Rudolf Buchbinder

»Rock it, Rudi!«

von Dorothea Walchshäusl

9. November 2020

Rudolf Buchbinder, der 100-Prozent-statt-fader-Kompromisse-Pianist, hat Beethovens „Diabelli-Variationen“ zu seinem Lebensprojekt gemacht. Und was soll man sagen? So geht „Rock it, Rudi!“.

Ein schlichtes „B“ steht neben der Klingel am Gartentor. „B“ wie Buch­binder. 73 Jahre alt, Welt­klas­se­pia­nist und längst ein Wiener Original. Seit über 40 Jahren wohnt am Rande der öster­rei­chi­schen Haupt­stadt. Von diesem Ort aus bereist der Künstler die Bühnen der Welt, gefeiert als hinge­bungs­voller Solist und passio­nierter Bühnen­mensch mit bril­lanter Technik und ebenso direktem wie tief­grün­digem Zugang zu den jewei­ligen Stücken.

Buch­binder hat das Haus einst selbst entworfen und sein Arbeits­zimmer unter dem Giebel so geplant, dass er vom Flügel aus durch die breiten Glas­fronten auf die Wiener Hügel blicken kann. Auf der einen Seite des Raumes stehen zwei Steinway-Flügel, daneben thront die Beet­hoven-Büste, dahinter erstre­cken sich prall­ge­füllte Regal­wände mit Buch­bin­ders Samm­lung von Auto­grafen und Erst­aus­gaben, dem kompletten Werk von Schost­a­ko­witsch zum Beispiel, oder allein 39 unter­schied­li­chen Erst­aus­gaben der Beet­hoven-Klavier­so­naten.

Auf der anderen Seite des Raumes nimmt der Pianist auf einem grauen Sofa mit aufge­druckten Klavieren Platz, nippt am „Kleinen Braunen“, öffnet später eine Cola und springt während des Gesprächs immer wieder unver­mit­telt auf. „Passen Sie auf, ich zeige Ihnen etwas“, ruft er inspi­riert, eilt hinüber zur Regal­wand und zieht ziel­si­cher das jewei­lige Stück heraus, von dem gerade die Rede war. Über den Flügel gebeugt – man geht mit Buch­binder dann auf Erkun­dungs­tour im Nota­ti­ons­text –, empört er sich über fehler­hafte Verlags­ein­tra­gungen, entdeckt den Geschäfts­sinn eines Diabelli und Beet­ho­vens Vorliebe für Sforzati.

Rudolf Buchbinder

»Ich fühle mich Beet­hoven mensch­lich sehr oft sehr nahe.«

Das Haus von Rudolf Buch­binder und seiner Frau ist eine Schatz­kiste, prall gefüllt mit Zeug­nissen eines reichen Künst­ler­le­bens. Unzäh­lige Bilder, Andenken und Widmungen an den Wänden und auf den Anrichten erzählen von Buch­bin­ders Sinn für Kunst und seiner Freude an Gesel­lig­keit. Im Gespräch zeigt er sich denn auch als emotio­naler, char­manter und wohl­tuend geer­deter Künstler mit wachem Blick, einem faszi­nie­renden Wissens­schatz und reich­lich Wiener Schmäh.

Das „B“ neben der Klingel könnte längst auch für „Beet­hoven-Experte“ stehen. Allein 60 Mal hat Buch­binder sämt­liche Klavier­so­naten von welt­weit aufge­führt – „Es ist verrückt. Jeder hat einen Vogel“, sagt Buch­binder und lacht. Die Musik Beet­ho­vens hat den Pianisten schon früh in den Bann gezogen, und in gewisser Weise spürt er eine Seelen­ver­wandt­schaft zu dem Kompo­nisten. „Ich fühle mich ihm mensch­lich sehr oft sehr nahe“, sagt Buch­binder, und in all den Jahr­zehnten der immer wieder neuen und akri­bi­schen Ausein­an­der­set­zung mit Beet­ho­vens Werk hat er hinter der Musik einen außer­ge­wöhn­lich facet­ten­rei­chen und gefühls­in­ten­siven Menschen kennen­ge­lernt.

Rudolf Buchbinder

»Beet­hoven war ein Mensch, der sein Leben lang nach Liebe und Wärme gesucht hat.«

„Beet­ho­vens Musik ist absolut persön­lich“, sagt Buch­binder, und jede einzelne Note spiegle den Gefühls­zu­stand ihres Schöp­fers wieder. So wisse man beispiels­weise sofort, ob Beet­hoven verliebt gewesen sei. Meist sei die Tonart dann Es-Dur – „da wird Beet­hoven immer senti­mental, fast banal“, sagt Buch­binder und lächelt. Über­haupt ist Beet­hoven für ihn ein Roman­tiker im eigent­li­chen Sinne. „Beet­hoven ist der einzige Kompo­nist in der Musik­ge­schichte, der nach einem ‚espres­sivo‘ ‚a tempo‘ schreibt“, stellt Buch­binder fest. „Er war ein Mensch, geprägt von Sehn­sucht“ – jemand, „der sein Leben lang nach Liebe und Wärme gesucht hat.“ Dabei sei Beet­hoven ja fraglos ein sozialer Typ gewesen. „Er liebte die Gesell­schaft – und dann hat er fast nichts mehr gehört. Das muss schreck­lich gewesen sein“, sagt Buch­binder.

