicht alle meine Freunde wurden, aber auch nicht meine Feinde.
Signor Paganini …
Lassen Sie mich noch etwas ergänzen. Wenn ich höre, wie die heutigen Virtuosen meine Werke interpretieren, dann bin ich überrascht, dass sie oftmals meine Spieltechnik übernehmen. Und so ist es kein Wunder, dass es in einigen Fällen fast so klingt wie bei mir. Viele müssen sich aber sehr abmühen, ja fast quälen, da fehlt die Leichtigkeit, die saubere Spielweise und vor allem die Tiefe der Gefühle. Dennoch ist es erstaunlich, wie die heutige Ausbildung junger Virtuosen dazu beigetragen hat, meine Spieltechnik als Maßstab, oder sagen wir, als einen Maßstab anzusehen.
»Nur die Musik und ihre finanziellen Einnahmen standen im Mittelpunkt meines Lebens«
Signor Paganini, bis heute wird Ihrer Person Geldsucht und Geiz nachgesagt. Wie stehen Sie dazu?
Wenn ich die Angelegenheit aus heutiger Sicht betrachte, so ist dieser Vorwurf nicht ganz aus der Luft gegriffen. Aber dennoch kann ich ihn so nicht im Raum stehen lassen. Sie müssen wissen, mein Leben begann in sehr bescheidenen Verhältnissen. Mein Vater, der oft sein Geld verspielte und dann in Genua auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen war, garantierte keine geordneten familiären Verhältnisse. Aus dieser Situation heraus und der Tatsache, dass ich damals nicht wie viele Komponisten und Solisten in Armut sterben wollte, war ich natürlich bestrebt, meine Kunst so günstig wie möglich zu verkaufen. Während in den Jahren bis 1825 diese Ziele noch nicht ganz konkret waren, änderte sich dies grundlegend mit der Geburt meines Sohnes Achille. Ich lebte von da an eigentlich nur für ihn. Ich stellte weder Ansprüche an besondere Kleidung, an ein extravagantes Essen, an luxuriöse Hotel- und Wohnverhältnisse usw. Nur die Musik und ihre finanziellen Einnahmen, die anfangs meinen Familienmitgliedern und irgendwann vor allem meinem Sohn zukommen sollten, standen im Mittelpunkt meines Lebens.
Zur „Geldsucht“ wäre noch folgendes zu sagen: Man sollte nicht vergessen, dass manche Orchester, einige Dirigenten und viele andere Institutionen versuchten, von meinen finanziellen Erfolgen auch zu profitieren. Das ließ ich immer so weit geschehen, solange es sich nicht zu meinem Schaden entwickelte. Meine Manager waren bestrebt, in ihrem und meinem Interesse maximale Gewinne zu erzielen – eine Forderung, die auch heute für einen Künstler völlig normal ist. Warum sollte ich mich für meine außerordentlichen virtuosen Leistungen unter Preis verkaufen? Künstler vor mir und während meiner Zeit praktizierten es nicht anders. Denken Sie nur an die damals berühmte Sängerin Angelica Catalani oder auch an Franz Liszt.
»Die 20.000 Francs, die ich Hector Berlioz schenkte, nimmt man mir nicht als noble Tat ab«
Welche Rolle spielten Benefizkonzerte für Sie?
Um den Anschein des Geizes nicht aufkommen zu lassen, war ich immer bestrebt, eigene Benefiz-Konzerte zu geben, bzw. mich an anderen Benefizkonzerten zu beteiligen. Allein in den Jahren 1828 bis 1834, als ich meine Europareise machte, war das mehr als 25-mal der Fall. Das Geld war u.a. für Bedürftige, für Opfer von Überschwemmungen, für ehemalige Theatermitglieder und für die Opfer der Cholera-Epidemie in Frankreich gedacht. So wanderten tausende Taler, Francs, Pfunds und sonstige Währungen aus den Taschen des Adels und der reichen Bürger aber auch vieler Musikinteressierter in die Beutel der Armen. Das große Benefizkonzert für die Cholerakranken in Paris 1832 war sicherlich auch ein Risiko für mich. Ich habe es dennoch überlebt. Die 20.000 Francs, die ich 1838 Hector Berlioz schenkte, nimmt man mir nicht als noble Tat ab, sondern eher als Versuch, von meinem Geiz abzulenken. Aber es war ehrlich gemeint. Ich war begeistert von den Werken Beethovens. Als ich nach Wien kam, war Beethoven leider schon tot. Ich sah einfach in Berlioz seinen Nachfolger. Und dabei lag ich 1838 gar nicht so falsch.
