Kiewer Oper
Eine wechselvolle Geschichte, die zum Frieden mahnt
von Ruth Renée Reif
8. April 2022
Die Kiewer Oper wurde 1889 bis 1901 errichtet und erhielt den Namen von Taras Schewtschenko, dem Schöpfer der ukrainischen Literatursprache. 1992 wurde sie zur Nationaloper der Ukraine.
Kiew ist eine der ältesten Städte Osteuropas. Über Jahrhunderte hinweg spielte es eine führende Rolle im kulturellen Leben des ostslawischen Raumes. Das erste Kiewer Opernhaus wurde 1803 bis 1807 auf dem heutigen Europa-Platz errichtet. Der Platz, an dem seit der Kiewer Rus die Straßen der drei Stadtteile Obere Stadt, Podol und Petschersk zusammenliefen, hieß zu dieser Zeit Theater-Platz. Die Musikwissenschaftlerin Siegrid Neef beschreibt die Kiewer Rus als gemeinsame Wiege der russischen, belarusischen und ukrainischen Kultur. Die drei ostslawischen Völker seien im 13. Jahrhundert auseinandergerissen worden, als der durch feudale Fehden geschwächte Staat zersplitterte. Im Kiewer Opernhaus traten polnische und russische Theatertruppen auf, die Opern und Schauspiele zeigten.
1851 wurde das Haus wegen Baufälligkeit abgerissen und 1856 auf Befehl des Zaren Nikolaus I. westlich des Zentrums an der heutigen Kreuzung der Bohdan-Chmelnyzkyj-Straße und der Volodomirska-Straße das neue Städtische Theater mit 849 Sitzen erbaut. 1861 hob Zar Alexander II. im Russischen Reich die Leibeigenschaft auf, eine Reform, die auch das Kulturleben beeinflusste. Hatten zuvor Leibeigenenensembles fürstlicher Gutsbesitzer die Musikszene bestimmt, bildeten sich jetzt kommerzielle Operntruppen. So bestand das Orchester des Kiewer Opernhauses lange Zeit aus Musikern des ehemaligen Leibeigenenorchesters des Grafen Piotr Lopuchin.
Das erste ständige Opernensemble
Auch im neuen Opernhaus traten zunächst Wandertruppen auf. 1863 wurde die italienische Operntruppe des Impressarios Ferdinand Berger eingeladen. Sie gastierte drei Spielzeiten lang, wobei sie bereits in der ersten Saison 14 Produktionen zeigte. Ihr Erfolg war so groß, dass sie 1865 sogar den Sommer über spielte. 1867 aber wurde von der 1863 eröffneten Abteilung der russischen Musikgesellschaft ein ständiges Opernensemble gebildet. Es war das erste offizielle Theater, das in einer Provinz organisiert wurde. Nur zwei Operntheater im Russischen Reich existierten zu der Zeit, das in St. Petersburg und das in Moskau.
Das Operntheater – eine Erfolgsgeschichte
Die Eröffnung fand mit Alexei Werstowskis Oper Askolds Grab statt. Werstowski hatte für diese Oper nach einem Roman von Michail Sagoskin den Freischütz von Carl Maria von Weber zum Vorbild genommen, mit dem Ziel, „in die europäische Form den Charakter einer nationalen russischen Musik einzubringen“. Die Handlung spielt im mittelalterlichen Russland zur Zeit des Fürsten Swatoslaw Igorjewitsch. Die Geschichte dieses ständigen Operntheaters war eine Erfolgsgeschichte. Peter Tschaikowski äußerte sich als Kritiker begeistert über den gut organisierten Chor und die Balletttruppe. Gezeigt wurden Werke von Gioacchino Rossini, Giuseppe Verdi, Charles Gounod, Michail Glinka, Alexander Serow, Alexander Dargomyschki, Pjotr Tschaikowski, Nikolaus Rimski-Korsakow u.a. 1893 dirigierte Sergej Rachmaninow seine Oper Aleko. Zu den Sängern, die damals am Opernhaus auftraten, gehörten Fjodor Schaljapin und Fjodor Strawinsky, der Vater des Komponisten Igor Strawinsky.
