Reinhard Goebel
»Unbekanntheit ist kein Wert an sich«
von Ruth Renée Reif
31. Juli 2022
Reinhard Goebel ist ein Meister der historisch informierten Aufführungspraxis. Anlässlich seines 70. Geburtstages am 31. Juli 2022 erscheint eine Box sämtlicher Aufnahmen seiner Musica Antiqua Köln.
CRESCENDO: Herr Professor Goebel, als immer auf der Suche nach bereicherndem akustischen Neuland beschreibt man Sie. Wie kam es, dass Sie dieses Neuland in der Alten Musik fanden?
Reinhard Goebel: Das ist ingenium und begann schon in meiner Schulzeit. Ich war in einer Klasse mit Kindern von Ärzten und Juristen, die traditionell Geige oder Klavier lernten und auf Brahms-Sonaten aus waren. Die konnte ich gar nicht ertragen. Mein Interesse galt den Werken Heinrich Ignaz Bibers. Auch während meines Studiums achtete ich darauf, Stücke einzustudieren, die nicht alle Welt spielte. Beethovens Frühlingssonate oder seine Kreutzersonate war nichts für mich. Ich spielte die Violinsonaten von Mendelssohn Bartholdy und Richard Strauss. Und dieser Wunsch nach Recherche und intensiver Auseinandersetzung mit unbekannten und weniger bekannten Werken verstärkte sich im Laufe der Jahre.
Aber warum richtete sich Ihr Interesse ausgerechnet auf das 17. Jahrhundert? Was fasziniert Sie an den barocken Kompositionen?
Das 17. Jahrhundert erlangte während meiner geigerischen Karriere diese Wichtigkeit, weil ich glaubte, ein Lehrer der Nation sein zu dürfen. Ich wollte dem Publikum zeigen, wo Bachs musikalische Wurzeln liegen und seine Verbindungen zu Claudio Monteverdi und den frühen italienischen Komponisten offenlegen. Wir können Bach nur verstehen, wenn wir uns mit dem 17. Jahrhundert befassen, in dessen Musik er aufgewachsen ist und das seine Inspirationsquellen bildet. Das 17. Jahrhundert war nicht zu Ende, als Bach sich zum selbstständigen Komponisten entwickelte. Im Grunde begann das 18. Jahrhundert verspätet 1710 mit Antonio Vivaldis Zyklus L’Estro Armonico und kam verfrüht zum Abschluss mit der Französischen Revolution 1789.
Reinhard Goebel und die Musica Antiqua Köln spielen Johann Sebastian Bachs Dritte Orchestersuite BWV 1068
Als Zentren des Barocks in der abendländischen Musik werden Italien, Frankreich, England und Deutschland aufgeführt. Aber wie sieht es im Osten Europas aus?
Es gibt keine Barockmusik von Belarusen, Litauern oder anderen Osteuropäern. Da brauchen wir auch gar nicht zu suchen. Die Folklore des Ostens wurde im 17. Jahrhundert in Programmmusiken eingearbeitet, allerdings unter pejorativen Vorzeichen. Der erste Komponist, der Tscheche sein durfte, war Jan Dismas Zelenka. Erst im 19. Jahrhundert fand eine Wiederentdeckung der eigenen Kultur statt. Polen spielte zwar im 17. Jahrhundert eine große Rolle, als es mit Schweden, dem Osmanischen Reich, Russland und anderen Krieg führte. Aber die politischen Verhältnisse waren dermaßen instabil, dass keine Musik entstand. Inter armes silent musicae. – Wenn die Waffen klingen, schweigen die Musen.
Anlässlich Ihres 70. Geburtstages veröffentlichen Sie eine Box mit 75 CDs und sämtlichen Aufnahmen der von Ihnen gegründeten Musica Antiqua Köln. Wenn Sie aus heutiger Sicht auf diesen Weg zurückblicken, wie empfinden Sie ihn?
Das war eine wunderbare Zeitreise von den tastenden Anfängen bis zur reichen Erfahrung. Furtwängler sagte einmal über sich, er sei kein Musikwissenschaftler und begebe sich nicht auf Erkundung fremder Welten, sondern spiele immer die gleichen Werke, weil die so schön seien. So unterschiedlich sind die Menschen. Für mich wäre das kein Lebensrezept. Sobald ich ein Thema abgeschlossen habe, suche ich nach Neuem.