Signor Paganini, man warf und wirft Ihnen teilweise immer noch vor, die virtuose Seite in Ihren Kompositionen besonders in den Vordergrund zu stellen.
Wenn man spieltechnisch zu Dingen in der Lage ist, die bisher niemand oder nicht in dieser Art realisieren konnte, sollte man das einfach ignorieren? Wäre das nicht frevelhaft? Sicher gab es auch in meinem Schaffen Stücke, mit denen der Zuhörer hinsichtlich einer vielleicht übertriebenen Virtuosität überfordert war. Ich denke da an die Komposition O mamma mamma cara, hier auch bekannt unter Carneval in Venedig oder Der Hut, der hat drei Ecken. Hier habe ich nach anfänglichen Problemen beim Publikum dann einige Variationen weggelassen bzw. verändert. Das Werk wurde zu einem großen Erfolg. Aber im Gegensatz zu diesen virtuosen Stücken habe ich über hundert kleine und mittelgroße Kammermusikwerke geschrieben, von denen ein etwas routinierter Musikschüler eine Großzahl relativ mühelos spielen kann. Auch die langsamen Sätze meiner Violinkonzerte sind sehr lyrisch angelegt und stellen für den Virtuosen spieltechnisch nicht das größte Problem dar. Allerdings ist es sehr bedauerlich, dass bei einigen Kompositionen entweder alle Noten bzw. die Noten der Solovioline in den letzten 170 Jahren verloren gegangen sind. Das ist sehr bedauerlich. Leider kann ich da auch nicht helfen und sie neu komponieren.
Welche Ihrer Kompositionen haben sie am meisten geschätzt?
Nun, das ist so eine Sache. Ich war natürlich darauf angewiesen, mich dem Geschmack des damaligen Publikums zu beugen. Es ist durchaus möglich, dass das Publikum von heute ganz andere Werke von mir bevorzugen würde. Gegenwärtig haben die Musikwissenschaftler in Genua 140 Kompositionen in einem Werkverzeichnis, dem sogenannten M.S.-Verzeichnis, zusammengefasst. Da kommen sicher noch einige hinzu, die ich in Jugendjahren zerrissen habe, und einige andere verschollene Kompositionen. Von mir und auch vom Publikum waren zu meinen Lebzeiten besonders beliebt das Solostück Nel cor più non mi sento, das Violinkonzert Nr. 1 in D‑Dur (damals in Es-Dur bezeichnet, weil ich im Gegensatz zum Orchester meine Geige einen halben Ton höher stimmte), der Carneval in Venedig, die Sonata Militare (heute leider verschollen), Le Streghe und die Konzerte Nr. 2 (mit dem Glöckchen), Nr. 3 und Nr. 4. Unter den 140 Kompositionen befinden sich natürlich zahlreiche kammermusikalische Stücke, sowohl für Violine als auch für Gitarre, die ich gerne mochte, die aber außerhalb privater Konzerte kaum zur Aufführung kamen.
»Im 19. Jahrhundert gab es interessante Klaviervirtuosen. Ich beflügelte deren Virtuosität«
Signor Paganini, welches Verhältnis hatten Sie zu Komponisten Ihrer Zeit?
