Rémy Ballot

Die Musik mit neuen Augen sehen

von Christoph Schlüren

18. Juli 2021

Rémy Ballot war auf dem besten Wege, eine Karriere als Geiger zu machen. Da traf er Sergiu Celibidache, griff fasziniert zum Taktstock und wurde zu einem der besten Dirigenten unserer Zeit.

Es war ein ganz spon­taner Entschluss, mit Rémy Ballot reden zu wollen. Ahnungslos hatte ich seine jüngsten Alben – ein Programm mit klas­si­schen Sinfo­nien sowie Anton Bruck­ners Streich­quin­tett und -quar­tett – einge­legt und war wie vom Donner gerührt. Einen so guten Mozart und Haydn wie hier vom Klang­kol­lektiv (die Jupiter-Sinfonie und Die Uhr) habe ich seit Jahr­zehnten von keinem Orchester gehört, beim Bruckner-Quin­tett handelt es sich schlicht um die beste Aufnahme, die je von dieser verkappten Sinfonie gemacht wurde.

Rémy Ballot probt bei den St. Florianer Bruck­ner­tagen im Stift St. Florian Anton Bruck­ners Achte Sinfonie.

Also auf nach Wien! Dort hat der fran­zö­si­sche Geigen­vir­tuose und Diri­gent seit nunmehr fast zwei Jahr­zehnten seine Heimat gefunden, und in seinem vor gut drei Jahren gegrün­deten Klang­kol­lektiv Wien wirken einige der besten Musiker der Stadt zusammen. Ballot resü­miert: „Nachdem er unter meiner Leitung Wagners Sieg­fried-Idyll gespielt hatte, schlug mir der Klari­net­tist der Norbert Täubl vor, gemeinsam ein Kammer­or­chester zu gründen. Ein beson­derer Wunsch war dabei, eine inter­pre­ta­to­ri­sche Alter­na­tive im Reper­toire der Wiener Klassik anzu­bieten. Unser aller­erstes Projekt war die Einspie­lung einer Schu­bert-CD, das Grün­dungs­kon­zert fand im Oktober 2018 im statt.“

»In dem Quar­tett, das wir neu entdeckten, begegnen wir noch nicht dem Sinfo­niker Bruckner.«

Am Tag nach unserem offi­zi­ellen Treffen fahren wir raus zur legen­dären Wotruba-Kirche und genießen den Bruta­lismus der zeitlos expe­ri­men­tellen Archi­tektur in vollen Zügen. Selbst im Dickicht des urwald­ar­tigen Geländes tauchen noch Maskierte auf. Ballot liebt die Kunst und die Natur ganz allge­mein und bringt allem ein reges Inter­esse entgegen. Als Conductro-in-resi­dence der Bruck­ner­tage in St. Florian eilt ihm mitt­ler­weile der Ruf voraus, ein führender „Bruckner-Experte“ zu sein – doch wer seinen Beet­hoven, Wagner oder Debussy gehört hat, weiß, dass dies mit Exper­tentum nichts zu tun hat. Er ist schlicht einer der besten Diri­genten unserer Zeit, der mir gerade erzählt, wie es zur Aufnahme der Bruckner’schen Kammer­musik kam.

Altomonte Quartett
Das Alto­monte Quin­tett im Corona-Sommer 2020: Rémy Ballot, Iris Schüt­zen­berger, Peter Aigner, Stefanie Kropf­reiter und Jörgen Fog
(Foto: © Video­aus­riss, Gramola)

