Rolf Bolwin

Kultur ist ein elemen­tares Grund­be­dürfnis!

von Maria Goeth

15. Juni 2020

Rolf Bolwin war 25 Jahre lang geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins. Seine Thesen zum Thema Streaming in den Künsten werden heiß diskutiert.

war 25 Jahre lang geschäfts­füh­render Direktor des Deut­schen Bühnen­ver­eins. Seine Thesen zum Thema Strea­ming in der Kunst werden heiß disku­tiert. Wir haben nach­ge­fragt.

CRESCENDO: Das Thema Strea­ming ist in Corona-Zeiten auch in der Klassik brand­ak­tuell. Gelun­gene Alter­na­tive zur Live-Auffüh­rung oder ein Fall von Selbst-Kanni­ba­li­sie­rung der Künstler und Theater?

Rolf Bolwin: Mit dem Lock­down war klar, dass man sich seitens der Theater etwas über­legen muss, um über­haupt in der Öffent­lich­keit präsent zu sein. Das war ein tiefer Einschnitt, der uns noch lange beschäf­tigen wird! Man besann sich auf die elek­tro­ni­schen Möglich­keiten und versuchte, wenigs­tens im Netz gegen­über der Öffent­lich­keit, die mit ihren Steu­er­mit­teln ja die großen Kultur­ein­rich­tungen, vor allem die Theater- und Orches­ter­be­triebe, finan­ziert, präsent zu sein.

Das Strea­ming im Lock­down fiel oft wahllos aus.

Was dabei raus­ge­kommen ist, fiel vor allem im Schau­spiel – in der Oper war es wesent­lich konzen­trierter – oft recht wahllos aus. Man wollte schnell reagieren und hat das genommen, was man hatte. Das hat man ins Internet gestellt und sozu­sagen gleich für die Welt­be­völ­ke­rung zugäng­lich gemacht. Verständ­lich, aber wenn man darüber nach­denkt, wie es nun mit und ohne Corona-Einschrän­kungen weiter­gehen könnte, nicht das Modell der Zukunft. Man muss gezielter über­legen, was man im Netz macht, was man welchen Zuschauern anbietet.

Rolf Bolwin vor dem Opernhaus in Züric
Rolf Bolwin vor dem Opern­haus in , © privat

Sie sind eigent­lich Jurist. Und bezüg­lich der recht­li­chen Fragen von Strea­ming haben Sie sich bereits in die Nesseln gesetzt. Vom Portal thea­polis wurde Ihnen eine „steile Arbeit­ge­ber­these“ vorge­worfen, weil Sie in einem Artikel auf nacht​kritik​.de fordern: „Bei Gastkünstler*innen […] muss in der jetzigen Situa­tion die Faust­regel gelten: Je mehr schon gezahlt wurde, desto weniger fließt für die Nutzung der Rechte.“

Wir brau­chen ein Umdenken in der Gesamt­ge­stal­tung der urhe­ber­recht­li­chen Grund­lagen! Diese Umge­stal­tung lautet: Theater im Netz muss problemlos statt­finden können und dafür muss Geld gezahlt werden! Es gibt zu viele recht­liche Hürden. Wir müssen erst einmal zig Verein­ba­rungen mit Künst­lern und anderen Betei­ligten treffen, bevor wir über­haupt loslegen können. Das sorgt dafür, dass sich viele Theater und Orchester an das Thema über­haupt nicht heran­trauen, auch wenn wir über die Künst­ler­ta­rif­ver­träge schon das ein oder andere Problem gelöst haben [Anmerk. der Red.: In seiner Funk­tion als geschäfts­füh­render Direktor des Deut­schen Bühnen­ver­eins gestal­tete Rolf Bolwin zwischen 1992 und 2016 auf Arbeit­ge­ber­seite die Tarif­ver­träge für das künst­le­ri­sche Personal der Theater und Orchester maßgeb­lich mit].