Ich betonte ja bereits, dass ich die Musik von Beethoven und Berlioz ganz besonders mochte. In den Monaten, als ich in Wien, Berlin, Paris und London weilte, traf ich mit zahlreichen, auch heute noch angesehenen Komponisten zusammen. Ich kann mich noch gut an das gemeinsame Spiel in privaten Soirées mit Felix Mendelssohn Bartholdy, mit Nepomuk Hummel und vielen anderen erinnern. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gab es ja interessante Klaviervirtuosen wie Herz, Moscheles, Kalkbrenner, Schumann, Chopin und nicht zuletzt Liszt. Sie haben mich in meinen Konzerten gehört und versuchten dann, teilweise mittels der bereits gedruckt vorliegenden 24 Capricci und anderer Werke, ihre Bearbeitungen und Variationen zu komponieren. Ich beflügelte sozusagen deren Virtuosität. Wenn ich in Wien 1828 gewusst hätte, was Franz Schubert bereits bis dahin komponiert hatte, wäre ein Treffen mit ihm sicherlich für mich auch sehr interessant gewesen. Aber ich wusste es nicht. Meine Musik war ja geprägt durch eine opernhafte Melodik, wie sie Rossini oder vielleicht auch Donizetti oder Mercadante bereits praktizierten. Diese Art lag mir besonders am Herzen.
Signor Paganini, was können Sie über Ihr Verhältnis zu Frauen sagen?
Mit dieser Frage hatte ich natürlich gerechnet. Wissen Sie, je besser ich Violine spielte, je öfter ich in großen Konzerten in Italien auftrat, je bekannter ich wurde, umso mehr stieg die Begeisterung für mich und mein Spiel und dies besonders in der Damenwelt. Über diese frühen Zeiten möchte ich mich aber nicht weiter äußern. 1824, ich war bereits über 41 Jahre alt, lernte ich die Sängerin Antonia Bianchi kennen und lieben. Aus dieser Beziehung ging mein einziger Sohn Achille hervor. Antonia Bianchi litt aber offensichtlich an einer Nervenkrankheit, die sich in heftigen Anfällen zeigte und das gemeinsame Leben sehr schwierig machte. Sicherlich hatte ich auch meinen Anteil an diesen Problemen. So kam es, dass ich mich 1828 in Wien von ihr trennte, ihr eine Summe von 2000 Scudi zahlte (entspricht heute ca. 100.000 Euro) und mich um meinen geliebten Achille von da an allein kümmerte.
Einige Monate später reiste mir in Deutschland eine Helene von Dobeneck hinterher, eine wunderhübsche junge Frau, die sich wegen mir sogar scheiden ließ, um mich dann zu heiraten. Ich wollte ihr aber damals mein unruhiges Leben in der Kutsche und in Hotels nicht zumuten. Und so gab es mehrere Frauen, die sich eine Ehe mit mir erträumten. Am Ende meiner virtuosen Laufbahn, 1834 in England, erlebte ich den Höhepunkt in dieser Hinsicht. Die Sängerin Charlotte Watson, mit der ich schon drei Jahre lang fast täglich in der Kutsche von Konzert zu Konzert reiste, hatte es mir angetan. Wir realisierten zusammen mit ihrem Vater und dessen Schülerin etwa 160 Konzerte. Es war durchaus verständlich, dass sich bei mir In dieser Zeit eine echte Zuneigung zu diesem jungen, hübschen Mädchen entwickelte, das damals 18 Jahre alt und damit 34 Jahre jünger war als ich. Als ich meinen Aufenthalt in England abschließen wollte, machte ich ihr ein Heiratsantrag. Sie nahm ihn an, aber ihr Vater verhinderte die Heirat. Die Zeitungen in England und Frankreich überschlugen sich mit bösartigen Berichten, vor allem wegen der angeblichen Entführung nach Frankreich und des Altersunterschieds. Übrigens erfuhr ich jetzt, dass zwischen Pavarotti und seiner letzten Frau der gleiche Altersunterschied bestand: 34 Jahre. Heute ist es vielleicht nicht alltäglich, aber dennoch kein Grund für einen derartigen Tumult. Trotz mehrmaliger ernsthafter Versuche gelang es weder mir noch meinem Sekretär, den Vater von Charlotte umzustimmen. Dass das kein Spiel oder Abenteuer meinerseits war, sondern auf einer echten Zuneigung basierte, wird auch dahingehend sichtbar, dass ich meinen Sekretär 1835 sogar nach New York schickte, um mit dem Vater von Charlotte noch einmal ernsthaft zu verhandeln. Vater und Tochter waren bereits kurz nach den Ereignissen nach Amerika ausgereist. Aber auch diese Gespräche führten leider nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Und damit blieb auch dieser letzte Versuch erfolglos. So widmete ich mich weiterhin ganz der Musik und meinem Sohn Achille.