Das Heili­gen­städter Testa­ment ist für Buch­binder das Schlüs­sel­werk, wenn es um ein tiefer­ge­hendes Verständnis von Beet­ho­vens Musik geht. „Es ist eines der erschüt­terndsten Dinge, die ein junger Mensch schreiben kann.“ Mit gängigen Zuschrei­bungen wie „der Titan“ kann Buch­binder indes über­haupt nichts anfangen. „Das ist der aller­größte Blöd­sinn“, empört er sich ener­gisch und wischt mit der Hand durch die Luft.

Brett Dean schreibt für Rudolf Buchbinder
Schrieb Varia­tion for Rudi für Rudolf Buch­binder: der Kompo­nist Brett Dean
(Foto: © Bettina Stoess)

Zum Beet­hoven-Jahr hat sich Buch­binder mit den Diabelli-Varia­tionen nun noch einmal eines seiner Lebens­werke vorge­nommen und den Grund­ge­danken des Varia­ti­ons­rei­gens span­nend fort­ge­sponnen. So hat er für das Doppel­album „The Diabelli Project“ nicht nur Beet­ho­vens Diabelli-Varia­tionen einge­spielt, sondern sie darüber hinaus ergänzt um eine Auswahl jener Werke, die zu Diabellis Thema von anderen Kompo­nisten wie oder Franz Schu­bert kompo­niert wurden.

Bred Lubman ließ sich von Beethovens Diabelli-Variationen inspirieren und komponierte für Rudolf Buchbinder.
Schrieb Varia­tions für RB für Rudolf Buch­binder: der Kompo­nist Bred Lubman
(Foto: © Peter Serling)

Buch­binder schlägt den Bogen auch in die Gegen­wart und hat bei zeit­ge­nös­si­schen Kompo­nisten, darunter Brett Dean, und Chris­tian Jost, eine neue „Diabelli Varia­tion“ in Auftrag gegeben. Es sind furiose, äußerst unter­schied­liche und oft waghalsig schwere Stücke geworden – und nicht selten Liebes­er­klä­rungen an Rudolf Buch­binder. For Rudolf Buch­binder in admi­ra­tion, Varia­tion for RB oder Rock it, Rudi! – die Titel spre­chen für sich. „Die entstan­denen Stücke sind unheim­lich span­nend“, freut sich Buch­binder. „Da sieht man die ganze Palette, die ganze Viel­falt der Kompo­nisten und Möglich­keiten.“

Christian Jost ließ sich von Beethovens Diabelli-Variationen inspirieren und komponierte für Rudolf Buchbinder.
Schrieb Rock it, Rudi! für Rudolf Buch­binder: der Kompo­nist Chris­tian Jost

Buch­binder selbst hat nie ernst­haft mit dem Kompo­nieren ange­fangen. „Wissen Sie“, sagt er, deutet auf die akri­bisch sortierten Noten­bände in den Regalen und legt belus­tigt den Kopf zur Seite: „Ich bin ja sehr orga­ni­siert. Ich hab« ein Prinzip: Ich will nicht eine Sekunde mit Suchen vergeuden. Aber meine einzige eigene Kompo­si­tion habe ich so verräumt, dass ich heute nicht mehr weiß, wo sie ist. Weil sie so schreck­lich ist. Das war ein Klavier­trio, ein kurzer Satz. Schreck­lich.“

Rudolf Buchbinder

»In den Diabelli-Varia­tionen spie­gelt sich Beet­ho­vens gesamtes Leben wider.«

Der „Mikro­kosmos“ der Diabelli-Varia­tionen habe ihn sein Leben lang begleitet, erzählt er. „In den Diabelli-Varia­tionen spie­gelt sich Beet­ho­vens gesamtes Leben wider, und sie tragen sämt­liche Charak­ter­züge in sich: Sie sind melan­cho­lisch, sie sind heiter, drama­tisch, schwer­mütig, traurig, humor­voll – es ist alles drin in diesen Stücken.“ Buch­binder liegt diese direkte Emotio­na­lität von Beet­ho­vens Musik, die Ballung der Extreme. Viel­leicht auch deshalb, weil er selbst stets 100 Prozent gibt und fade Kompro­misse verwei­gert. Seine eigenen Ansprüche seien mit den Jahren nur gestiegen, erklärt er. Schließ­lich gelte es, die Erwar­tungen des Publi­kums nicht nur zu erfüllen, sondern sie zu über­treffen.