Wir brau­chen ein Umdenken bei den urhe­ber­recht­li­chen Grund­lagen.

Es stellt sich bei einer Rech­te­nut­zung immer die Frage, was ist eine „ange­mes­sene Vergü­tung“? Das gilt auch für das Strea­ming einer Opern‑, Konzert‑, Schau­spiel- oder Tanz­auf­füh­rung. Zuge­spitzt ist für mich vor allem für die Gäste klar: Wenn etwa ein bekannter Opern­sänger für einen Live-Auftritt eine sehr hohe Gage bekommt, muss er akzep­tieren, dass eine Präsen­ta­tion dieser Auffüh­rung im Netz – zum Anschauen, nicht zum Herun­ter­laden! – statt­findet und dass für die Rechte da nicht mehr viel kommt. Vor allem dann, wenn es sich um ein öffent­lich finan­ziertes Theater handelt, wie es bei Häusern wie der Baye­ri­schen Staats­oper der Fall ist. Da müssten die Rechte weit­ge­hend mit der Gage abge­golten sein. Der junge Schau­spieler hingegen, der viel­leicht für seinen Auftritt eine Abend­gage von 200 Euro erhält und dessen Rechte im Netz genutzt werden sollen, an den muss man für die Rech­te­nut­zung etwas mehr bezahlen, weil es sonst keine ange­mes­sene Vergü­tung wäre.

Wo wollen Sie denn da den Cut machen? In den Extremen mag das plau­sibel klin­geln, aber es gibt Unmengen von Grenz­fällen. Und wer soll sich bei großen Opern­pro­duk­tionen mit hunderten Betei­ligten von Sängern über Orchester bis zu Bühnen­bildner und Drama­turg um die Abrech­nung kümmern?

Das Problem exis­tiert vor allem, wenn man – wie jetzt – mit allen einzeln eine Verein­ba­rung abschließen muss! Deshalb kapi­tu­lieren so viele davor. Mit Orchester, Chor oder Darstel­lern aus dem Ensemble kann ich das noch im Tarif­ver­trag regeln, und das ist weit­ge­hend geschehen. Bei Gästen wird es schwie­riger. Es gibt für sie zwar Vertrags­ent­würfe vom Bühnen­verein, in denen eine vernünf­tige Rege­lung auch zum Strea­ming enthalten ist, viele Gäste stimmen der aber nur zu, wenn Geld fließt. Dabei sind vor allem die großen Sänge­rinnen und Sänger mit starken Agen­turen im Vorteil, die besser verhan­deln können als manch anderer, der nicht das Markt-Stan­ding hat.

Das Theater darf bei der Verwer­tung nicht jedes Mal einen Klotz am Bein haben!

Für die Abrech­nung des Strea­mings sehe ich die Lösung bei den Verwer­tungs­ge­sell­schaften wie GEMA oder GVL. Wenn ein Theater etwas aufzeichnet und im Netz nutzt, sollten diese dafür gestaf­felte Tarife aufstellen und abrechnen. Denn wir müssen zu einem erleich­terten Umgang mit dem Netz kommen! Wenn das Theater jedes Mal, wenn es in die elek­tro­ni­sche Verwer­tung geht, einen Klotz von Problemen am Bein hat und nicht weiß, was das alles kostet, werden wir keinen Durch­bruch in diesem Bereich erzielen! Dabei geht es nicht darum, Künstler auszu­beuten und ihnen nichts zu zahlen! Es geht nur darum, im Netz leichter präsent sein zu können und dafür Stra­te­gien zu entwi­ckeln.

Wie soll das konkret funk­tio­nieren?

Es muss alles vernünftig im Gesetz gere­gelt werden. Dazu wären vier Aspekte wesent­lich: 1. Eine Aufzeich­nung durch den Veran­stalter ist grund­sätz­lich erlaubt. 2. Das gilt auch für die Nutzung der Aufzeich­nung. 3. Die Künstler, der Autor und der Kompo­nist haben ein Recht auf ange­mes­sene Vergü­tung; 4. Diese wird von einer Verwer­tungs­ge­sell­schaft geltend gemacht, wenn es nicht im Vertrag ander­weitig gere­gelt wird. Fertig!

