Robert Schneider
»Warten, bis der Wolf kommt«
von Stefan Sell
16. August 2023
Der österreichische Schriftsteller Robert Schneider über die Zukunft der bürgerlichen Kultur.
Komme, was wolle – der österreichische Schriftsteller Robert Schneider bleibt Optimist. Obwohl er im Interview den völligen Zerfall des deutschsprachigen Kulturbetriebs innerhalb der kommenden zwanzig Jahre voraussagt. Ich treffe Schneider an einem verregneten Nachmittag in Bregenz, seiner Geburtsstadt. Der 61-Jährige wirkt vergnügt. Die Gedanken sprudeln schneller als die Worte.
Er ist nicht nur ein internationaler Bestsellerautor – im deutschsprachigen Raum gehört er wohl zu den am meisten gefeierten wie auch verrissenen Autoren der Gegenwart, »avancierte« vom Wunderkind zum Schmuddelkind der Literaturkritik. Er ließ sich nicht brechen und macht bis heute keinen Hehl daraus, dass Literatur deshalb ihre Glaubwürdigkeit verloren hat, „weil so viele in schwitzender Eilfertigkeit nach der Kritik geschielt haben. Die Folge ist Beliebigkeit, Political Correctness um jeden Preis und das nahezu vollständige Verschwinden von Literatur im gesellschaftlichen Bewusstsein. Wer heute ein Buch liest, muss sich – zu Recht – fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat.“
Bis heute hat er nicht aufgehört, als Komponist, Kolumnist, Musiker, Filmemacher sein großes Klangspektrum der Vielstimmigkeit zu offenbaren, auch wenn man seit 15 Jahren nichts von ihm gehört hat. Genauer gesagt: Er wurde einfach nicht mehr rezipiert. Erstaunlich ist, dass sein lyrisches Werk bisher gar nicht beachtet wurde, heißt doch eines seiner Gedichte Ein anderes Fragen. Treffender lässt sich das auf jede Nuance der Tonfärbung und Akzentuierung bedachte, geradezu durchkomponierte Werk Schneiders nicht auf den Punkt bringen. Nun ist Schneider mit 101 Geschichten unter dem Titel Buch ohne Bedeutung nicht nur ein großer Wurf gelungen – es ist das Buch der Stunde.
Ein schmaler Band, in seiner Dichte jedoch ein Kompendium märchenhafter Poesie, reinster Klangkunst, voller Weisheit, Witz und Ironie. Fantasiereich kursieren hier 101 Geschichten zwischen wunderbarem Erfindergeist und sezierender Beobachtungsgabe. Vor allem aber kommt dieses Buch zur rechten Zeit, spricht es doch vieles an, was uns heute bewegt. Und mehr noch: Jede einzelne Geschichte eignet sich als hochdosiertes Konzentrat für einen Roman. So hält beispielsweise Die Wahl zwei Möglichkeiten bereit, nämlich entweder alle Hindernisse als Hindernisse zu sehen und zu resignieren, oder aus Widrigkeiten etwas zu schöpfen. Letzteres entspricht Schneiders eigener Biografie. Die zieht sich tatsächlich poetisch durch alle im Buch ohne Bedeutung versammelten Geschichten: »Ein Menschenleben, mehr will ich nicht.«, heißt es im Taglied und klingt fort: »… auf den Feldern der sieglosen Eroberung brennt noch immer dein Herzlicht«. Einem Kōan (kurzer, oft paradoxer Ausspruch eines Zen-Meisters; Anm. d. Red.) gleich folgen Sentenzen wie »Gewissheit ist Einbrechen im Unwägbaren« und »Alle Angst ist Verbrechen. « Das provoziert, klingt nach, will Erläuterung.
Schneider trinkt von seiner Latte Macchiato, blickt durch das Fenster auf den Asphalt, aus dem die gläserne Fassade des Kunsthauses Bregenz hoch aufschießt. »Die Wiederentdeckung der Angst als probates Instrument des Gefügigmachens ist eine Errungenschaft aus der Pandemiezeit«, sagt er. »Das ließ sich nahtlos auf den Ukraine-Krieg übertragen wie auch auf die Energiekrise. Wir sitzen in unseren Löchern und warten, bis der Wolf kommt. Irgendwann muss er ja kommen. Alle sagen es. Aber er kommt nicht. Diese Angst macht uns eng, woher ja das Wort (etymologisch, Anm. d. Red.) stammt: Enge.«
Wir haben also nichts gelernt?
Und ob wir was lernen konnten! Gerade die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass wir die Welt eben nicht beherrschen. Da konnten Virologen und Politiker sagen, was sie wollten. Die Erkenntnis, dass das Leben unverfügbar ist, hat es für mich gerade wieder so unbegreiflich wertvoll gemacht.
Fünfzehn Jahre lang haben Sie kein Buch mehr geschrieben. Warum?