»Zwischen Mozart und Beethoven klafft eine riesige Lücke an Violinkonzerten.«
Im Zuge dieses Wirkens haben Sie einige Komponisten wiederentdeckt und zahlreiche zurück ins Bewusstsein gehoben …
Dieses Kompliment muss ich an die Musikwissenschaftler weitergeben. Als Praktiker komme ich in kein Magazin einer Bibliothek hinein. Für meine Suche kann ich nur musikwissenschaftliche Schriftstücke studieren und daraus Hinweise entnehmen oder in der digitalen Dokumentation RISM-OPAC Handschriften und Druckausgaben durchsehen.
Auf welche Weise gehen Sie dabei vor? Wie muss eine Komposition beschaffen sein, um Ihr Interesse zu wecken?
Der Prozess gestaltet sich immer wieder anders. Wenn ich nach einem Violinkonzert suche, weckt Vivaldi nicht mehr meine Aufmerksamkeit. Franz Joseph Clement dagegen schon, ebenso Johann Friedrich Eck, ein Zeitgenosse Mozarts. Das Werk darf nicht schon Teil des Repertoires sein, und es muss eine Insel bilden, auf die wir drauftreten können, um zu Beethoven zu kommen. Zwischen Mozart und Beethoven klafft in unseren Repertoires eine riesige Lücke an Violinkonzerten. Unsere Orchester spielen kein Konzert von Giovanni Battista Viotti, keines von Ignaz Pleyel und keines von Clement. Diesen Freiraum in der musikalischen Entwicklung versuche ich zu schließen. Zum anderen suche ich interessante Stücke mit programmatischen Inhalten und Intentionen, die Erstaunen wecken, wie etwa die Grande sinfonie caractéristique pour la paix avec la République française von Paul Wranitzky oder die Trauermusik auf Louis XVI. von Georg Joseph Vogler. Da stört es mich auch nicht, wenn sie ein wenig kitschig klingt.
»Klangorgien, voluminöse, groß besetzte Werke reizen mich.«
Inwieweit beziehen Sie die neuen technischen Möglichkeiten wie etwa die semiautomatische Stilanalyse in Ihre Recherchen ein?
Wir haben enorm viel anonym überlieferte Musik. Diese Analysen, die eine Zuordnung ermöglichen, sind großartig. Ich kenne sie seit 30 Jahren. Es gibt einen Zyklus von Haydn zugeschriebenen Quartetten, der von Franz Anton Hoffmeister oder dem Amorbacher Mozart stammt. Indem man jede Veränderung innerhalb eines Taktes mit einem Parameter versah, konnte man feststellen, dass die Quersumme eines Taktes der von Haydn komponierten Quartette 380 beträgt. Bei den unechten Haydn-Quartetten liegt sie bei 170. Ich liebe Georg Philipp Telemann über alles. Aber er hat nur 160. Bach dagegen erreicht ebenfalls 380.
Das heißt, im Vordergrund steht die Qualität der Musik…
Unbekanntheit ist kein Wert an sich. Bei der Recherche für die Musica Antiqua Köln waren es die Klangorgien, voluminöse, groß besetzte Werke mit drei Geigen und vier Bratschen, die mich reizten. Grifftechnisch sind sie nicht schwer zu spielen. Da beim fünf- und siebenstimmigen Satz aber eine oder zwei Noten immer verdoppelt sind, stellt die Intonation eine Herausforderung dar. Artistische Freiheit und künstlerische Bildung entscheiden darüber, ob ein Heinichen-Concerto-grosso erfolgreich wird. Wenn man Takt für Takt die Brandenburgischen Konzerte analysiert, kann man ein Gefühl für künstlerische Gestaltung erlangen.
»Ich suche die historische Richtigkeit.«
Wie begreifen Sie aus dieser Perspektive die historisch informierte Aufführungspraxis?