Je höher die Ausgangs­gage, desto geringer sollte die Urheber-Vergü­tung sein.

Damit würde meines Erach­tens niemand Probleme bekommen. Die Verwer­tungs­ge­sell­schaft stellt dann die Maßstäbe auf, am besten in Abstim­mung mit den zustän­digen Verbänden wie Bühnen­verein, Verle­ger­ver­band und Gewerk­schaften. In Betracht kommen für die Darsteller zum Beispiel Prozent­sätze der Ausgangs­gage: Je höher diese ist, desto geringer die Urheber-Vergü­tung. Die genaue Ausge­stal­tung ist sicher nicht unkom­pli­ziert, aber was hat die GEMA nicht schon für Tarife aufge­stellt! Aller­dings müsste man eine solche Rege­lung nicht nur in angehen, sondern als Teil der Urhe­ber­rechts­richt­li­nien in der Euro­päi­schen Union. Das macht die Sache natür­lich nicht leichter.

Zurück zu den Inhalten: Wann ist ein Strea­ming ein echter Mehr­wert oder wenigs­tens ein „Anders­wert“ gegen­über dem Live-Erlebnis? Wohn­zim­mer­kon­zerte mit schlechter Ton- und Bild­qua­lität sind sicher nicht das Modell der Zukunft?

Der Mehr­wert besteht erstmal darin, dass man sich im Netz einer brei­teren Zuschau­er­schaft zuwendet und nicht nur denen, die eine Theater- oder Konzert­karte kaufen. So können die Vorstel­lung sogar Menschen sehen, die sonst gar nicht ins Theater gekommen wären. Das ist gerade in Hinblick auf die Tatsache, dass die großen Kultur­in­sti­tute, die Theater‑, Orchester- und Opern­be­triebe, mit Steu­er­mit­teln von der Öffent­lich­keit finan­ziert werden, ein wich­tiger Punkt.

Theater wendet sich nicht an Millionen Bundes­bürger, sondern an die Bürger seiner Stadt.

Dann aber ist auch die Frage: Wie präsen­tiere ich gezielt etwas im Netz? Präsen­tiere ich einzelne Sänger oder Schau­spieler mit Short­cuts, mache ich eine kleine Doku­men­ta­tion „Wie entsteht eine Opern­auf­füh­rung?“ und runde die eigent­liche Auffüh­rung mit ergän­zenden Programm­an­ge­boten ab? Es muss ein redak­tio­nell gestal­tetes, kura­tiertes Angebot für das Publikum der Stadt entwi­ckelt werden! Das Theater wendet sich nicht an die fast 85 Millionen Bundes­bürger oder an Millionen andere Menschen in der Welt, sondern zunächst einmal an die Bürger seiner Stadt. Wenn das Theater für diese konkret ein Programm macht und sie anspricht, entwi­ckelt sich daraus ein zusätz­li­cher digi­taler Dialog.

Aber es ist doch gerade die Chance von Strea­ming, über­re­gional zu sein?

Ja, aber es macht kein Sinn, wenn alle plötz­lich über­re­gional präsent sein wollen. Es darf nicht in einer riesigen Konkur­renz von hunderten von Vorstel­lungen enden, der die Zuschauer völlig hilflos gegen­über­stehen. Es bringt nichts, wenn ich mir im Netz dreißig verschie­dene Versionen von „Die Zauber­flöte“ anschauen kann – das wird keiner leisten können. Immer stehe ich dann vor der Frage: Welche ist inter­es­sant? Die aus , die aus Kaisers­lau­tern oder die aus ? Es braucht jemanden, der vor allem ein über­re­gio­nales Angebot redak­tio­nell gestaltet.