1896 brannte das Opernhaus ab. 1889 bis 1901 wurde an seiner Stelle im Neo-Renaissance-Stil ein neues gebaut. Der Architekt war Viktor Schröter, ein Deutscher aus St. Petersburg. Die Einweihung erfolgte mit dem eigens für diesen Anlass geschriebenen Oratorium Kiew des schwedischen Komponisten Wilhelm HarteveId und der Oper Ein Leben für den Zaren von Michail Glinka. 1911 brachte die Operntruppe von Nikolai Sadowski aus Jelisawetagrad, der mit seinen Aktivitäten der nationalen ukrainischen Oper einen Platz zu erobern suchte, die musikalische Komödie Aeneas des russisch-ukrainischen Komponisten Mykola Lyssenko zur Aufführung. Lyssenko gilt als der Begründer der modernen ukrainischen Musikkultur. Sein Denkmal steht heute vor dem Operntheater.
Das Opernhaus als Schauplatz vorrevolutionärer Ereignisse
Am 1. September 1911 wurde das Opernhaus Schauplatz vorrevolutionärer Ereignisse. Auf dem Programm stand an diesem Abend Rimski-Korsakows Märchen vom Zaren Saltan. Der Vorstellung wohnten hohe Vertreter des zaristischen Russlands bei, die zur Enthüllung eines Denkmals von Alexander II. nach Kiew gekommen waren. Zar Nikolaus saß mit seinen Töchtern Olga und Tatjana und begleitet vom Kronprinzen Boris von Bulgarien in der kaiserlichen Loge, und der Ministerpräsident Pjotr Stolypin, der zu diesem Zeitpunkt beim Zaren bereits in Ungnade gefallen war, saß in einer der ersten Reihen des Parketts. Während der Pause stand Stolypin im Gespräch mit den Grafen Potocki und Fredericks vor dem Orchestergraben, als sich ein junger Mann im Frack näherte. Er zog eine Browningpistole, die er unter einem Programmheft versteckt gehalten hatte, und gab zwei Schüsse auf Stolypin ab. Der Attentäter Dimitri Bogrow war ein Doppelagent. Er hatte zuvor vor einer terroristischen Verschwörung gewarnt und sich erboten, den Attentäter aufzuhalten, wenn er auch eine Eintrittskarte erhalte.
Nach dem Bericht eines Augenzeugen schien Stolypin zunächst nicht zu begreifen, was vorgegangen war: „Er senkte den Kopf und starrte auf seinen weißen Uniformrock, der sich auf der rechten Seite, unterhalb der Brust, rot zu färben begann. Mit langsamen und sicheren Bewegungen legte er seinen Amtshut und seine Handschuhe vor sich auf die Brüstung, knöpfte den Rock auf und als er sah, dass seine Weste völlig blutdurchtränkt war, machte er eine Gebärde, als wollte er sagen: ‚Es ist vollbracht.‘
Glücklich, für den Zaren zu sterben
Dann sank er auf einen Stuhl und sagte laut und deutlich, mit einer für alle Umstehenden vernehmbaren Stimme: ‚Ich bin glücklich, für den Zaren zu sterben.‘“ Nikolaus, der das Geräusch der Schüsse gehört hatte, wusste ebenfalls nicht, was geschehen war: „Ich dachte, vielleicht ist jemandem ein Opernglas auf den Kopf gefallen“, berichtete er später seiner Mutter. „Frauen kreischten und direkt vor mir im Rang stand Stolypin … Langsam glitt er auf seinen Sitz und begann, seinen Rock aufzuknöpfen…“ Als Stolypin den Zaren sah, segnete er ihn mit einem weit ausholenden Kreuzzeichen.
Nach dem Zarensturz im Februar 1917 und der Oktoberrevolution wütete in Kiew von 1918 bis 1920 ein Bürgerkrieg, in dessen Verlauf 18-mal die Macht wechselte. Und abermals wurde im Opernhaus nicht nur auf der Bühne gemordet. Fanny Kaplan, die durch ihr gescheitertes Attentat auf Lenin Berühmtheit erlangte, versuchte, den Polizeihauptmann umzubringen. Am Ende der Kämpfe blieb die Rote Armee in Kiew siegreich und mit der Gründung der UdSSR 1922 erhielt die Ukraine den Status einer Unionsrepublik. Hauptstadt war jedoch zunächst Charkiw. Erst 1934 wurde Kiew die Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik.