Weil ich meine literarische Arbeit nie als Tagwerk betrachtet habe. Ein Buch schreiben zu können, war immer eine Art unverhofftes Glück. Ich kann Ihnen das nicht erklären.”
Aber von irgendetwas müssen Sie doch leben?
Ich schreibe Kolumnen, arbeite journalistisch. Das ist mein Brotberuf.
Das Buch ohne Bedeutung liest sich wie die summa philosophiae des Robert Schneider. War es das jetzt, oder schreiben Sie schon ein neues Buch?
Keine Ahnung, wie es weitergeht. Vielleicht muss ich wieder fünfzehn Jahre warten.
Auffallend ist der überbordende Humor, die oft verblüffenden Wendungen in den einzelnen Geschichten. Gleichzeitig liest sich der Text wie ein ironischer Abgesang auf die bürgerliche Kultur. In einer Geschichte begegnen Sie Goethe auf dem Brennerpass, haben aber keine einzige Frage an ihn.
„Und just lese ich, dass Goethes Faust aus dem österreichischen Schulkanon verschwunden ist. Wir werden, was den Kulturbetrieb speziell angeht, in den kommenden zwanzig Jahren nur so bass staunen. Es wird zu einem gewaltigen Theatersterben kommen. Die Konzerthallen werden obsolet. Die Kirchen sind es schon längst. Bayreuth und Salzburg stehen vor dem Aus. Da bleibt wirklich kein Stein auf dem anderen. Der Boulez’sche Satz »Sprengt die Opernhäuser« aus den 1960er-Jahren wird sich von selbst erledigen. Immobilienmakler und McKinsey-Typen werden in den Logen ihre Büros aufschlagen.”
Das klingt aber sehr pessimistisch.
Ganz das Gegenteil! Diese Entwicklung ist übrigens keine Spätfolge der Pandemie. Das kündigte sich schon lange davor an. Unsere Generation ist selbst schuld an dieser Misere, weil wir ein Konzertrepertoire aus dem 17. bis 19. Jahrhundert einfach zu Tode gespielt haben. Es ist wie mit dem sprichwörtlichen Kaviar, den man täglich zum Frühstück isst. Er schmeckt fade. Ich war unlängst auf einem Liederabend bei der Schubertiade Hohenems. Rührend, wie man sich da gegenseitig beim Sterben belauscht hat. Zum zigsten Mal Winterreise. Wäre ich »Schubert-Minister«, würde ich glatt fünfzig Jahre lang Schubert verbieten, damit sich seine Musik erholen kann, denn sie ist uns nichts mehr wert. Genauso verhält es sich mit dem Theater. Die neuen Zahlen des Deutschen Bühnenvereins sind ja niederschmetternd. Da kann man nichts mehr schönreden. Die Neuinszenierung eines Parsifal interessiert nur noch, wenn eine fragwürdige Persönlichkeit aus dem extrem rechten Spektrum Regie geführt hat. Dann kesselt es wieder im Feuilleton.”
»Große Musik und große Bücher entstanden immer dann, wenn die Umstände am widrigsten waren.«
Es kommen doch neue Generationen nach …
Welche? Die jungen Menschen in den Konzertsälen sind Musikstudenten oder Kinder von Eltern, die Musiker sind. Natürlich verirrt sich der eine oder andere Teenie aus wirklichem Interesse in ein Konzert. Bachs Musik wurde nach seinem Tod hundert Jahre nicht gespielt. Nur Insider kannten ihn. Gar nicht so schlecht, wenn diese stetige Totenbeschau, die wir betreiben, aufhört.
Gilt das auch für die Literatur?
Selbstverständlich. Erinnern Sie sich noch an die Literaturkanons, die Reich-Ranicki und Kollegen im Nobel-Feuilleton aufgestellt haben? Bücher, die bleiben. Eine lächerliche Anmaßung. Der Wind wehte darüber.
Was bleibt denn Ihrer Meinung nach?
Eine Form des Geschichtenerzählens wird wohl bleiben. Wie die aussieht, weiß ich nicht. Die Guckkastenbühne hat jedenfalls ausgedient. Dazu zählt auch das Kino. Menschen wollen nicht mehr untereinander sein, weil sie einander nicht mehr riechen, nicht mehr in die Augen sehen können. Ein direkter Austausch verlangt Mut, Position zu beziehen. Das tut man heute ganz ungern, und wenn, nur in digitalen Floskeln, die nichts bedeuten. Eines ist auch gewiss: Wir werden in den kommenden Jahrzehnten so hart für unser Leben arbeiten müssen, dass für die schönen Künste nur noch wenig übrig bleibt.
Heißt das, die schönen Künste sind am Ende?
Große Musik und große Bücher entstanden immer dann, wenn die Umstände am widrigsten waren. Sie entstanden ungefragt. Dostojewski, der einmal wegen politischer Umtriebe im Gefängnis saß und zu einer Scheinhinrichtung geführt wurde, schrieb den wunderbaren Satz: »Auch im Gefängnis kann man zu einer grenzenlosen Freiheit gelangen.«