Sich im Netz 30 verschie­dene Versionen der „Zauber­flöte“ anzu­schauen, kann keiner leisten.

Hier liegt der große Vorteil des Fern­seh­pro­gramms. Deshalb fordere ich u.a. vom öffent­lich-recht­li­chen Fern­sehen einen redak­tio­nell gestal­teten Kultur­kanal, der das, was in diesem Land kultu­rell passiert, versucht zu reprä­sen­tieren. Das fehlt uns, das sieht man jetzt in Corona-Zeiten umso mehr!

Ich fordere einen redak­tio­nell gestal­teten Kultur­kanal des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens!

Aber gleich­gültig, ob so etwas übers Fern­sehen oder im Internet gezeigt wird: Für ein über­re­gio­nales Angebot MUSS es eine kura­tierte Gestal­tung geben! Nacht​kritik​.de macht etwas in dieser Rich­tung bereits fürs Schau­spiel. Sie suchen Produk­tionen aus und präsen­tieren sie den Zuschauern, weil sie sie inter­es­sant und wichtig finden. Da sitzen Menschen, die sich auskennen, und treffen Entschei­dungen über das, was von allge­meinem kultu­rellem Inter­esse ist. Darüber mag man streiten, aber in der Masse eines über­bor­denden Ange­bots unter­zu­gehen, ist für das Theater keine Chance!

In der Masse eines über­bor­denden Ange­bots unter­zu­gehen, ist für das Theater keine Chance.

Welche Rolle spielt der tech­ni­sche Quali­täts­aspekt? Zwischen einem mittel­mä­ßigen Gene­ral­proben-Mitschnitt und einer Dolby-Surround-Aufzeich­nung mit mehreren Kameras bestehen ja ekla­tante Unter­schiede – selbst bei der glei­chen Produk­tion …

Die digi­talen Ange­bote müssen hohen profes­sio­nellen Stan­dards genügen, sonst macht das alles ohnehin keinen Sinn! Wir müssen diese Ange­bote mit dem glei­chen Quali­täts­an­spruch gestalten wie die Thea­ter­auf­füh­rung selbst.

Vor vielen Jahren gab es im „Die aktu­elle Insze­nie­rung“. Ich erin­nere mich, dass ich Leander Hauß­manns „Romeo und Julia“ damals sowohl im Münchner Resi­denz­theater als auch als Fern­seh­auf­zeich­nung gesehen habe. Beides hatte seine eigene Qualität. Man sah bei der Aufzeich­nung, dass sie speziell fürs Fern­sehen gemacht worden war, fast wie ein Fern­seh­spiel. Das Theater muss sich der elek­tro­ni­schen Version einer Auffüh­rung also ästhe­tisch noch einmal ganz anders nähern und braucht jemanden im Team, der die fach­liche Voraus­set­zungen dazu mitbringt. Jetzt unpro­fes­sio­nelles Zeug abzu­lie­fern, bringt über­haupt nichts! Dazu sind gerade die Kultur-Zuschauer zu sehr an Qualität inter­es­siert!

Jetzt unpro­fes­sio­nelles Zeug abzu­lie­fern, bringt über­haupt nichts!

Da kommen wir aber rasch zur Bezahl­frage. Hoch­wer­tige Aufzeich­nungen kosten Geld.

Wir reden gerade viel über Inves­ti­tionen über neue Tech­no­lo­gien und verän­derte Kommu­ni­ka­ti­ons­formen. Die Bundes­re­gie­rung hat soeben in ihrem Hilfs­pro­gramm für Kunst und Kultur 150 Millionen Euro für die Förde­rung von vorrangig digi­talen Kultur­ange­boten zur Verfü­gung gestellt. Das muss von den Thea­tern genutzt werden. Denn Inves­ti­tionen in den Thea­tern sind in der Tat erfor­der­lich – perso­nell und im Bereich Equip­ment. Das setzt zusätz­liche Gelder voraus und diese können nicht einfach aus den Mitteln kommen, die den Thea­tern für ihr Programm zur Verfü­gung stehen. Es musste also zumin­dest diesen zusätz­li­chen Topf geben!

