Ragnhild Hemsing
Volkstanz on Ice
von Corina Kolbe
11. März 2024
Die Geigerin Ragnhild Hemsing spielt neben der klassischen Violine auch die alte Hardangerfiedel - und hebt die Folklore aus ihrem Heimatdorf in Norwegen in die musikalische Moderne.
Im Winter fühlt man sich in dieser Gegend wie in einem Wunderland: Die norwegische Landschaft versinkt im Schnee, riesige zugefrorene Seen und Bäume, von deren Ästen Eiszapfen wie erstarrte Wasserfälle herabhängen sind fast klirrende Zeugen der Kälte. Das idyllische Dorf Aurdal rund 160 Kilometer nördlich von Oslo zieht in der frostigen Jahreszeit nicht nur Skitouristen an – es ist seit inzwischen zehn Jahren auch Heimat eines kleinen Kammermusik-Festivals der Geigerin Ragnhild Hemsing und ihrer Schwester Eldbjørg, das viele internationale Gäste anlockt.
„Wir sind in Aurdal aufgewachsen, inzwischen lebe ich mit meinem Mann und unseren Kindern wieder hier“, sagt Hemsing, die früh mit Musik in Berührung kam. „Meine Mutter ist Violinpädagogin und meine Schwester und ich haben sie von klein auf zu vielen Konzerten begleitet, die sie mit anderen Musikern in der Region gab. Unser Vater war oft als Förster in den Bergen unterwegs, und Babysitter waren schwierig zu finden. Für uns war es also eine ganz natürliche Sache, bei Proben und Auftritten dabei zu sein.“
Mit fünf Jahren begann sie selbst Geige zu spielen, studierte später in Oslo und Wien, bevor sie als Solistin mit Orchestern im In- und Ausland auf die Bühne ging. Den starken Bezug zu ihrer Heimat Norwegen hat sie darüber nie verloren. Dabei ist es vor allem die Volksmusik, die eine große Faszination auf sie ausübt. „Unsere musikalische Tradition ist lebendig geblieben, bei Konzerten kommen alle Generationen zusammen. Folklore und klassische Musik sind für mich eng miteinander verbunden. Ich verstehe nicht, warum manche Leute immer noch einen Unterschied zwischen ‚E‘- und ‚U‘-Musik machen.“
»Folklore und klassische Musik sind für mich eng miteinander verbunden«
Nach den eigenen Wurzeln zu suchen mag im Zusammenhang mit Volksmusik ein wenig verstaubt klingen, ist es aber mitnichten! Immer wieder stellt die Geigerin eindrucksvoll unter Beweis, dass ein künstlerisch unverkrampfter Umgang mit musikalischer Tradition auch etwas überraschend Neues hervorbringen kann. So erklang Edvard Griegs Bühnenmusik zu „Peer Gynt“ im vergangenen Winter einmal ganz anders als gewohnt: In einer schönen Holzkirche aus dem 18. Jahrhundert, dem Wahrzeichen von Aurdal, führte Ragnhild Hemsing die bekannte Suite in einem modernen Arrangement gemeinsam mit den Trondheim Soloists auf und spielte dabei neben ihrer Violine auch die Hardangerfiedel. Grieg hat zwar nie für dieses alte Instrument aus dem Süden Norwegens komponiert, er ließ sich aber von dieser Musik beeinflussen, in „Peer Gynt“ beispielsweise deutlich im Vorspiel „Morgenstimmung“ zu hören. Hemsing ist es gelungen, den urwüchsigen Klang der Fiedel zu neuem Leben zu erwecken.