„Da es im Sommer 2020 coro­nabe­dingt nicht möglich war, in St. Florian eine Bruckner-Sinfonie zu spielen, grün­dete ich aus Musi­kern des Alto­monte-Orches­ters ein Quin­tett. Wir hatten wenig Vorbe­rei­tungs­zeit, doch sind alle mit meiner musi­ka­li­schen Zugangs­weise vertraut, und wir mussten nicht mehr über Grund­sätz­li­ches reden. Nach dem Konzert bot uns Richard Winter von Gramola an, das Quin­tett mit Bruck­ners frühem Streich­quar­tett aufzu­nehmen, und schließ­lich entstand die Aufnahme im ‚Herbst-Lock­down‘. In dem Quar­tett, das wir neu entdeckten, begegnen wir noch nicht dem Sinfo­niker Bruckner, den wir kennen – im Gegen­satz zum Quin­tett. Die Kombi­na­tion hat großen Reiz, wenn man die Dinge so sehen will, wie sie sind.“ Mitt­ler­weile hat Rémy Ballot das Ballot Quin­tett gegründet, mit dem nicht nur Aufnahmen der Quin­tette von Mozart oder Schu­bert vorge­sehen sind, sondern auch unbe­kann­tere Streich­quin­tette wie beispiels­weise von Philipp Jarnach, Günter Raphael oder Kalevi Aho.

»Die Liebe zur Musik, die in Wien überall spürbar ist, und die musi­ka­li­sche Tradi­tion haben mich ange­zogen.«

Als Ballot im Öster­rei­chi­schen Rund­funk gebeten wurde, Aufnahmen seiner Wahl vorzu­stellen, suchte er fast nur histo­ri­sche Doku­mente aus. Dies hat frei­lich nichts mit Nost­algie oder Konser­va­tismus zu tun: „Die Musiker sind damals nicht mit der Schall­platte aufge­wachsen, sondern immer nur mit dem einma­ligen Erlebnis des musi­ka­li­schen Moments, der stets unwie­der­bring­lich ist. Auf diese Weise ist ihr Musi­zieren so authen­tisch, wie wir uns das heute kaum noch vorstellen können.“ Entspre­chend sind es auch längst verstor­bene Musiker wie , , Eduard Erdmann, David Oistrach, oder Arthur Nikisch, die er als seine Vorbilder nennt. Und natür­lich Sergiu Celi­bi­dache, der ihn entschei­dend prägte. Unter den heutigen Musi­kern, die er beson­ders schätzt, nennt Ballot spontan , , , Ivo Pogo­re­lich, – und die Wiener Phil­har­mo­niker: „Die Liebe zur Musik, die in Wien überall spürbar ist, und die musi­ka­li­sche Tradi­tion haben mich ange­zogen. Deshalb bin ich von Paris nach Wien gekommen.“

Rémy Ballot wuchs als Kind musik­lie­bender Eltern auf, begann im Alter von fünf Jahren mit dem Geigen­un­ter­richt und studierte bei Gérard Poulet am Conser­va­toire National Supé­rieur de Musique et de Danse de Paris. „Ich war sehr glück­lich, als ich erfuhr, dass er mich unbe­dingt aufnehmen wollte, obwohl bei der Aufnah­me­prü­fung ein Kandidat mit höherem Ranking bessere Chancen gehabt hatte. Poulet war unglaub­lich anspruchs­voll und hatte großen Respekt für die Kunst – ‚à l’an­ci­enne‘. Er hatte sehr gute Studie­rende, einer besser als der andere, das war sehr moti­vie­rend. Viele von ihnen sind namhafte Solisten geworden. Fast wöchent­lich sollte ich eine neue Paga­nini-Caprice einstu­dieren, natür­lich zusätz­lich zu vielen anderen Stücken. 2013 habe ich sie dann alle im Konzert in Angers gespielt – eine Heraus­for­de­rung, mit der ich meine Grenzen ausloten wollte.“

»Die von Sergiu Celi­bi­dache entwi­ckelte Phäno­me­no­logie ist ein zentrales Werk­zeug, um die Semantik eines Stückes zu erspüren.«

