Porträt von CRESCENDO Autor Axel Brüggemann

Klassiktheater

Seid ihr alle da?

von Axel Brüggemann

9. Oktober 2017

Manchmal wäre es gut, wenn wenn sich die Erwachsenen des Klassiktheaters an ihre eigene Kindheit erinnerten.

Was und ich gemeinsam haben? Wir haben beide die Welt der Oper über das Puppen­spiel entdeckt. Bei mir war es mein erstes Puppen­theater, mit dem ich vor heimi­schem Wohn­zimmer-Publikum immer wieder die Zauber­flöte aufge­führt habe. Die Kassette mit der legen­dären Edda-Moser-Aufnahme war vor lauter Wieder­ho­lungen schon ausge­leiert. Aus Mangel an Figuren musste Kasper den Tamino geben, und der Räuber Hotzen­plotz den Sarastro, die Schlange des ersten Aktes habe ich mir aus Papier gebas­telt. Bis heute bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie jede neue Auffüh­rung geduldig ertragen und mit reichem Applaus gewür­digt haben.

Richard Wagner hat indes schon als Kind größer gedacht als ich: Zu seinem zehnten Geburtstag beschloss er, vor seiner Mutter, den Schwes­tern und Haus­lehrer Humann sein erstes Gesamt­kunst­werk – natür­lich mit selbst verfasstem Text – zu präsen­tieren. Er hatte seine Open-Air-Puppen­bühne bei einem Pick­nick im Lock­witzer Grund bei Dresden aufge­baut. Bei seinem Stück handelte es sich um ein Ritter­drama, das eher unfrei­willig in einer Götter­däm­me­rung endete, als ein Sturm aufzog, das Theater vom Wind erfasst und in die Natur geblasen wurde. Dennoch: Das Puppen­theater war für Richard Wagner die erste Möglich­keit, seiner Krea­ti­vität Ausdruck zu verleihen, eine Welt, die nach seinem Wunsch und Willen tanzte, ein Kosmos, mit dem er seine Zuschauer verzau­bern wollte. Die kleinste Form der thea­tralen Illu­sion und viel­leicht deshalb auch die krea­tivste, phan­ta­sie­vollste und gren­zen­lo­seste.

Sinn­bild unserer Gesell­schaft

Kein Wunder, dass das Puppen­theater die meisten Kinder begleitet hat. Wenn nicht im Spiel­zimmer oder im Kinder­garten, so zumin­dest im Fern­sehen. Egal, ob Jim Knopf mit seiner Loko­mo­tive durch die Augs­burger Puppen­kiste gefahren ist und wir mit den Puppen der Sesam­straße „Ma-Na-Ma-Na“ gesungen haben – und hier auch den ersten Auftritt von alias „Plácido Flamingo“ bestaunt haben! Heute wissen wir, dass Puppen­theater kein Kinder­kram ist. Wer jemals eine profes­sio­nelle Puppen­bühne besucht und sich hat verzau­bern lassen, weiß von welch großer Kunst im Kleinen hier die Rede ist. Wenn auch etwas belä­chelt, ist das Puppen­theater heute weit­ge­hend insti­tu­tio­na­li­siert und fester Bestand­teil unserer Thea­ter­kultur.

Viel­leicht liegt das daran, dass sein Mecha­nismus uns alle begeis­tert: Eine Welt mit den eigenen Fingern zu erschaffen, seine eigene Geschichte in einem abge­schlos­senen Raum zu erzählen und – vor allen Dingen – die Puppen nach seinem Willen tanzen zu lassen. Kurzum, das Puppen­theater ist Sinn­bild unserer Gesell­schaft und wird, nicht ganz ohne Grund, immer wieder heran­ge­zogen, um komplexe Mecha­nismen zu erklären. Das Puppen­theater kennt klas­si­sche Charak­tere: den Kasper, den Seppel, das Krokodil. Wer sind diese Charak­tere in unserer Wirk­lich­keit? Wer erfindet die Welt, in der wir uns bewegen? Und wer zieht welche Strippen? Wer ist Puppen­spieler? Wer wird gespielt? Und wer ist Zuschauer?

