Sofia Gubaidulina

„Was ich zum Klingen bringe, ist meine Seele“

von Ruth Renée Reif

23. Oktober 2021

Unbeirrbare Eigenständigkeit kennzeichnet ihr kompositorisches Schaffen. Die Grande Dame der Avantgarde Sofia Gubaidulina wird 90 Jahre alt.

folgt dem Ausdruck ihrer inneren Wahr­heit. Mit eigen­wil­ligen Spiel­tech­niken sucht sie nach neuen Klängen, erprobt Formen und Struk­turen und schafft in ihren Werken immer wieder neue Verbin­dungen von Text und Musik. Den Wunsch zu kompo­nieren trug sie bereits von frühester Jugend an in sich.

Sofia Gubai­du­lina: Der Zorn Gottes, urauf­ge­führt mitten im Lock­down vom Radio-Sympho­nie­or­chester unter im leeren Wiener Musik­verein beim Musik­fes­tival Wien Modern

Als Tochter eines tata­ri­schen Inge­nieurs und einer russi­schen Lehrerin in Tschis­topol geboren, studierte Sofia Gubai­du­lina von 1949 bis 1954 am Konser­va­to­rium von Kasan Klavier und Kompo­si­tion. Anschlie­ßend setzte sie ihre Ausbil­dung bei Nikolai Pejko und Wissa­rion Sche­balin am Moskauer Konser­va­to­rium fort. Zu ihren wich­tigsten Vorbil­dern in jenen Jahren gehörte , dem sie auf Vermitt­lung Pejkos ihre Examens­ar­beit vorspielte. Seine anschlie­ßenden Worte wurden für sie wegwei­send: „Seien Sie Sie selbst, haben Sie keine Angst, Sie selbst zu sein.“

Als Schost­a­ko­witsch 1960 Mitglied der Kommu­nis­ti­schen Partei wurde, bedeu­tete dies für die meisten Ange­hö­rigen ihrer Gene­ra­tion eine große Enttäu­schung. Doch in Anbe­tracht der grau­samen Umstände, in denen er lebte, verzieh Gubai­du­lina ihm seine Schwäche: „… ich akzep­tiere ihn – denn ich sehe ihn als perso­ni­fi­zierten Schmerz, die Verkör­pe­rung der Tragödie und des Terrors unserer Zeit.“ Diese Tragik, die auch sein Denken bestimmte, beein­druckte sie sehr: „Wie tief er die exis­ten­zi­elle Tragik der Menschen in der Welt erfühlte und in seinen Werken zum Ausdruck brachte, gehört zu einen bewun­de­rungs­wür­digsten Fähig­keiten.“

Mysti­kerin der Musik

Ihren indi­vi­du­ellen musi­ka­li­schen Ausdruck fand Gubai­du­lina 1965 in den Minia­turen Fünf Etüden für Harfe, Kontra­bass und Schlag­zeug. „Von diesem Augen­blick an habe ich verstanden, dass ich auf niemand anderen mehr achten und nur noch das machen werde, was mir gefällt“, zitiert ihr Biograf Michael Kurtz ihren Entschluss. In der Folge entstanden die Werke Sonate für Schlag­zeug (1965), Panto­mime für Kontra­bass und Schlag­zeug (1966) sowie die Kantaten Nacht in Memphis (1968), eine Verto­nung altägyp­ti­scher Grab­in­schriften, und Rubayat (1969), mit denen Gubai­du­lina sich der mysti­schen Dich­tung Persiens zuwandte.

Als „Mysti­kerin der Musik“ wurde Gubai­du­lina immer wieder bezeichnet. „Die Musik hat sich auf natür­liche Weise mit der Reli­gion verbunden, der Klang wurde zu etwas Sakralem“, äußerte sie bereits in frühen Jahren. Später sprach sie häufig davon, dass der Kunst eine reli­giöse Aufgabe zukomme und sie im „Stac­cato“ des Lebens das „Legato“ wieder­her­stellen solle. Unter dem Eindruck der Gespräche mit der Pianistin Maria Judina unterzog sie sich am 25. März 1969 in der Moskauer Kirche des Propheten Elias der Taufe. Das kammer­mu­si­ka­li­sche Werk Concord­anzia aus dem Jahr 1971 belegt ihre geistig reli­giöse Einstel­lung zum Kompo­nieren und markiert zugleich den Beginn eines neuen Abschnitts in ihrem Schaffen.

