Oksana Lyniv
Vom Krieg und der Kunst
von Axel Brüggemann
10. Mai 2023
In Europa als Musikerin des Dialoges gefeiert, in der Ukraine durchaus kritisiert, weil sie Tschaikowsky spielt. Ein Gespräch mit Oksana Lyniv, wie der Krieg eine Künstlerin in die Verantwortung nimmt.
Frau Lyniv, es ist nicht lange her, dass Sie in Lviv eine moderne Mozart-Skulptur aufgestellt haben, was zu einem Streit zwischen den europanahen Kräften in der Ukraine und den Euro-Skeptikern geführt hat – damals haben Sie erklärt, dass die Debatte eine neue, offene Diskussionskultur widerspiegelt. Steht die Skulptur noch?
Oh ja, sie steht noch. Und die alten Diskussionslinien gibt es auch noch. Für einige in der Ukraine bin ich schon damals zu progressiv gewesen, und dadurch, dass ich mich dafür einsetzte, auch weiterhin Tschaikowsky zu spielen, sagen heute viele Leute: „Na ja, der Lyniv haben wir ja auch den hässlichen Mozart zu verdanken.“
Hat der Krieg die Ukraine in den Fragen der Kunst und Kultur nicht geeint?
Wir leben heute in einer vollkommen anderen Zeit. Momentan geht es um Leben und Tod. Der Krieg hat andere, existenziellere Fragen aufgeworfen. Die Menschen sterben, werden ermordet, sind verletzt. Und, natürlich, ein Großteil meines Landes ist näher an Europa gerückt. Aber jetzt geht es erst einmal darum, dass die Ukraine den Krieg gegen die Besatzer gewinnt, aber ich bin sicher, dass wir nach dem Krieg nicht daran vorbeikommen, auch die alten Debatten fortzusetzen.
Schauen wir noch einmal zurück: Am Anfang stand die Welt unter Schock. Sie persönlich haben viel gepostet, Bilder aus den Straßen von Kiew, von den Kriegsgreueln, von Ihrer Familie – gleichzeitig haben Sie sich weiter um Musik gekümmert. Wie würden Sie Ihre emotionalen Entwicklung des letzten Jahres zusammenfassen?
Seit dem ersten Tag des Krieges wurde mir noch einmal klar, dass die Musik meine wahre Welt ist – und was sie mir bedeutet. Am Tag des Kriegsausbruches fuhr ich gerade von Wien nach Bologna. Dort wurde ich vom Orchester empfangen, der Bürgermeister kam, die Leitung der Oper. Sie alle haben mir ihr Beileid und ihre Solidarität ausgesprochen. Der Orchestervorstand fragte: „Oksana, was sollen wir nun machen?“ Und es war mir noch in diesem Moment klar, dass wir sofort mit den Proben beginnen müssen, dass die Musik weiterspielen musste. Und tatsächlich sind dann alle Gefühle in der Musik herausgebrochen. Auf dem Programm stand Dvoraks 9. Sinfonie: eine Sehnsuchtsmusik aus der „Neuen Welt“, von der Freiheitsstatue, die ein Geschenk der Franzosen an die Amerikaner war – als Symbol der Demokratie! Der zweite Satz ist eine Art Hommage an die Unterdrückten, und da flossen natürlich bei uns allen die Tränen. Ich musste an meine Angehörigen denken, die vor den russischen Bomben in die Bunker flohen. Damals wurde mir ganz klar: Den Humanismus, den ich meine, kann ich am besten in der Musik ausdrücken. Sie ist auch eine Möglichkeit der Ordnung der Welt.
»Kunst ist für mich ein Raum, in dem menschliche Erlebnisse konserviert werden können.«
Kunst also als Möglichkeit des Hoffens auf eine bessere Zeit?
Auf jeden Fall ein Gegenentwurf zur Realität, in dem wir unsere Träume denken können. Ein Ideal, das aber mit unseren Traumata, Konflikten, dem Bösen und dem Hässlichen in Dialog treten kann. Kunst ist für mich ein Raum, in dem menschliche Erlebnisse konserviert werden können – weit über die Grenzen eines einzelnen Lebens hinaus. Deshalb stimmt das schon, was Sie sagen: In den ersten Tagen des Krieges ging es um die Fakten. Wie geht es meiner Familie? Wie kann ich Informationen sammeln und verbreiten? Ich habe unendlich viele Interviews gegeben. Aber gleichzeitig habe ich auch meine Rolle als Künstlerin gesehen, als Mensch, der die Möglichkeit hat, die Dinge in einem anderen Raum zu ordnen.