„Neben der klassischen Violine auch die Hardangerfiedel zu spielen und in beiden Genres zu Haus zu sein, hat meine musikalische Identität geprägt“, denkt sie zurück. Auf das Publikum aus dem Ausland mag die Hardangerfiedel recht exotisch wirken. Und eigentlich ist sie auch gar keine richtige Fiedel, sondern eine Kastenhalslaute, die der Violine ähnlich ist. „Ich würde sie mit der Barockgeige oder der Viola da gamba vergleichen. In jedem Fall ist die Spieltechnik ganz anders als bei einer Violine“, meint Hemsing. „Das älteste erhaltene Instrument stammt aus dem 17. Jahrhundert. Und noch immer gibt es Leute in Norwegen, die die Hardangerfiedel spielen.“ Und es ist schön, die alten Melodien von anderen zu lernen. Das gelingt, indem wir ihnen zuhören und sie imitieren. Eine solche Musik spielt man nicht einfach vom Notenblatt“, erklärt sie. „Ich versuche die Tradition fortzuführen, zugleich möchte ich das Instrument in einem modernen Rahmen präsentieren und meine eigenen Gedanken in die Musik hineinbringen.“
»Ich versuche die Tradition fortzuführen, zugleich möchte ich das Instrument in einem modernen Rahmen präsentieren«
Wie das klingt, kann man nun auf ihrem neuen Album „Vetra“ hören, was im Dialekt der Region Valdres, zu der Aurdal gehört, das Wort für „Winter“ ist. Auch das macht die Künstlerin Hemsing aus: Ihr ist wichtig: diese Mundart zu pflegen, entsprechend wird auf ihrem Festival weitgehend im Dialekt kommuniziert. Und selbst die Quellen für „Vetra“ sind der Tradition verschrieben: „Ich habe vor allem Stücke ausgesucht, die der norwegische Komponist und Volksliedsammler Ludvig Mathias Lindeman im 19. Jahrhundert zusammengetragen hat. Einige davon haben einen Bezug zum Winter – man fühlt sich durch die Melodien etwa an Kirchen- oder Schlittenglocken erinnert“, erzählt sie. „Vieles aus seiner riesigen Sammlung war bisher gar nicht veröffentlicht. Interessant ist dabei auch, dass es von den Liedern, die Lindeman in der Region gefunden hat, viele Varianten gibt. Es ist faszinierend, wie eine bestimmte Melodie von einem Tal zum anderen wandert und sich dabei stark verändert. Eine gelangte im 17. Jahrhundert sogar von Deutschland nach Valdres. Mit manchen Melodien bin aufgewachsen, ohne ihre lokalen Ableger zu kennen.“
Dass Hemsing auch selbst komponiert, unterstreicht ihr Engagement für die traditionelle norwegische Musik noch weiter. Ihre eigenen Stücke, die auf dem Album zu hören sind, sind ebenfalls deutlich hörbar von der Volksmusik inspiriert. Der Komponist Tormod Tvete Vik, mit dem sie bereits bei dem „Peer-Gynt“-Projekt zusammenarbeitete, hat das traditionelle Repertoire für Hemsing und die anderen beteiligten Musiker neu arrangiert. „Es ist deshalb für mich ein sehr persönliches Album – wir haben jedes Stück sorgfältig ausgewählt.“ Der erste Titel, der von einem Sonnenaufgang handelt, versetzt in die magische Atmosphäre eines Wintermorgens. „Es ist bitterkalt, aber man ist gemütlich zu Hause, entzündet ein Kaminfeuer – und hört dazu diese wundervolle Melodie. Für mich symbolisiert sie einen Aufbruch, einen aufregenden Neubeginn.“ Ob damit auch ihre eigene künstlerische Handschrift gemeint ist?
»Wir wollen nicht nur Konzerte geben, sondern auch ein reiches Kulturerbe bewahren«
An einem klaren Wintertag in Aurdal taucht die Sonne die schier endlose Schneelandschaft in ein gleißendes Licht. Anders als in den nasskalten Wintern Deutschlands friert man hier kaum, selbst wenn die Temperaturen weit unter dem Nullpunkt liegen. Wirklich außergewöhnlich ist, dass Konzertbesucher auf geführten Skitouren zu den Aufführungsorten mitten in der Natur, zum Beispiel auch in einem nachgebauten Iglu, fahren können. Um sich zwischendurch mit typischen Spezialitäten wie „Rakfisk“, in Salzlake fermentierte Forellen, zu stärken. Dass Jazzperkussionist Terje Isungset, der ebenfalls auf dem neuen Album zu hören ist, auf Instrumenten aus purem Eis spielt, ist nicht weniger bemerkenswert. Und so fasst Ragnhild Hemsing schließlich zusammen: „Mit dem Festival sind wir zu unseren Wurzeln zurückgekehrt. Wir wollen nicht nur Konzerte geben, sondern auch ein reiches Kulturerbe bewahren.“