Und wie gestaltete sich das gemeinsame Leben mit Ihrem Sohn?
Alle, die mich in den Jahren nach meiner Trennung von Antonia Bianchi kennenlernten, bestätigten, dass ich ein sehr inniges, liebevolles Verhältnis zu meinem Sohn hatte. Er begleitete mich ja auf fast allen Konzertreisen 1828 bis 1834. Ich bemühte mich, alle seine Wünsche zu erfüllen, spielte mit ihm und versuchte, soweit ich konnte, die Mutter zu ersetzen. Ich glaube, das ist mir auch gut gelungen. Denn Achille unterstützte auch mich, obwohl er ja noch ein kleiner Junge war. Da ich nur schlecht und leise sprechen konnte, wirkte er oftmals wie ein Übersetzer – so auch während meines Besuchs bei Goethe in Weimar. Die Begabung, so Violine zu spielen wie ich, war bei ihm nicht ausgeprägt. Erst meine Urenkelin Andreina (1901 bis 98) setzte die Tradition fort.
»Alle meine Kompositionen sind auf CDs eingespielt, erklingen aber nie in den Konzerten. Da besteht Nachholbedarf«
Signor Paganini, lassen Sie mich zum Schluss noch eine letzte Frage an Sie richten: Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen, wenn es um Sie, um den Namen Paganini und Ihre Kompositionen geht?
Das ist leicht zu beantworten. Es gibt zum Beispiel mehrere Paganini-Organisationen in Italien, die mit großem Engagement dabei sind, sich wissenschaftlich mit meinem Leben und meinen Kompositionen zu beschäftigen und sie zur Aufführung zu bringen. Darunter möchte ich vor allem die Organisation Amici di Paganini in Genua nennen, aber auch meinen Urururenkel in Parma, der den gleichen Namen wie ich trägt, Niccolò Paganini. Grundlegend kann man sagen: Fast alle meiner Kompositionen sind zwar auf CDs eingespielt, erklingen aber nie oder relativ selten in den Konzerten. Da besteht sicherlich ein Nachholbedarf. Vielleicht gelingt es auch, die noch verschollenen Werke wieder aufzufinden.
Erfreulich ist, dass sich aktuelle Publikationen mit meinem Leben beschäftigt haben und versuchen, mich realistisch darzustellen. Die – aus welchen Gründen auch immer – hergestellten Verbindungen zu meinem angeblich teuflischen Spiel oder Leben, ob in der Literatur oder in Filmen, verärgern mich nach wie vor. An dieser Verbindung zum Teufel habe ich wahrscheinlich selbst mit meinen Bemerkungen, meinem damals ungewöhnlichen Spiel und mit meinem dunklen, düsteren, vielleicht unheimlichem Auftreten beigetragen. Bemerkenswert für mich ist jedenfalls, dass mit dem Wort „Paganini“ heute ein Synonym entstanden ist, das für höchste virtuose Leistungen steht.
Signor Paganini, ich danke Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch.
Und ich danke Ihnen für diese seltene Gelegenheit, meine Gedanken und Gefühle im 21. Jahrhundert vorzutragen.