Pierre Cardin
»Der größte Sozialist unter den Kapitalisten«
von Ruth Renée Reif
1. Juli 2022
Pierre Cardin war ein Visionär. Er wirkte als Couturier, Designer, Unternehmer und Mäzen. Am 2. Juli 2022 jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal.
Geometrische Klarheit und eine futuristische Aura kennzeichnen die Mode von Pierre Cardin. „Kleider für ein Leben zu schaffen, das es noch gar nicht gibt – für die Welt von Morgen“, formulierte er sein Credo. „Meine Mode drückt nicht den Zeitgeist aus, sondern die Gedanken und die Haltung einer Epoche. Ich schaue nicht zurück, sondern nach vorne.“
Der Kreis als Symbol der Unendlichkeit war seine zentrale Form. „Ich bin ein Pierrot lunaire, der vom Kosmos fasziniert ist“, sagte er von sich. „Der Mond, die Sonne, die Erde sind reine Kreationen, grenzenlos, ohne Anfang und Ende.“
Wie Plastiken wirkten eine Kleider, die er entwarf, und so verstand er sie auch: „eine architektonische und plastische Konstruktion“. Entsprechend fertigte er sie an. Entwürfe zeichnete er kaum, sondern arbeitete wie ein Bildhauer mit der Schere direkt am Modell.
Nach Lehrjahren in den Häusern von Jeanne Paquin, Elsa Schiaparelli und Christian Dior gründete Pierre Cardin 1950 sein eigenes Modehaus. 1953 brachte er seine erste Haute-Couture-Kollektion heraus. Im Jahr darauf sorgte er mit dem Ballonkleid für Aufsehen.
1959 stellte er im Pariser Kaufhaus Au Printemps die erste Prêt-à-porter-Kollektion der Modegeschichte vor. Im Jahr darauf ließ er seine Prêt-à-porter-Kollektion für Herren folgen. Mode für die Massen wollte er kreieren. „Der Faktor Multiplikation ist für mich sehr bedeutend“, erläuterte er und betonte: „Ich bin der größte Sozialist unter den Kapitalisten.“
Die Kunst nannte er neben der Arbeit seine große Leidenschaft. Bevor er seinen Weg als Couturier beschritt, arbeitete er als Kostüm- und Maskenbildner. Als er 1944 beim Modehaus Jeanne Paquin angestellt wurde, entwarf deren Nachfolger Antonio Castillo die Kostüme für Jean Cocteaus Film La belle et la bête, und Pierre Cardin wurde mit der Ausstattung des Biests betraut.
1970 pachtete er in Paris das Théâtre des Ambassadeurs und verwandelte es in den Espace Pierre Cardin. Bis 2016 war er ein Ort, in dem Neues interdisziplinär erfahrbar werden sollte. Der Regisseur Robert Wilson, die Sopranistin Kiri Te Kanawa, der Pianist Ivo Pogorelich und die Primaballerina Maja Plissezkaja gehörten zu den gastierenden Künstlern.
Mit der Ausstellung „30 Jahre Design Pierre Cardin“ im Metropolitan Museum in New York begann 1980 eine Reihe von Retrospektiven in allen Metropolen der Welt.
Mit zahlreichen Preisen wurde Pierre Cardin für sein Werk ausgezeichnet. Dreimal, 1977, 1979 und 1982, erhielt er den Dé d’or de la haute couture, den Goldenen Fingerhut der französischen Haute Couture. Und 1992 fand er als erster Couturier Aufnahme in die französische Akademie der Schönen Künste.
Das unternehmerische Geschick von Pierre Cardin, der es verstand, seine Ideen kommerzielle überaus erfolgreich umzusetzen, ermöglichte ihm den Kauf besonderer und sagenumwobener Gebäude. 1981 erwarb er in Paris das unter Denkmalschutz stehende Art-Nouveau-Restaurant Maxim’s und schuf daraus eine weltweit erfolgreiche Marke, unter der von Abendroben über Boutiquen bis zu Hotels und Schiffen ein Imperium an Produkten firmierte.
In den späten 1980er-Jahren kaufte er das von dem Architekten Antti Lovag entworfene Palais Bulles im südfranzösischen Massif de l’Esterel bei Théoule-sur-Mer. „Mich fasziniert die architektonische Konzeption“, schwärmte Pierre Cardin. „Alles ist rund, ohne Ecken und Kanten.“ Le Palais Bulles, das übrigens erneut zum Verkauf steht, stellt eine amorphe Ansammlung von 25 Betonkugeln dar, die an einer radialen Konstruktion befestigt sind.
Zudem war Pierre Cardin der Besitzer des Palais von Giacomo Girolamo Casanova in Venedig, und 2001 erwarb er das Schloss von Marquis de Sade in Lacoste. Bevor er 2020 im Alter von 98 Jahren starb, betraute er seinen Großneffen Rodrigo Basilicati mit seiner Nachfolge.