1994 ergab es sich, dass der 16-Jährige mit einem Quar­tett bei einem Kurs Sergiu Celi­bi­dache in Paris vorspielte, und sein Leben nahm eine völlig neue, unvor­her­ge­se­hene Bahn: „Ich hatte keine Ahnung, wer Celi­bi­dache wirk­lich war, aber alles, was er sagte, hat mich faszi­niert und war extrem logisch und orga­nisch. Aus Neugier habe ich einen seiner Schüler gebeten, mir ein paar tech­ni­sche Grund­lagen des Diri­gie­rens beizu­bringen. Nachdem ich mit der Zeit ein ihm bekanntes Gesicht geworden war, forderte mich Celi­bi­dache auf, das anwe­sende Streich­quar­tett zu diri­gieren. Es war Schu­berts Der Tod und das Mädchen, das ich nur vom Hören kannte. Danach hat er mich als Schüler aufge­nommen. Was mich am meisten geprägt hat, ist die Tatsache, dass „das Ende im Anfang ist“, wie Celi­bi­dache nicht müde wurde zu erwähnen – dass also Zusam­men­hang jenseits der Zeit statt­findet.“

Ausschnitte aus Beet­ho­vens Eroica: Rémy Ballot diri­giert das Klang­kol­lektiv Wien.

Eine Zugangs­weise, die in einigen Berei­chen inkom­pa­tibel ist mit den nivel­lie­renden Ideo­lo­gien der soge­nannten „histo­ri­schen Auffüh­rungs­praxis“. Sich dem zu stellen, reizt Ballot beson­ders: „Die Heraus­for­de­rung als Diri­gent liegt für mich darin, die Musiker dazu zu bringen, die Musik mit neuen Augen zu sehen, und sie zu über­zeugen, dass es viel­leicht noch einen anderen Weg gibt als den mehr­heit­lich goutierten. Die von Celi­bi­dache entwi­ckelte Phäno­me­no­logie ist ein zentrales Werk­zeug, um die Semantik eines Stückes zu erspüren, um zu finden, was wirk­lich ‚da ist‘. Viele Musik­stücke sind für uns keine ‚Mutter­sprache‘ mehr, weil sie zeit­lich immer weiter entfernt sind. Mit der Phäno­me­no­logie gibt es hier viel weniger Speku­la­tion.“

Altomonte Orchester und Rémy Ballot
Rémy Ballot am Pult des Alto­monte Orches­ters bei den St. Florianer Bruck­ner­tagen
(Foto: © Rein­hard Winkler)

Auch wenn er weit mehr als ein Bruckner-Spezia­list ist, setzt Rémy Ballot natür­lich in diesem Sommer in der Stifts­ba­si­lika in St. Florian mit dem Alto­monte Orchester die hoch­ge­lobte Serie seiner Bruckner-Einspie­lungen mit der Vierten Symphonie fort: „Ich bin Klaus Laczika, dem künst­le­ri­schen Leiter der Bruck­ner­tage, Bruck­ner­ex­perten und Visionär, sehr dankbar, dass er mir im August 2011 meine erste große Chance, in Öster­reich zu diri­gieren, gegeben hat. 2013 haben wir dann die Erst­fas­sung von Bruck­ners Dritter Symphonie mitge­schnitten. Gramola brachte die Aufnahme heraus, die sofort mit einem ‚Diapason d’or décou­verte‘ ausge­zeichnet wurde. An diesem Punkt entstand die Idee eines Zyklus und einer konti­nu­ier­li­chen Zusam­men­ar­beit mit dem Alto­monte Orchester, dem Orchester des Festi­vals. Es ist dadurch möglich, Jahr für Jahr immer besser zu werden und eine Art ‚Tradi­tion‘ zu etablieren.“

Rémy Ballot, Anton Bruckner, Cover

: Streich­quar­tett F‑Dur WAB 112, Streich­quar­tett c‑Moll WAB 111, Rémy Ballot, Alto­monte Ensemble (2020, Gramola)

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Rémy Ballot, Klangkollektiv Wien, Cover

: „Figaro“-Ouvertüre, Sinfonie Nr. 41, „Jupiter“, : Sinfonie Nr. 101 „Die Uhr“, Klang­kol­lektiv Wien, Rémy Ballot (Gramola)

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Auftrittstermine und weitere Informationen zu Rémy Ballot unter: remyballot.com 

Fotos: Reinhard Winkler