Gleichzeitig haben wir während des Krieges festgestellt, dass Kultur und Musik selbst zum Schlachtfeld werden können. Schnell kamen Fragen auf wie. „Wem gehört eigentlich Tschaikowsky?“ Sie haben sofort öffentlich geantwortet: „Uns allen!“ Dafür wurden sie in der Ukraine nun heftig kritisiert …
Für mich gab es nicht den Hauch eines Zweifels an der Tatsache, dass es falsch ist, wenn wir uns an der Kunst rächen. Aber ich habe auch gelernt, dass die Kunst in einem Krieg ein leichtes Opfer werden kann. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die Mendeleev-Tabelle zu verbieten – die russische Grundlagenforschung der Chemie, die bei Ihnen als „Periodensystem“ bekannt ist. Und natürlich hat keiner gesagt: „Verbieten wir die Anwendung des Periodensystems, weil es von Russen erfunden wurde.“ In der Kultur war das anders: Eine Tschaikowsky-Sinfonie war ein leichteres Opfer. Die Debatte, ob wir seine Musik noch spielen sollen, war für mich die schreckliche Erkenntnis, wie zerstörerisch Populismus sein kann und wie schnell selbst intelligente Menschen bereit sind, absurde Opfer zu fordern.
»Die Kunst kann im Krieg ein leichtes Opfer werden.«
Wir reden über Tschaikowsky, dessen Ferienhaus in der Ukraine eines der ersten Ziele russischer Bomben wurde …
Tschaikowsky wurde schon zu Lebzeiten in Russland kritisiert, weil er vielen Russen zu wenig russisch und zu europäisch war. Dann war er auch noch homosexuell. Er hat sich für europäische Sujets interessiert. Allein aus seiner Biographie müssten wir doch lernen: Große humanistische Kultur muss von allen Humanisten auf der Welt gespielt und, wenn nötig, auch gerettet werden. Aber es läuft noch immer eine Petition in Lviv, dass mir die Kulturbotschafter-Rolle aberkannt werden soll, weil ich mich für Tschaikowskys Musik einsetze. Allerdings wurden bislang nicht genügend Unterschriften gesammelt.
Ich hatte den Eindruck, dass Sie in dieser Debatte sehr viel Last auf Ihren Schultern gespürt haben.
Die Radikalität hat mich tatsächlich erschreckt, ebenso die persönlichen Angriffe, mit denen ich damals konfrontiert war. Gleichzeitig muss ich sagen, dass mir auch viele Kolleginnen und Kollegen geschrieben haben, sie seien meiner Meinung, hätten aber Angst vor einem Shitstorm.
Gleichzeitig haben Sie sich für das Jugendorchester der Ukraine eingesetzt: Da ging es nicht nur um Kultur, sondern auch um Hilfe für junge Menschen. Sie haben hier ganz konkret für die Existenz von Musikerinnen und Musikern gekämpft.
Es ging hier von einem Tag auf den anderen um ganz konkrete Hilfsmaßnahmen: Musiker müssen üben – wie geht das im Krieg? Wie konnte ich den Musikerinnen und Musikern in wirklicher Not helfen? Wir haben Gastfamilien gefunden, in denen sie mit ihren Familien unterkommen konnten. Es ging um Stipendien, Hochschulen und Professoren. Das Schöne an diesem Engagement ist, dass man sieht, wie groß die Solidarität und Hilfe ist, zum Beispiel auch von Anna Skryleva, der russischen Dirigentin, die derzeit in Magdeburg arbeitet: Sie hat uns sofort Hilfe zugesagt und junge Musiker in ihrem Orchester untergebracht. Einige spielen noch immer dort, im philharmonischen Repertorie und in der Oper. Und natürlich war das Bundesjugendorchester mit seinen Spenden eine gigantische Hilfe für uns, aber auch mit den persönlichen Kontakten. Ich kenne so viele Freundschaften, die sich zwischen ukrainischen und deutschen Musikern ergeben haben – und das zeigt, dass wir emotional durch diese schwere Zeit noch näher an Europa gerückt sind.