Das Publikum als Teil der Auffüh­rung

Auch das Klassik-Theater funk­tio­niert am Ende wie ein Puppen­theater. Eine eigene Welt, in der manche die Strippen ziehen und andere zuschauen, klat­schen oder frus­triert den Applaus verwei­gern. Mit dem ECHO-Klassik wird nun wieder ein solches Puppen­theater aufge­führt werden. Dabei ist es ja gut und wichtig, dass die klas­si­sche Musik diese Bühne hat. Was auf ihr passiert, ist zuweilen aber vorher­seh­barer als jedes Puppen­theater. In der Regel präsen­tiert Kasper seine Perso­nage, die – und das ist erstaun­lich – nicht wirk­lich nach den Krite­rien des Könnens oder der musi­ka­li­schen Span­nung ausge­sucht wird, sondern danach, ob sie bekannt ist, danach, ob sie dem einge­übten Rollen­kli­schee entspricht: Der Geiger mit dem Leder­arm­band, die Sopra­nistin, die Mal Putz­frau war, der Tenor, dem die Herzen zufliegen. So plät­schert die Auffüh­rung dann oft dahin: Ein Sänger-Name folgt auf den anderen, Raum für persön­liche Gespräche oder echte Emotionen – Fehl­an­zeige. Lauda­toren verlesen ihre glatt geschlif­fenen Lauda­tiones. Wer auftritt, bestimmen die Major-Labels und der Fern­seh­sender, in der Regel nach dem Motto: Wer schon sehr bekannt ist, dem geben wir eine Platt­form. Das Fern­sehen scheint dem Publikum nicht zuzu­trauen, auch das Andere, das viel­leicht etwas Anstren­gen­dere, das Neue, das Verblüf­fende zu verstehen und die Klassik, die voller Begeis­te­rung und Leiden­schaft ist, auf die Bühne zu stellen.

Ein erfah­rener Puppen­spieler aber liebt seinen Beruf auch deshalb, weil das Puppen­spiel spon­taner reagieren kann als das große Theater. Im Puppen­theater ist die Bühne greifbar, die Kinder davor werden aktiv zum Mitma­chen und zum Rein­rufen aufge­for­dert. Rituell wird gefragt: „Seid Ihr alle da?“ – und der Publi­kums-Chor antwortet: „Ja!“ Natür­lich geben Kinder dem Kasper Hinweise, wo sich das Krokodil versteckt. Und das ist nicht alles. Die Spon­ta­nität und die Impro­vi­sa­tion sind eben­falls Teil eines guten Puppen­thea­ter­stücks. Der gute Puppen­spieler schafft es, seinen Zuschauern das Gefühl zu geben, dass ohne sie die Hand­lung über­haupt nicht zu Stande kommen würde, dass sie entscheiden, wie es weiter­geht. Das Puppen­theater ist quasi ein offenes Kunst­werk, dessen Größe und Magie auch darin besteht, das Publikum zum Teil der Auffüh­rung zu machen.

Ein merk­wür­diger, lebens­ferner Elfen­bein­turm

Es scheint mir einer der größten Fehler des aktu­ellen Klassik-Puppen­thea­ters zu sein, dass es genau diesen Mecha­nismus vernach­läs­sigt. Viele Veran­stalter unter­schätzen ihr Publikum. Oft wirkt es, als wäre das Klassik-Publikum entmün­digt. Nicht nur im Fern­sehen, sondern auch an vielen unserer Theater. Der direkte Kontakt zum Publikum findet oft nicht mehr statt, wenn Inten­danten Spiel­pläne für das Feuil­leton aufstellen oder so stri­cken, dass ihr künst­le­ri­sches Ego befrie­digt wird. Oft genug wendet sich das Publikum dann ohne großes Geschrei ab. Es bestellt Abos für die MET-Über­tra­gungen im Kino, wo es sich allein durch die Blicke hinter die Kulisse ernst­ge­nommen fühlt. Unser Opern-Theater droht zu einem merk­wür­digen, lebens­fernen Elfen­bein­turm zu werden.

Inten­danten und Konzert­ver­an­stalter wären gut beraten, sich an die kleinste aller Bühnen, an das Puppen­theater, zu erin­nern. Das Puppen­theater, mit dem wir als Kinder aufge­wachsen sind, hat uns den Zugang zur Bühne eröffnet. Und zwar durch seine Unmit­tel­bar­keit und dadurch, dass gerade mit einge­schränkten Mitteln die Phan­tasie des Zuschauers nötig wird, um das Zauber­reich der Illu­sion herzu­stellen. Das Puppen­theater erin­nert uns immer wieder an die Urtu­genden des Thea­ters und der Bühne. Daran, dass eine gute Auffüh­rung immer auch ein Dialog zwischen den Strip­pen­zie­hern und ihrem Publikum ist. Daran, dass die Illu­sion immer im Kopf der Zuschauer entsteht. Dass große Kunst offen ist, um die Gedanken, die Gefühle und die Sehn­süchte des Publi­kums zu inte­grieren. Vor allen Dingen aber daran, dass die Bühne ein Raum ist, in dem Stereo­type zwar ange­legt sind, aber nur, um mit ihnen zu spielen, um unsere Erwar­tungen auf den Kopf zu stellen, um das Publikum heraus­zu­for­dern und nicht mit billigen Tricks zu bedienen.

Richard Wagner hat mit dem Puppen­theater im Lock­witzer Grund sein Gesamt­kunst­werk ange­legt. Eine Form des Thea­ters, die nicht allein aus der Einheit von Musik, Text und Bühnen­bild besteht, sondern die den Vorhang zwischen Publikum und Auffüh­renden herun­ter­reißt, in der die insze­nierte Welt mit der wahren Welt verbunden wird, in der Kunst und Realität mitein­ander verschmelzen.

Fotos: Porträt von CRESCENDO Autor Axel Brüggemann