Mykola Lyssenkos historische Oper Taras Bulba
Am Opernhaus, das seit 1919 den Namen Ukrainisch-Sowjetisches Karl-Liebknecht-Opernhaus trug, wurden neben dem klassischen Repertoire in den späten 20er-Jahren auch moderne Opern gespielt wie Eugen d’Alberts Tiefland, Alban Bergs Wozzeck oder Ernst Kreneks Johnny spielt auf. 1927 kam Mykola Lyssenkos historische Oper Taras Bulba nach einer Erzählung von Nikolai Gogol über den Befreiungskampf des ukrainischen Volkes gegen die polnische Herrschaft zur Aufführung.
In den 30er-Jahren legte der totalitäre Terror der Stalin-Herrschaft mit seinen Säuberungen und Hinrichtungen das kulturelle Leben weitgehend lahm. Bis 1937 ging Stalin gegen führende ukrainische Funktionäre vor, nachdem diese wegen der künstlich inszenierten Hungersnot von 1932⁄33 mit rund sechs bis acht Millionen Toten aufbegehrt hatten. Zu den Werken ukrainischer Komponisten, die in den späten 30er-Jahren am Opernhaus zu sehen waren, zählten u.a. Natalka Poltawka von Lyssenko, Georg und Der Goldene Ring von Boris Ljatoschinski sowie Der Saporoscher hinter der Donau von Semjon Gulak-Artemowski, die, 1863 entstanden, als die erste ukrainische Oper der Neuzeit gilt. 1939 nahm das Opernhaus den Namen des ukrainischen Freiheitsdichters und Schöpfers der ukrainischen Literatursprache Taras Schewtschenko an, dessen Büste über dem Haupteingang angebracht ist.
Evakuiert in Irkutsk
Am 22. Juli 1941 wurde Kiew von der deutschen Wehrmacht bombardiert. Bis 1943 ließen die Nationalsozialisten 100.000 Menschen – vorwiegend Juden – am Babij Jar erschießen. Weitere 100.000 Kiewer wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Nach dem Rückzug der Wehrmacht am 6. November 1943 lag die Stadt in Schutt und Asche. Die Oper war während des Krieges nach Irkutsk evakuiert.
Die erste ukrainische Oper nach dem Krieg mit dem Titel Die junge Garde schuf 1947 Julij Mejtus in Anlehnung an den Roman von Alexander Fadejew. Sie wurde im gleichen Jahr am Kiewer Opernhaus uraufgeführt. Die meisten ukrainischen Komponisten wandten sich in diesen Jahren dem Befreiungskampf zu. Auch Lyssenkos Taras Bulba wurde von dem Dichter Maxim Rylski und den Komponisten Boris Ljatoschinski und Lewko Rewuzkyi zu einer Parabel auf den Sieg über den Nationalsozialismus umgestaltet.
Während der folgenden Jahrzehnte standen nicht viele ukrainische Opern auf dem Spielplan. Nur Taras Bulba tauchte immer wieder auf. Das Opernhaus strebte nach internationaler Reputation und entsprechend dominierte das klassische Repertoire. Vor allem Verdis Opern erfreuten sich großer Beliebtheit. 1965 wurde Dmitri Schostakowitschs Oper Katerina Ismailowa gespielt. Schostakowitsch war bei der Première anwesend und offenbar so begeistert, dass er die Kiewer Oper auch für die Verfilmung seiner Oper wählte. Bereits im selben Jahr überrollte die Ukraine eine neue Welle politischer Verfolgungen, der in den 1970er-Jahren eine Periode kultureller Stagnation folgte.
1988 wurde das Opernhaus umgebaut und die Bühne vergrößert. 1991 erlangte die Ukraine staatliche Selbstständigkeit, und im Jahr darauf wurde die Kiewer Oper zur Nationaloper der Ukraine.
Fotos: Taras Shevchenko National Opera and Ballet Theatre of Ukraine / Публічна оферта
Weitere Informationen über die Geschichte der Kiewer Oper unter: opera.com.ua