»Auch wir können die Musik als positive Kraft eines Wandels nutzen.«
Die Musik scheint in der Ukraine eine besondere Rolle zu spielen: Wir haben das Singen und Musizieren in den Bunkern gehört, gesehen, wie Menschen vor Ruinen Musik gemacht haben …
Tatsächlich spielt die Musik in meinem Land eine große Rolle, besonders das gemeinsame Singen. Erinnern Sie sich an die friedlichen Demonstrationen auf dem Maidan, als die Menschen gemeinsam gesungen haben, um ihre Angst zu vertreiben und ihrem Willen Ausdruck zu geben? Natürlich gibt es diese Tradition, und sie hält die Menschen – nicht nur in der Ukraine – zusammen.
Was wir auch feststellen ist, dass die Klassik ihre Unschuld verlieren kann, dass Kultur – aber auch Künstler – Teil der Propaganda werden können. War Ihnen in diesem Ausmaß klar, dass Kultur sich auch schuldig machen kann?
Das war mir eigentlich schon immer klar. Meine Arbeit vor dem Krieg – Sie haben von Mozart gesprochen – hat mir ziemlich deutlich gezeigt, wie wichtig die Kultur im politischen Kampf sein kann. Der Westen, auch die Ukraine, haben viel zu lang nicht begriffen, wie viel Geld Russland auch in die Förderung von Kultur und seiner Spitzenmusiker gesteckt hat. Und natürlich hat Putin Musiker damit auch zu „Leibeigenen“ seiner Ideologie gemacht. In der Ukraine haben wir dagegen vollkommen vergessen, Kultur als Möglichkeit der nationalen Identität zu verstehen und in sie zu investieren: in Stipendien, in ukrainische Projekte, in eigene Notenverlage. Aber leider hat das vor dem Krieg niemanden gekümmert. Und der Krieg stellt derzeit andere Fragen. Aber schon jetzt haben viele verstanden, dass auch wir die Musik als positive Kraft eines Wandels nutzen können.
… oder eben als Propaganda des Agressors. Waren viele Europäerinnen und Europäer in dieser Frage auch naiv?
Ich befürchte leider ja. Wir sehen jetzt ganz klar, wie viele Investitionen aus Russland in europäisches Kultur-Sponsoring geflossen sind. Das kam ja nicht über Nacht. Dahinter stecken langfristige Pläne und Strategien. Und es wäre naiv, da an Zufälle zu glauben.
»Ich wünsche mir, dass die Welt Musik meiner Heimat kennenlernt.«
Frau Lyniv, Sie haben erklärt, dass Ihnen mit Kriegsausbruch noch einmal bewusst geworden ist, dass die Musik Ihre eigentliche Heimat ist. Welche Hoffnungen verbinden Sie in diesen Tagen mit Ihrer Kunst?
Dass man mich in der der Ukraine weitgehend ausblendet, dass keine Zeitung über unser Jungendorchester berichtet, das hat mich zunächst getroffen, aber es wirft mich nicht aus der Bahn. Im Gegenteil: Es motiviert mich, Musik auch weiterhin als Vision zu begreifen, als Möglichkeit, für eine europäische Kultur tätig zu sein und natürlich für eine ukrainische als ein Teil der europäischen Kultur. Darin liegt mein Antrieb: Ich wünsche mir, dass die Welt Musik meiner Heimat kennenlernt. Die alten Polarisierungen, mit denen wir begonnen haben, werden sicherlich nach dem Krieg noch eine Rolle spielen. Aber jetzt hoffe ich erst einmal, dass der brutale Kampf endet – hoffentlich mit einem positiven Ausgang für die Ukraine. Und dann liegt es an uns, die nötigen demokratischen Debatten – auch in der Kultur – wiederaufzunehmen. Ich sehe ganz klar eine europäische Zukunft der Ukraine – mit dem Prinzip der Debatte, des Austauschs, der nationalen Individualität und des europäischen Geistes der Solidarität. Das ist meine große Hoffnung.