Sie sehen von der finan­zi­ellen Seite also den Staat in der Pflicht?

Das wird auch darauf ankommen, wie es weiter­geht. Da wir derzeit gar nicht oder nur sehr einge­schränkt spielen können, kommt die Frage auf: Bleiben Mittel frei, mit denen das Theater etwas Zusätz­li­ches machen kann? Durch die einge­schränkte Spiel­weise werden aber in hohem Maße die Eigen­ein­nahmen einbre­chen, die bei den kleinen Thea­tern bei zehn Prozent liegen, bei den großen bis zu 35 Prozent reichen. Viel finan­zi­eller Spiel­raum wird den Bühnen also nicht bleiben. Deshalb muss es zusätz­li­ches Geld fürs Digi­tale geben!

Sind Bezahl­dienste wie takt1, fidelio oder die Digital Concert Hall der Berliner Phil­har­mo­niker, die aktuell nur vorüber­ge­hend kosten­frei ist, für Sie also nicht das Modell der Zukunft?

Das ist schwer zu sagen. Es wird stark davon abhängen, ob wir wieder in eine Thea­ter­welt zurück­kehren, die so ist, wie sie war, wann wir wieder mit 1.000 oder 2.000 Leuten in einem Thea­ter­saal sitzen können. Sollte sich ergeben, dass wir über Jahre mit einge­schränkten Live-Präsen­ta­tionen leben müssen, dann werden die Bezahl­dienste eine Zukunft haben.

Corona erzwingt eine tech­ni­sche Pionier­leis­tung.

Erst mal müssen aber die Theater inhalt­lich heraus­finden, was sie im Netz machen wollen und was sie machen können. Ich hätte mir gewünscht, dass das schon früher statt­findet, wir also von Corona nicht so sehr auf dem falschen Fuß erwischt worden wären. Nun erzwingt Corona diese Pionier­leis­tung, auch gut. Auf die Dauer wird es sicher nicht gehen, dass man in großem Stil kostenlos digi­tale Ange­bote bereit­hält. Strea­ming könnte aber auch Teil eines Abon­ne­ments sein, viel­leicht mit zusätz­li­chen Ange­boten. Eine inter­es­sante Vari­ante, die das Abon­ne­ment nochmal reiz­voller macht.

Dem Portal Opera­Vi­sion haben Sie aber vorge­worfen, ihre Inhalte kosten­frei zur Verfü­gung zu stellen?

Es ging mir weniger um den Kosten­aspekt, sondern mehr um die Dauer der Präsen­ta­tion. Ich bin über­haupt kein Freund von „Steht sechs Monate im Netz!“. Wenn wir Vorstel­lungen im Netz präsen­tieren, müssen wir genau so am Event-Charakter des Thea­ters fest­halten wie bei der Live-Auffüh­rung. Wir müssen sagen: Heute sehen Sie „Tosca“ oder „Don Giovanni“ des städ­ti­schen Thea­ters im Internet. Dann bleibt es viel­leicht noch 48 Stunden auf der Inter­net­seite für den, der keine Zeit hat an dem Abend oder gerade in sitzt. Wer das alles verpasst hat, muss eben warten, bis es wieder kommt, oder ins Theater gehen, um die Auffüh­rung live auf der Bühne zu sehen.

Ist es nicht schön, ein paar – auch histo­ri­sche – Leucht­turm­pro­duk­tionen dauer­haft verfügbar zu machen?

Wenn ich abends ins Fern­seh­pro­gramm schaue und es kommt ein Spiel­film, der 30 Jahre alt ist, finde ich das span­nend. Es hat sich doch jemand etwas dabei gedacht, mir den Film jetzt noch einmal anzu­bieten. Aber in einer riesigen dauer­haften Auswahl zu entscheiden, was ich mir anschaue, fällt schwer.

