Daniel Hope trifft Sascha Goetzel
Rosenkavalier in Istanbul
von Daniel Hope
10. März 2018
Wie ist es, die großen Klassiker der Musik zum ersten Mal in der Türkei aufzuführen? Unser Kolumnist sprach mit Sascha Goetzel, Leiter des Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra.
Wie ist es, die großen Klassiker der Musik zum ersten Mal in der Türkei aufzuführen? Unser Kolumnist sprach mit Sascha Goetzel, Leiter des Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra.
Daniel Hope: Seit 2008 bist du Chef des Borusan Philharmonischen Orchesters in Istanbul. Wie fühlt sich das an?
Sascha Goetzel: Diese Energie, die Istanbul hat, dieser Schmelztigel zwischen Ost und West, spiegelt sich auch bei den Musikern wider. Es ist ein sehr junges, unglaublich ambitioniertes und lernwilliges Orchester. Musikalisch hatten wir von Anfang an eine sehr intime, energetische Verbindung. Das hat bis heute gehalten. Wenn man nach so vielen Jahren noch dieses Feuer, diese Leidenschaft in der Musik und den Lernwillen spürt, ist das für einen musikalischen Leiter das Schönste, was es gibt.
Wie ist es, wenn du ein großes Werk des klassischen Repertoires dort aufführst? Viele Leute hören die hier gängigen Werke dort ja zum ersten Mal.
Vor vier Jahren führten wir im Rahmen des Beethoven-Festivals die Missa solemnis auf. Dieses für uns so bedeutende Stück war in der Türkei noch nie aufgeführt worden. Ich hatte ein etwas mulmiges Gefühl im Magen, weil es einerseits ein unglaublich spirituelles Stück ist, andererseits auch sehr lange dauert. Aber das Konzert wurde wunderbar aufgenommen, das Publikum jubelte frenetisch. Es ist ein Privileg, so ein Standardwerk einem Publikum zum ersten Mal präsentieren zu dürfen!
Oder vergangenes Jahr spielten wir den Rosenkavalier. Den erstmals zu hören, ist auch für das Publikum eine große Leistung. Man sitzt vier Stunden da, hört endlose Girlanden und Melodien … Natürlich ist es für uns Westeuropäer wunderschön, aber man muss sich eben vorstellen, man hört es zum ersten Mal.
„Diese Energie, die Istanbul hat, dieser Schmelztigel zwischen Ost und West, spiegelt sich auch bei den Musikern wider“
Wir versuchen jedes Jahr, ein oder zwei solcher Stücke einzubauen. Das Schöne ist, dass auch die anderen türkischen Orchester diese Programmatik übernehmen. So schafft man einen nachhaltigen Beitrag zum Kulturleben und nicht nur ein Event, um Publikum zu fangen.
Du dirigierst bereits in der dritten Saison auch an der Wiener Staatsoper. Hoffst du, auch Oper in Istanbul zu etablieren?
Das hoffte ich von Anfang an. Es gibt hier eine große Operntradition durch Leyla Gencer, die große türkische Diva, die an der Mailänder Scala im Vergleich zur unnachahmlichen Maria Callas zwar nur die zweite war, aber eine große italienische Operntradition in die Türkei brachte. Ich bin der Meinung, dass ein Spitzenorchester immer auch Oper spielen muss. Deshalb habe ich von Anfang an einmal im Jahr konzertant – oder wie man so schön sagt: „semi-staged“ – Oper gemacht. Letztes Jahr mit dem Rosenkavalier wagten wir uns dann zum ersten Mal an eine „fully-staged“, also szenische Version. Das Orchester entwickelt dadurch eine ganz andere Hörgewohnheit: Zum Begleiten der Sänger ist unheimliche Sensibilität notwendig. Wort und Musik zusammen bilden eine neue Kunstform. Das schult das Orchester. Für diesen noch immer sehr jungen Klangkörper ist das eine wunderbare Herausforderung.
„Wort und Musik zusammen bilden eine neue Kunstform“
Wir beide haben mit dem Violinkonzert von Gabriel Prokofiev und Mark-Anthony Turnages Doppelkonzert nun schon zum zweiten Mal ein Werk der Neuen Musik mit dem Borusan zur Uraufführung gebracht. Wie wichtig ist es, Neue Musik zum Leben zu erwecken?
Auftragswerke sind wahnsinnig wichtig, denn ich bin der Meinung, dass sich klassische Musiker immer auch mit der zeitgenössischen Musik befassen müssen und nicht nur das Repertoire spielen sollten, das schon in den letzten 300 Jahren gespielt worden ist. Zeitgenössische Komponisten stellen über ihre Musik ein Abbild unserer Umgebung her, sowohl der menschlichen als auch unserer Umwelt. Manchmal beschweren sich Leute: „Das klingt wie Müll!“ Dann antworte ich: „Schauen Sie sich doch einmal um, wie viel Müll in unserer Welt herumliegt!“ Ein Orchester, das keine Auftragswerke spielt, ist für mich kein Orchester unserer Zeit!
Wie siehst du die Zukunft der Musik in der Türkei?
Im Moment scheint sie mir stabil. Die Musiker in den Staatsorchestern haben alle gesicherte Verträge. Wir selbst sind anders, weil wir durch den türkischen Mischkonzern Borusan rein privat finanziert werden. Wir haben das Budget für die nächsten drei, vier Jahre fix – inklusive wunderbarer Solisten und Programme. Unsere Arbeit ist also erst einmal gesichert!