Sofia Gubaidulina mit Wjatscheslaw Artjomow und Viktor Suslin
Sofia Gubai­du­lina Mitte der 1970er-Jahre mit ihren Kompo­nis­ten­kol­legen Wjat­scheslaw Artjomow und Viktor Suslin bei der Erpro­bung neuer Klänge
(Foto: © Viktor Suslin)

Mitte der 1970er-Jahre grün­dete sie mit den Kompo­nisten Wjat­scheslaw Artjomow und Viktor Suslin das Impro­vi­sa­ti­ons­en­semble Astraea: „Die Bedin­gung für Astraea war, dass wir nur unbe­kannte Instru­mente benutzten wie kauka­si­sche oder mittel- und ostasia­ti­sche Volks- und Ritu­alin­stru­mente. Natür­lich beherrschten wir diese Instru­mente nicht. Worauf es uns ankam, war, sie zu berühren und ihre Klang­räume zu erfor­schen. Diese Erfah­rung spielte für mich eine sehr große Rolle. Was ich berühre und zum Klingen bringe, ist meine Seele.“ Die klang­liche Impro­vi­sa­tion empfand sie „auf geheim­nis­volle Weise mit einer höheren Instanz des Daseins verbunden“.

Durch­sichtig vor Hunger und Erschöp­fung beschrieb der Freund und Kompo­nis­ten­kol­lege Nikolaj Karet­nikow in den 1970er-Jahren ihre Erschei­nung. Jahr­zehn­te­lang blieben ihr in der Sowjet­union Aner­ken­nung und öffent­li­ches Inter­esse versagt. Ihre Werke wurden kaum gespielt. Den Lebens­un­ter­halt verdiente sie sich mit dem Schreiben von Film­musik. „Das tota­li­täre Régime bestimmte die gesamte schöp­fe­ri­sche Tätig­keit“, erläu­terte sie in einem Gespräch. „Nur Künstler, die sich den kultur­po­li­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Vorgaben der Partei unter­warfen und in ihren Werken das Régime priesen, hatten eine Chance, aufge­führt, ausge­stellt oder veröf­fent­licht zu werden. Das führte zu einer totalen Hemmung jedes schöp­fe­ri­schen Entfal­tens, gleich­gültig auf welchem Gebiet. Ich spürte damals sehr deut­lich die nega­tiven Züge dieser Situa­tion und fasste den Entschluss, mich nicht in den ‚offi­zi­ellen Kultur­kreisen‘ zu bewegen. Wenn ich als Kompo­nistin wirken und musi­ka­li­sche Substanz gestalten wollte, musste ich frei sein.“ So schritt sie, unge­achtet der Schwie­rig­keiten und der poli­ti­schen Repres­sionen, denen sie ausge­setzt war, unbe­irrt auf ihrem Weg voran.

Reise durch die Seele

„Mir scheint, dass ich die ganze Zeit durch meine Seele reise, in eine bestimmte Rich­tung, immer weiter und weiter“, sagte sie einmal. „Einer­seits ist es immer das gleiche und ande­rer­seits – gleichsam immer neue Blätter, wie in der Natur…“. Das Violin­kon­zert Offer­to­rium (1980), das 1981 im Rahmen der mit zur Urauf­füh­rung kam, Die sieben Worte Jesu Christi am Kreuz (1982), Stimmen … verstummen… (1986), Pro et contra (1989), Und das Fest ist in vollem Gange (1993) sowie In Erwar­tung (1994) stellen reli­giös inspi­rierte Kompo­si­tionen dar.

In den 1980er-Jahren wendete sich allmäh­lich das Blatt. 1984 durfte sie zu den Musik­fest­wo­chen nach und damit zum ersten Mal in den Westen reisen. Zwei Jahre darauf erhielt sie die Geneh­mi­gung zu Gidon Kremers Kammer­mu­sik­fes­tival ins öster­rei­chi­sche Lockenaus zu reisen. Bei den Donau­eschinger Musik­tagen wurde 1992 ihr Orches­ter­lied Stunde der Seele mit Texten von Marina Zweta­jewa aufge­führt. 1997 widmete sie dem Cellisten Mstislaw Rostro­po­witsch zu dessen 70. Geburtstag ihre Verto­nung von Franz von Assisis Sonnen­ge­sang. Am 9. Februar 1998 spielte Rostro­po­witsch in der Alten Oper in die Urauf­füh­rung. „Mich als Cellisten lässt dieses Werk eine neue Stufe betreten, denn ich muss hier auch Schlag­zeug spielen“, erläu­terte Rostro­po­witsch. „Beim ersten Höhe­punkt des Werkes muss ich mehr­mals das Tamtam anschlagen.“ Nach dieser von Gubai­du­lina „Respon­so­rium“ genannten Episode kehrte er zu seinem Instru­ment zurück und erreichte in der „Verherr­li­chung des Todes“ das höchste Register seines Instru­ments.