Im Wiener Musik­verein gebe es da ja diesen schreck­li­chen langen Gang vom Künst­ler­zimmer zur Bühne. „Ich vergleiche ihn immer mit diesem Gang, durch den die Löwen in den Zirkus laufen müssen“, sagt Buch­binder. Und dass er heute vor seinen Auftritten viel nervöser sei als in seinen jungen Jahren. Die Anspan­nung sieht man ihm nicht an, und erlebt man ihn in der „Manège“, so scheint er mehr denn je aus dem Vollen zu schöpfen.

Mit feinst austa­rierter Anschlags­kultur meißelt Buch­binder jedes Detail des Noten­textes heraus und betört im selben Moment mit spie­le­ri­scher Frei­heit im Ausdruck und der klin­genden Reife und Lebens­weis­heit eines unent­wegt Fühlenden und Forschenden. Als junger Mensch sei man „unfrei, unfle­xibel und into­le­rant – einem Rubato gegen­über zum Beispiel“, so Buch­binder. Mit dem Alter wachse die innere Frei­heit, so sieht er es. Und wirk­lich: Mit der persön­li­chen Entwick­lung gewinnen auch die jewei­ligen Stücke, die er wieder und wieder aufführt, an Tiefe und subjek­tiver Ausdrucks­kraft.

Rudolf Buchbinder

»Ich höre mich selber extrem ungern, das macht mich so nervös.«

Unzäh­lige Konzerte hat Buch­binder in den vergan­genen sechs Jahr­zehnten bestritten. Mit dem Publikum hat der Künstler in all den Jahren viel erlebt, und so sehr er die Bühnen­si­tua­tion liebt und den Zauber des Live-Moments, so sehr amüsiert er sich auch über manche Rück­mel­dungen der Zuhörer. „Das Publikum ist lustig mitunter. Ich habe einmal einen Klavier­abend mit der Mond­schein­so­nate gegeben. Ich habe als Zugabe zum Spaß den letzten Satz noch mal gespielt. Danach kamen die Leute zu mir ins Künst­ler­zimmer und fragten: ‚Was war die zweite Zugabe?‘ Es ist alles möglich“, sagt Buch­binder nur und hebt lachend die Hände in die Höhe. „Die blödeste Sache aber ist, wenn nach dem Konzert jemand ins Künst­ler­zimmer kommt und wissen will: ‚Are you happy?‘ Entsetz­lich. Oder noch etwas Schlimmes: Man spielt einen Klavier­abend, und dann kommt danach so ein oberg’scheiter Bekannter und sagt: ‚Mein Gott, na: Der lang­same Satz von der Pathé­tique – fantas­tisch!‘ Dann frage ich schon nach: ‚Und alles andere war schlecht?‘“

Heute ist Rudolf Buch­binder mitten im Fluss seiner künst­le­ri­schen Entwick­lung und Karriere, die im stetigen Crescendo weiter­strömt. Ein Ziel ist nicht in Sicht, ein Abklingen erst recht nicht. Der Pianist wirkt zufrieden und umtriebig, rastlos und erfüllt zugleich: ein leiden­schaft­li­cher Diener der Musik, der auch unzäh­lige Mal studierten und gehörten Werken neue Wendungen entlockt und im Konzert ganz bewusst immer wieder den Charme des ersten Mals herauf­be­schwört. „Schauen Sie: Ein Maler malt ein Bild, und das hängt dann, bis es zerstört wird, an einer Wand, und der Betrachter muss seine Fantasie spielen lassen. Wenn ich nun die Appas­sio­nata heute spiele, spiele ich sie morgen womög­lich ganz anders.“ Natür­lich gebe es keinen grund­sätz­li­chen Inter­pre­ta­ti­ons­un­ter­schied, aber kleine Details seien eben doch neu und anders. Deshalb ist Buch­binder aller Doku­men­ta­tion zum Trotz auch kein großer Freund von Aufnahmen.

Frühere Einspie­lungen von sich hört sich Buch­binder grund­sätz­lich nicht an, es sei denn, es handelt sich um wirk­lich histo­ri­sche Mitschnitte, Aufnahmen aus seiner Kind­heit zum Beispiel. „Die meisten meiner CDs sind noch origi­nal­ver­packt“, sagt Buch­binder lapidar. „Ich höre mich selber extrem ungern, das macht mich so nervös. Ich halte mein Spielen nicht aus. Meine Frau darf das im Auto hören, wenn sie will.“ An seine Inter­pre­ta­tion der Diabelli-Varia­tionen von 1973 kann er sich nicht erin­nern, sagt er, und auch seine Erst­ein­spie­lung der Beet­hoven-Sonaten könne er sich nicht anhören. „Das bin ich heute nicht mehr“, sagt Buch­binder. Die Erkenntnis scheint ihn zu beglü­cken.

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Website des Grafenegg Festivals, das Rudolf Buchbinder künstlerisch leitet: www.grafenegg.com

Website Rudolf Buchbinder: www.buchbinder.net

 

Fotos: Rita Newman