Ist das ein Problem der älteren Gene­ra­tion? Sind die Jüngeren nicht Verfüg­bar­keit gewöhnt? Ist es nicht altmo­disch zu glauben, man brauche die zeit­liche Begren­zung zur Stei­ge­rung der Attrak­ti­vität?

Mag sein, aber ich glaube es nicht. Es gibt viele Menschen, die sagen, dass wir auch noch in 20 Jahren ein durch­ge­stal­tetes Fern­seh­pro­gramm haben werden. Die meisten haben doch über­haupt keine Zeit, sich ständig mit der Frage zu befassen, was schaue ich mir an und wo finde ich es. Selbst bei den Jugend­li­chen spricht sich irgend­etwas als inter­es­sant herum, sei es eine neue Netflix-Serie oder eine App, plötz­lich sind alle dabei – und irgend­wann auch wieder weg. Selbst da findet also kein „Ich weiß genau, was ich suche, und schau jetzt mal, was ich finde“ statt, sondern auf unter­schied­li­chen Wegen eine Art öffent­li­cher Meinungs­bil­dung, durch die sich das Inter­es­sante vom Unin­ter­es­santen abhebt. Das aber kann im Theater nur schwer funk­tio­nieren, dazu ist das Angebot zu viel­fältig und umfang­reich.

Das Kura­tieren, die Hilfe­stel­lung von Experten bei der Auswahl, sehen Sie also als absolut zentrales Thema.

Anders ist die Masse des Ange­bots nicht zu bewäl­tigen! Stellen Sie sich vor, von den 142 Stadt­thea­tern in Deutsch­land würde jedes nur drei Auffüh­rungen pro Saison ins Netz stellen. Der Zuschauer steht ratlos davor! Deshalb gibt es zwei wich­tige Elemente: Ich muss kura­tieren und regio­na­li­sieren! Aktuell werden wir mit der Frage konfron­tiert: Können wir reisen und wenn ja wohin? Plötz­lich entde­cken wir deshalb unsere eigene Region. In der Kultur gibt es diesen Regio­na­li­sie­rungs­faktor schon längst: Es ist MEIN Stadt­theater, in das ich gehe. Mir gefällt zum Beispiel die Idee, im Internet eine Art städ­ti­schen Kultur­kanal zu haben, in dem sich das Museum ebenso präsen­tiert wie die Bücherei, das Theater und das Orchester. In der Stadt, in der man lebt, würde man sich selbst­ver­ständ­lich immer dafür inter­es­sieren.

In Ihren 25 Jahren als geschäfts­füh­render Direktor des Deut­schen Bühnen­ver­eins haben Sie so manche Krise miter­lebt. Wie bewerten Sie COVID-19 im Vergleich?

Diese Krise ist deut­lich größer, weil sie uns unserer zentralen Möglich­keiten beraubt! Das hatten wir noch nie, dass die Theater nicht spielen konnten. Bei anderen Ausnah­me­si­tua­tionen wie der Wieder­ver­ei­ni­gung oder der Wirt­schafts­krise ging es nur um die Rahmen­be­din­gungen, die kompli­ziert waren, nicht aber um das Exis­ten­zi­elle, um das Arbeiten auf der Bühne und um die Präsenz der Zuschauer.

Wie wird sich die Kultur­land­schaft im deutsch­spra­chigen Raum durch COVID-19 verän­dern?

Um die großen staat­li­chen und städ­ti­schen Betriebe mache ich mir im Augen­blick noch keine Sorgen. Da steht viel öffent­li­ches Geld zur Verfü­gung, und aktuell will das keiner kürzen oder einschränken. Viel bedroh­li­cher ist es für alles privat Finan­zierte – ob das Privat­theater, private Konzert­ver­an­stal­tungen bis in die Pop-Musik hinein oder die projekt­fi­nan­zierte Welt der Freien Szene ist. Ob sie ihren Betreib nach der Krise wieder­auf­nehmen können, wird man sehen. Vor allem ist völlig unge­klärt, wann „nach der Krise“ ist.