Sofia Gubaidulina mit dem Dirigenten Philipp Ahmann und dem Cellisten Ivan Monighetti
Sofia Gubai­du­lina mit dem Diri­genten und dem Cellisten Ivan Moni­ghetti bei der Probe zum Fest­kon­zert, das der Chor mit der Reihe NDR das neue werk 2011 zu Ehren ihres 80. Geburts­tags gab
(Foto: © Kris­tien Daled, NDR)

Der Heraus­for­de­rung, ihr reli­giöses und musi­ka­li­sches Streben in einem opus summum zusam­men­zu­führen, stellte sich Gubai­du­lina im Auftrag der Inter­na­tio­nalen Bach-Akademie von Hell­muth Rilling, für das Projekt „Passion 2000“ die Leidens­ge­schichte nach Johannes zu vertonen. Um der Bericht­erstat­tung des Johannes eine „absolut außer­zeit­liche Konzep­tion“ gegen­über­zu­stellen, verbindet sie in ihrer Kompo­si­tion das Evan­ge­lium mit der Vision des Hell­se­hers Johannes vom Jüngsten Gericht. „Die lang ausge­hal­tenen Töne eines Instru­ments werden von Glis­sando-Klängen eines anderen durch­kreuzt; die Schnitt­punkte werden jedes Mal akzen­tu­iert“, erläu­tert sie. Auf diese Weise entsteht eine Art „Respon­so­rium“, in dem die Episoden der Johannes-Passion die Rolle der Fragen spielen, während die Rolle der Reak­tionen auf die Fragen von den Abschnitten der Apoka­lypse über­nommen wird. Abge­fasst in Kirchen­sla­wisch, ist die Kompo­si­tion vor allem als persön­li­ches Bekennt­nis­werk zu verstehen. „Ich liebe Jesus so wie ihn Johannes sieht“, begrün­dete Gubai­du­lina ihre Inter­pre­ta­tion. „Die Kluft zwischen den Konfes­sionen macht mich traurig, das Urchris­tenrum war anders gestimmt. Jesus lebt in unseren Herzen und nicht im Dogma. So habe ich mich entschlossen, ein über­kon­fes­sio­nelles Werk zu schreiben.“

Ann-Sophie Mutter über das ihr gewid­mete zweite Violin­kon­zert In tempus prae­sens von Sofia Gubai­du­lina, das sie beim mit den Berliner Phil­har­mo­ni­kern unter Simon Rattle urauf­führte.

2005 fasste sie die drei Kompo­si­tionen Die Leier des Orpheus, The Deceitful Face of Hope and of Despair sowie Das Gast­mahl während der Pest zu dem Tripty­chon Nadejka zusammen und widmete es ihrer 2004 verstor­benen Tochter Nadeschda. Im Rahmen des BBC Composer’s Weekend in London kam es unter der Leitung von Martyn Brab­bins zur Urauf­füh­rung. Für kompo­nierte sie 2007 ihr zweites Violin­kon­zert In tempus prae­sens, das mit den Berliner Phil­har­mo­ni­kern unter beim Lucerne Festival zur Urauf­füh­rung kam.

Lucerne Festival 2007 mit Anne-Sophie Mutter
Beim Lucerne Festival 2007: Anne-Sophie Mutter und die unter Sir Simon Rattle brachten Sofia Gubai­du­linas zweites Violin­kon­zert In tempus prae­sens zur Urauf­füh­rung
(Foto: © Georg Anderhub / Lucerne Festival)

2017 schrieb sie das Tripel­kon­zert für Violine, Cello und Bajan, ein Instru­ment, das sie beson­ders schätzt: „Mit keinem anderen Instru­ment lässt sich dieses ‚Atmen« erzeugen.“ Ihr Beet­hoven gewid­metes Orches­ter­werk Der Zorn Gottes wurde 2020 beim Musik­fes­tival Wien Modern während der Pandemie vom Radio-Sympho­nie­or­chester Wien unter Oksana Lyniv im leeren Wiener Musik­verein gespielt und via Stream verbreitet.

Fotos: Bruno Caflisch, F. Hoffmann-La Roche Ltd, Wien Modern