„Parole e Testi”: Salvatore Sciarrino: „L’alibi della parola“ und „Tre canti senza pietre”, Luigi Nono: „Polifonica – Monodia – Ritmica” und „Sarà dolce tacere”, Schola Heidelberg, ensemble aisthesis, Walter Nußbaum (Divox)

ensemble aisthesis

Das Aben­teuer der Rekon­struk­tion

von Roland H. Dippel

10. September 2020

Das ensemble aisthesis unter Walter Nußbaum legt eine von intensiver Achtsamkeit getragene Aufnahme von Luigi Nonos Orchesterwerk Polifonica – Monodia – Ritmica vor.

Es ist nicht bekannt, warum der Diri­gent Hermann Scher­chen Luigi Nonos Poli­fo­nica – Monodia – Ritmica für die Urauf­füh­rung bei den Darm­städter Feri­en­kursen 1951 auf ein Drittel zusam­men­ge­stri­chen hatte. Die Rekon­struk­tion der inzwi­schen regel­mäßig aufge­führten Urfas­sung von acht auf 18 Minuten geriet für das ensemble aisthesis im Jahr 2005 zum Aben­teuer.

Komplexe Fragen

Luigi Nono im Jahr 1970
Reißt alle Brücken zum tradi­tio­nellen Hörver­ständnis ein: (Foto: © Joost Evers / Anefo)

Durch die Verwen­dung von Nonos ursprüng­li­chem Stim­men­ma­te­rial ergaben sich komplexe Fragen hinsicht­lich Tempo, Arti­ku­la­tion, Spiel­weise und Phra­sie­rung. Deshalb benutzte der Diri­gent Walter Nußbaum eine aus mehreren Quellen zusam­men­ge­stellte Partitur. Nonos verschie­dene Inter­pre­ta­ti­ons­an­gaben und erkun­dete Ausfüh­rungs­mög­lich­keiten waren darin zusam­men­ge­tragen.

An der Grenze zur Unhör­bar­keit

Die Umset­zung all dieser Infor­ma­tionen stellte die Musiker bei ihrer Welt­er­stein­spie­lung der Urfas­sung des Werks, das Nono der brasi­lia­ni­schen Kompo­nistin und beken­nenden Kommu­nistin Eunice Katunde gewidmet hatte, vor große Heraus­for­de­rungen: Die Urfas­sung beginnt mit einem einmi­nü­tigen Pianis­simo an der Grenze zur Unhör­bar­keit.

Der agita­to­ri­sche Gestus

Scher­chen ging es damals, wie im Bonus­track mit dem Urauf­füh­rungs­mit­schnitt nach­hörbar, neben einem Ausgleich dyna­mi­scher Extreme um eine drama­ti­sche, atta­ckie­rende Haltung. Er wollte damit den agita­to­ri­schen Gestus im Werk des Links­in­tel­lek­tu­ellen Nono heraus­ar­beiten.

Spielt Luigi Nono: das ensemble aisthesis
Spielt mit behut­samer und inten­siver Acht­sam­keit: Das ensemble aisthesis
(Foto: © Thilo Ross)

Die im Sende­saal des Hessi­schen Rund­funks aufge­nom­mene Rekon­struk­tion von ensemble aisthesis ist dagegen getragen von behut­samer und inten­siver Acht­sam­keit für alle Mikro­werte der Tonerzeu­gung. Noch immer faszi­nieren Nonos Kompo­si­ti­ons­ver­fahren, welche alle Brücken zum tradi­tio­nellen Hörver­ständnis einreißen, seine auch in der langen Urfas­sung trag­fä­hige Rhyth­mi­sie­rung und die Viel­zahl erfor­der­li­cher Spiel­tech­niken.

Ein wich­tiges Doku­ment der Nono-Rezep­tion

J. Marc-Reichow gefällt es in seinem Booklet-Text, Nono vor besserer Verständ­lich­keit zu schützen und das Geheimnis von dessen künst­le­ri­schem Schaffen zu perp­etu­ieren. Auch in diesem Sinne ist die CD-Neuerschei­nung ein wich­tiges Doku­ment der Nono-Rezep­tion der letzten Jahr­zehnte.

Widmet sich Salvatore Sciarrino und Luigi Nono: das Vokalensemble SCHOLA HEIDELBERG
Widmet sich den Kompo­si­tionen Luigi Nonos und Salva­tore Sciar­rinos: das Vokal­ensemble SCHOLA
(Foto: © Thilo Ross)

Eine Brücke Nonos zu Salva­tore Sciar­rinos L’alibi della parola – Des Wortes Alibi besteht darin, dass beide um die Bezie­hung zwischen schrift­lich fixiertem Mate­rial und der Tonpro­duk­tion ringenden Kompo­nisten immense Anstren­gungen unter­nahmen, um ihre Musik durch poli­ti­sche Theo­rien und Verweise auf die Kultur­ge­schichte zu legi­ti­mieren.

Atem, Töne und Silben

Gesun­gene und gespielte Phoneme lassen zwischen Erzeu­gung und Erklingen eine Viel­zahl von Asso­zia­tionen zu. Sinn­haf­tig­keit wird abstra­hiert. Atem, Töne und Silben eman­zi­pieren sich von Zeichen zu auto­nomen Ausdrucks­trä­gern. Eine spröde und dabei bezwin­gende Antho­logie mit Werken von zwei der wich­tigsten Köpfe der Neuen Musik Italiens. 

Fotos: Divox