Leyla Gencer u.a.
Oper in der Türkei: Karriere statt Klischee
12. Juni 2014
Oper, Ballett und orchestrale Musik sind unter Recep Tayyip Erdoğan nur die Leidenschaft einer kleinen Minderheit in der Türkei.
Wenn von großer Oper die Rede ist, denkt man an Mailand und Wien, nicht aber an die Türkei. Serhan Bali, der Chefredakteur des türkischen Klassikmagazins Andante in Istanbul, gewährt uns einen Einblick in die Operntradition seines Landes.
Die Geschichte der türkischen Oper geht zurück bis in die Zeit des Osmanischen Reichs. Wir können das Jahr sogar genau benennen, in dem die westliche Musik die Türkei erreichte: 1826. Es war das Jahr, als Giuseppe Donizetti, der ältere Bruder des berühmten italienischen Opernkomponisten Gaetano Donizetti, von Sultan Mahmoud II. nach Istanbul eingeladen wurde. Er sollte eine neue Militärkapelle aufbauen – nachdem die Kapelle der türkischen Janitscharen abgeschafft worden war. Nach 1839 eröffneten Impresarios aus den Minderheiten-Gruppen zahlreiche private Theater, in denen viele Opern und Operetten auf dem Programm standen. Die Besucher dieser Häuser waren hauptsächlich Truppen aus Italien und Frankreich. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in der osmanischen Türkei nicht die geringsten Ambitionen, musikalische Konservatorien einzurichten, wie es sie zum Beispiel im zaristischen Russland gab.
Nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches war es der Gründer der „modernen Türkei“, Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), der es als Teil seiner Staatspolitik ansah, der westlichen Musik mit ihren Auftritts- und Ausbildungsinstitutionen auch in der Türkei einen Raum zu geben. Genauso wie die Deutschen und Österreicher, die direkt nach dem Krieg vor allen anderen ihre Opernhäuser wieder aufbauten, eröffnete auch Atatürk 1924, direkt nach Gründung der Republik, eine Schule für Musiklehrer in Ankara. Die ersten Absolventen – die ersten Opernsänger! – gingen ab 1936 auf das erste staatliche Konservatorium in Ankara.
Es war genau diese erste Generation von Sängern, die 1949 zur Keimzelle der Staatlichen Opern- und Ballett-Kompanie wurde. Mittlerweile hatte Atatürk bereits die erste türkische Oper, Öszoy von Adnan Saygun, in Auftrag gegeben. Bis in die 1990er-Jahre wurden fünf weitere Opernkampagnen in verschiedenen Städten der Türkei aus dem Boden gestampft, unter anderem in Istanbul. Sie alle standen unter dem Schutzschirm des „General Directorate of the State Opera and Ballet“, das zum Kultur- und Tourismusministerium gehört.
Die Tradition der Oper in der Türkei, mit all ihren Ausbildungsinstitutionen und künstlerischen Einrichtungen, ist jeder anderen Nation der östlichen Welt weit voraus. Oper und Ballett wurden, gemeinsam mit der sinfonischen Musik, zur kulturellen Priorität Nummer eins aller Regierungen nach Atatürks Tod. Es gab Zeiten, da waren die türkischen Politiker der Musikszene nicht sehr wohl gestimmt – aber auf die Idee, die Unterstützung der Oper und der Klassik zu unterlassen, kam niemand. Seit 2002 ändert sich das. Seit dann verschlechtert sich die florierende Musikszene – denn die Politiker der regierenden AKP-Partei haben keinerlei Wissen und Interesse an diesen sogenannten „westlichen Künsten“. Es sind die traditionellen türkischen Künste, wie die klassische türkische Musik und die islamischen bildenden Künstler, die auf ihrer Agenda wieder einen höheren Platz einnehmen. Das war nicht weiter schlimm – bis 2012 der Premierminister Recep Tayyip Erdoğan erklärte, dass alle künstlerischen Institutionen, inklusive Oper, Ballett, Sinfonieorchester und Theatergruppen, die dem Staat gehörten, privatisiert werden sollten. Ein Staat solle keine Theater betreiben, findet Erdoğan.
Trotz aller Reformen und Veränderungen war – und ist – Oper, Ballett und orchestrale Musik nur die Leidenschaft einer kleinen Minderheit in der Türkei. Die Gegebenheiten sind dabei nicht immer einfach: Klassikinteressierte in Istanbul sind genötigt, sich Opern im Süreyya-Opernhaus, einem kleinen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, anzuschauen – weit weg vom kulturellen Zentrum der Stadt, mit läppischen 600 Sitzplätzen. Die Bühne ist so klein, dass große Produktionen wie Aida hier überhaupt nicht aufgeführt werden können. Und das Ballett tanzt zu Playback-Musik. Wegen der Subventionen durch den Staat sind Operntickets in der Türkei relativ günstig im Vergleich zu allen anderen privaten Kunst-Events. Aber weil auch hier die Budgets klein sind (das Budget von 2013 für die Opernhäuser beträgt 70 Millionen Euro für alle sechs Häuser!), können kaum große ausländische Sänger eingeladen werden, und die meisten Produktionen werden ausschließlich von türkischen Sängern gestaltet.
Der Altersdurchschnitt des türkischen Publikums ist dagegen überraschend niedrig. Es gibt viele Besucher im Alterspektrum zwischen 18 und 40 Jahren. Das Alterslevel in den kleinen Opernhäusern ist sogar noch niedriger! Woran das liegt? Der Hauptgrund ist wohl der hohe Prozentsatz an jungen Leuten in der türkischen Bevölkerung. Die Inszenierungen in allen Opernhäusern der Türkei sind im Allgemeinen eher konservativ. Aber es gibt eine kleine Gruppe an Regisseuren (u. a. Yekta Kara, Mehmet Ergüven, Recep Ayyilmaz), die in jeder Saison wirklich sehenswerte Produktionen kreieren, die manchmal an den Grenzen des Regietheaters kratzen.