Den Wegfall von Kultur wird man nicht so schnell spüren wie den von Lebens­mit­teln.

Jeden­falls braucht die Gesell­schaft die kultu­rellen Ereig­nis­räume, darüber muss sich die Politik im Klaren sein. Was ein Wegfall dieser Räume für die Gesell­schaft bedeutet, wird man zwar nicht so schnell spüren, wie wenn plötz­lich keine Lebens­mittel mehr zur Verfü­gung stünden. Dass aber die Möglich­keit des gesell­schaft­li­chen Sich-Ausein­an­der­set­zens mit der Welt in einem kollek­tiven Raum für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt unver­zichtbar ist, daran kann über­haupt niemand zwei­feln. Deshalb muss alles getan werden, um einen schweren kultu­rellen Einschnitt zu vermeiden.

Viel­leicht wird gerade der Bereich klas­si­sche Musik noch elitärer, indem die Karten­preise steigen, weil aufgrund der Abstands­re­geln nur noch wenige Menschen ins Theater dürfen?

Es darf auf keinen Fall passieren, dass Theater nur noch etwas für finan­zi­elle Eliten ist. Gegen die Forde­rung, die Leute, die viel Geld haben, sollen über hohe Karten­preise das Theater finan­zieren, habe ich mich immer gewehrt und gesagt: „Schaut doch bitte mal in das Publikum eines normalen Stadt­thea­ters!“ Da kommen Zuschauer mit Bussen aus den kleinen Vorstädten ange­fahren. Das sind Menschen mit normalen Verdienst­mög­lich­keiten, die nicht zu den Reichen dieses Landes gehören. Das ist im Übrigen in auch nicht viel anders. Deshalb fände ich eine Entwick­lung verhäng­nis­voll, die dazu führt, dass Theater nur noch für Publikum mit erhöhten finan­zi­ellen Mitteln zugäng­lich ist. Damit würden wir die Basis dessen, was wir tun, verlassen!

Theater darf auf keinen Fall nur etwas für finan­zi­elle Eliten sein!

Besser wäre es, die Karten zu verlosen, wenn es wegen Corona-Auflagen zum Beispiel nur 150 Karten gibt. Man muss sie bezahlen, wenn man eine bekommt, aber sie werden eben verlost. Oder man verfährt nach dem Motto „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. So halten wir an der Breite des Publi­kums in seiner Zusam­men­set­zung fest.

Im öffent­li­chen Musik- und Thea­ter­system stecken Milli­arden an öffent­li­chen Geldern.

Falls wir aber dauer­haft nicht mehr so viel Leute wie bisher in den Saal lassen können, sind wir wieder bei unserem Ausgangs­thema, dem digi­talen Angebot im Netz. Das Theater muss dann das, was es tut, einer breiten Öffent­lich­keit anders zugäng­lich machen, zumin­dest, wenn es öffent­lich finan­ziert ist. Man darf nie vergessen: Im öffent­li­chen Musik- und Thea­ter­system stecken fast drei Milli­arden Euro an öffent­li­chen Geldern. Da kann ich nicht so tun, als würde mich das nicht inter­es­sieren.

Ihr Wunsch ans Universum?

Dass das Virus möglichst schnell verschwindet! Aber der Wunsch wird wohl leider nicht in Erfül­lung gehen. Es ist für mich nach wie vor schwer vorstellbar, wie wir mit einer Situa­tion umgehen sollen, in der wir nicht mit vielen Menschen in einen Veran­stal­tungs­raum gehen können. Das ist ein elemen­tares Grund­be­dürfnis für mich persön­lich, aber auch für viele andere Menschen. Wird er nicht erfüllt, kommt erst einmal lange nichts!

Fotos: privat