Das ist ein weiter Begriff, und er umfasst für mich mehr, als die erste und zweite Generation darunter verstand. Wenn ich mich in der dritten Generation verorte, dann gab es vor mir die zweite Generation meiner Lehrer, die von der Schallplatte lebte. Die hing dem Fetisch der Originalinstrumente an. Sie spielte langweilig und bräsig, aber auf alten Instrumenten. Die erste Generation, der etwa August Wenzinger angehörte, war dagegen toll. Meine Lieblingsstadt Köln nahm mit der Cappella Coloniensis, dem 1954 vom WDR gegründeten Barockorchester, eine führende Position darin ein. Für mich ist die historisch informierte Aufführungspraxis ein Fass ohne Boden. Man muss sich die Werke stets erneut vornehmen und befragen, wobei auch viele Fragen offenbleiben. Ich habe Musikwissenschaft studiert, erarbeite meine Interpretationen und Deutungen selbst und gehe an diese Alte Musik immer wieder neu ran. Die Fachfragen werden zunehmend feiner. Wir fragen, wie die Aufführungskonditionen waren, wie die Balance des Orchesters aussah, an welcher Stelle die Sänger standen, wo sich der Chor befand und ob es überhaupt ein Chor war. Für meine Studenten habe ich Methoden entwickelt, in ein Stück hineinzuschauen und es in ein Koordinatensystem einzubauen.
Roger Norrington meinte, es gehe ihm nicht um historische Richtigkeit, sondern darum, die Musik aufregender klingen zu lassen…
Er sei kein Museumsrestaurator, erklärte auch Harnoncourt. Ich empfinde mich nicht als Unterhalter, sondern bin gern Museumsrestaurator. Mir geht es darum, die Schmutzschicht abzukratzen, das Gemälde freizulegen und das Werk einigermaßen so darzubieten, wie der Komponist es intendiert hat. Ich suche die historische Richtigkeit. Alles andere wäre mir zu billig.
In der Literatur heißt es, jede Generation brauche ihre Übersetzungen. Und darum sind Romanen fremdsprachiger Schriftsteller oft eine lange Wirkungsgeschichte beschieden, weil sie immer wieder neu übersetzt werden in die gegenwärtige Sprache…
Natürlich besteht in den Interpretationen ein zeitgenössischer Bezug, da die Musik von heutigen Menschen gespielt wird. Als performative Künstler können wir uns nicht zurücknehmen. Die Alte Musik enthält zahllose Einflüsse aus der modernen Musik, und sie spricht uns auch nur deshalb an, weil wir mit zeitgenössischen Mitteln arbeiten.
1968 brachte die amerikanische Komponistin Wendy Carlos eine LP mit Werken von Bach heraus, die sie auf einem Moog-Synthesizer eingespielt hatte. Wäre das ein Weg in die Zukunft, oder wo sehen Sie den zukünftigen Weg der historisch informierten Aufführungspraxis?
Diese Platte habe ich rauf und runter gehört. Die war toll! Die Transkriptionen der Swingle Singers fand ich idiotisch, und mit Jacques Loussiers „Plays Bach“ aus dem Jahr 1996 konnte ich nichts anfangen. Entweder Synthesizer oder Harnoncourt!
Wie stellt sich die Szene der Alten Musik dar? Besteht Einigkeit, oder gibt es Kontroversen? Finden Diskussionen statt über die Zukunft?
Nein, man hat einen Freundeskreis, mit dem man arbeitet und sich austauscht. Gegenüber anderen bestehen starke Absetzungsbewegungen. Ich bin ja ein schwarzes Schaf in dieser Gemeinde, weil ich elitär bin und keinerlei Hemmungen habe, mit Musikern zu konzertieren, die auf modernen Instrumenten spielen. Ich arbeite mit den Berliner Philharmonikern und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Was kann einem Besseres passieren!
Und welche künstlerischen Pläne haben Sie für die Zukunft?
Mein Buch über die Brandenburgischen Konzerte habe ich gerade abgeschlossen. Mein nächstes Buch Die Methode zu spielen, an dem ich arbeite, ist eine Auseinandersetzung mit meinen 50 Jahren Erfahrung im Umgang mit Alter Musik und dem Quellenstudium. Im Herbst spiele ich mit meinem Lieblingsensemble, den Berliner Barocksolisten, ein Bouquet italienischer Konzerte mit vier Geigen auf CD ein. Ich habe schon einmal die Musica Antiqua bei diesen Konzerten dirigiert. Wir erstellen ein Duplikat davon. Aber ich habe noch ein großes neues Konzert für vier Violinen und Orchester von Giuseppe Sammartini, dem Lehrer von Johann Christian Bach, für die Berliner Barocksolisten entdeckt.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Reinhard Goebel auf: reinhardgoebel.net