Die bekannteste türkische Opernsängerin mit einer großen Karriere war die Sopranistin Leyla Gencer (1928–2008). Sie war hochangesehener dramatischer Koloratur-Sopran und wurde oft als die Letzte der großen Diven bezeichnet – ihr Belcanto-Repertoire wurde mit den besten Sängerinnen verglichen, Maria Callas inklusive! Heute ist Gencer die größte Inspiration für alle jungen türkischen Opernsänger. Alle zwei Jahre findet in Istanbul ein Gesangswettbewerb statt, der ihren Namen trägt. Dabei hatten die meisten Menschen in der Türkei wenig Wissen über Leyla Gencer. Erst als der bekannte türkische Journalist Zeynep Oral eine Biographie über sie veröffentlichte, wurde sie zur Heldin unter den Opern-Liebhabern – wenngleich immer noch nicht unter der breiten Masse!
Heutzutage gibt es eine Fülle an jungen Türken, die ihre erste Gesangsausbildung in der Türkei bekommen haben, die in fremde Länder umsiedeln, um dort eine höhere Musikausbildung zu absolvieren. Diese Young-Stars kommen in der Regel nicht in ihr Heimatland zurück, sondern nutzen ihre Chancen in der Fremde. Und sie schlagen sich gut. Es gibt viele junge türkische Opernsänger in Opernhäusern überall in Europa – viele in Solo-Partien.
In dieser Hinsicht haben wir viel der Siemens Opera Competition zu verdanken. Der seit 1998 jährlich in Istanbul stattfindende Opernwettbewerb ist ein wichtiges Sprungbrett: In den letzten 15 Jahren hat dieser Wettbewerb viele türkische Opernstars hervorgebracht. Der Gewinner des Wettbewerbs bekommt die Möglichkeit, für ein Jahr am Opernstudio des Karlsruher Staatstheaters zu arbeiten. Der Zweitplatzierte bekommt sechs Monate Gesangsunterricht am Salzburger Mozarteum. Die Intendanten der Staatstheater von Karlsruhe und Nürnberg sowie dem Salzburger Landestheater sitzen jedes Jahr in der Jury des Wettbewerbs. Einige der Wettbewerbsgewinner haben es bis an die Metropolitan Opera in New York geschafft – und an die Mailänder Scala. „Was ist in der Türkei passiert, dass wir plötzlich mindestens einen türkischen Sänger in jedem Opernensemble haben, das wir besuchen?“ Diese Frage hört man unter europäischen Opernkennern neuerdings öfter.
Der erfolgreichste Gewinner der Siemens Opera Competition war sicherlich Burak Bilgili. Nach dem er den ersten Wettbewerb 1998 gewonnen hatte, stürzte er sich sofort in eine weltweite Karriere und wurde 2004 der erste türkische Opernsänger, der als Solist auf der Bühne der Metropolitan Opera in New York singen durfte (nicht einmal die Grand Dame Leyla Gencer hatte das vorher getan!). Die Sängerin Simge Büyükedes, Preisträgerin 2004, arbeitet nun mit Riccardo Muti in seinen Opernprojekten – genauso wie Asude Karayavuz, der 2005 den zweiten Platz belegte und nun als Solist von La Scala bis Valencia singt. Hale Soner, die Gewinnerin von 2004 ist Mietglied der Magdeburger Oper.
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Natürlich wurden nicht alle dieser jungen türkischen Sänger nur mit dem Preis der Siemens Competition ausgezeichnet. Güneş Gürle zum Beispiel ist Mitglied der Deutschen Oper am Rhein seit zehn Jahren und Mert Süngü singt als Mitglied des Jungen Ensembles auf der Bühne der Semperoper Dresden. Der Hans Gabor Belvedere Gesangswettbewerb, bei dem Gürle erfolgreich abschnitt, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, junge türkische Künstler der internationalen Opernwelt vorzustellen. Auch leben nicht all diese Gesangswettbewerbsgewinner außerhalb der Türkei – ein paar Dutzend von ihnen kommen nach der Ausbildung in Deutschland oder Österreich in ihr Heimatland zurück, um die Bühnen der türkischen Opernhäuser zu erobern.
Wenn wir auf das Repertoire blicken, für das die jungen türkischen Sänger in ihren Ensembles angefragt werden, können wir auf ein breites Spektrum schauen: Von Zerbinetta über Ariadne auf Naxos bis zu Ford in Falstaff, vom Cherubino in Mozarts Die Hochzeit des Figaro zu Riccardo Pery in Anna Bolena, von Fjodor in Boris Godunov bis Clorida in Il Combattimento di Tancredi e Clorinda – es gibt wirklich eine begeisternde, luxuriös große Auswahl an Rollen, die die jungen Türken singen können. Alle Intendanten von Deutschen Häusern, die ich im letzten Monat in Istanbul zum Gespräch traf, berichteten enthusiastisch von der Vielseitigkeit unserer Sänger. Natürlich gibt es immer wieder angesehene türkische Bässe, die traditionellerweise für die Rolle des Osmin in Die Entführung aus dem Serail gecastet werden – aber die Tage, in denen man die Türken nur brauchte, um die Klischee-Türkenrollen der Oper zu besetzten, sind lange vorbei!
Die große Operndiva Leyla Gencer wäre definitiv stolz auf ihre jungen Kollegen.