Tobias Moretti
Das Begreifen von Leben und Sterben
20. Dezember 2020
Der österreichische Schauspieler Tobias Moretti zeichnet in dem Film »Louis van Beethoven« ein Bild des Komponisten, das Genie und Mensch miteinander verwebt. Ein Psychogramm, so verstörend wie faszinierend.
CRESCENDO: Auf Beethoven können sich alle einigen. Er sieht aus wie ein Rockstar, hat wilde Musik geschrieben, hat radikal seine Meinung gesagt. Wie entgehen Sie als Darsteller dem allzu Wohlfeilen?
Tobias Moretti: Das ist ein Klischee der 70er-Jahre, als er ein Teil der Popkultur wurde. Heute ist er zur Dauerattraktion verdammt. Zugleich ist das, was ihn als politischen Menschen seiner Zeit ausmacht, total in Vergessenheit geraten. Das hat er nicht verdient. Insofern ist jede Form von Beschäftigung mit ihm, auch der Film Louis van Beethoven, entscheidend und wichtig.
Der Film erzählt ganz klassisch Beethovens Leben in einer Rahmenhandlung mit Rückblenden.
Meine Rolle ist der Beethoven, den wir kennen, in seinen letzten Lebensmonaten als tauber Mensch. Es geht darum, diesen vorausschauenden Geist zu begreifen in seiner Radikalität, aber auch im Scheitern, in der Nichtbewältigung seiner Lebensumstände.
»Die Rückführung auf ein einzelnes Wort, auf eine einzelne Melodie, das ist doch das Begreifen von Leben und Sterben.«
Der Handlungsabriss liest sich fast wie ein Lexikoneintrag. Wenn man einen historischen Film macht – ich denke an Monumentalwerke wie Der Untergang –, suggeriert man damit nicht unweigerlich: Genau so war’s? Können Sie die Distanz noch deutlich machen, den hypothetischen Charakter?
Als Schauspieler ist das für mich relativ einfach: Es ist die Behauptung, so könnte es gewesen sein. Und die Behauptung ist nachvollziehbar: in der Verzweiflung, auch in der Banalität im Kampf mit dem alltäglichen Leben. Ein musikalisches Genie, dessen Schicksal es seit 30 Jahren ist, von der Außenwelt akustisch abgeschnitten zu sein: Das macht einem sofort einen Weg frei in seine Innenwelt.
Wo er selbst doch das Gefühl hatte, dass ihn niemand verstand. Und vermutlich zu Recht.
In seiner politischen Reflexion, in der Gesellschaftsreflexion ist er ganz klar. Seine Radikalität zeigt sich im Umbruch seiner kompositorischen Mittel. Aber neben dieser Klarheit nach außen steht eine völlig andere Wahrnehmung der Innenwelt. Dieser Widerspruch macht ihn zu einem Menschen, der niemandem traut, der ständig Aggressionen hegt, den nicht mal die eigenen Musiker mehr verstehen. In seinem Fortwirken, in seinem Drang, seinem Druck, seinem Müssen geht er völlig neue Wege. Aber er muss sie alle mit sich ausmachen, denn er weiß nicht, wie die Außenwelt sie wahrnimmt. Wir sehen das in der Großen Fuge…
…die im Film leitmotivischen Charakter hat.
Sie ist etwas so Unglaubliches. Sie hören Alban Berg, Sie hören Schönberg. Und hören dann, wie die Musik zum Einfachen zurückfindet, zur Harmonie, wie sie wieder zur Essenz wird. Das ist eine fast göttliche Vorgabe dessen, was wir als Menschen können und vermögen. Dass wir Dinge begreifen, die man eigentlich nicht begreifen kann. Die Rückführung auf ein einzelnes Wort, auf eine einzelne Melodie, das ist doch das Begreifen von Leben und Sterben. Genau das macht ein Genie aus. Genau das macht dieses Genie aus.
Es gibt zu Beethoven sehr viele Zeitzeugnisse, und es gibt sein Werk. Wie haben Sie ihn von dort aus emotional verstehen gelernt?
Wie spielt man jemanden, der nichts hört? Zunächst ganz profan. Ich habe mir Ohrenstöpsel reingetan. So kann ich so eine Figur natürlich nicht spielen, aber von dort kam ich dann schnell dahin, mich in einer abgekapselten Innenwelt zu fühlen: Was im Außen geschieht, nehme ich nicht mehr wirklich wahr. Sondern nur das, von dem ich mir einbilde, dass es außen vor sich geht.
Und das entfernt Sie von der Welt.
Das entfernt mich. Diese Entfernung befördert das paranoide Interpretieren, und daraus erwächst eine ständige Irritation. Boshaftigkeit. Sarkasmus. Zynismus. Misanthropie. Beethoven ist immer begleitet von Satellitengebilden der eigenen Wahrnehmung. Das ist schrecklich. Ich habe am dritten Drehtag eine Mandelentzündung bekommen und habe meiner Ärztin geschrieben. Dann fragte sie: „Was machst du denn gerade – ah, Beethoven – ja, wie geht’s dir denn?“ Ich habe ein privates Foto geschickt. Und sie hat geantwortet: „Man sieht, dass er nichts hört.“
So weit war die Identifikation fortgeschritten?
Soweit hatte sich die Figur eingegraben. Und wenn das gelingt im Film, dann ist der Grundzustand erreicht, von dem ich ausgehen kann.
»Ich habe ein Glück in meinem Leben: dass ich so ein Überlebenstier bin. Einer, der ein bissl misstrauisch ist und immer vorm Abgrund Angst hat.«
Sie spielen einen Komponisten, der mit dem Komponieren ringt. Und haben selbst eine Zeit lang Komposition studiert.
Mein Zugang damals war allerdings ein relativ unbedarfter. Ich hatte eine sehr naïve Vorstellung. Die Pubertät hievt einen ja in so eine romantische Sehnsucht. Und dann sitzt man plötzlich da und ist mit Mathematik und Physik konfrontiert und denkt immer: Wo ist meine Musik? Das war eine schreckliche Erfahrung.
Wie ging es Ihnen denn, als Sie merkten, Sie würden das nicht weiterverfolgen?
Das war eine befreiende Erkenntnis. Wenn ich den Schritt nicht gemacht hätte, wäre ich vielleicht ein verkappter Medienkompositeur mit klassischem Anspruch geworden und hätte ein kaputtes, zynisches Leben geführt. Ich habe ein Glück in meinem Leben: dass ich so ein Überlebenstier bin. Einer, der ein bissl misstrauisch ist und immer vorm Abgrund Angst hat oder vor der eigenen Mittelmäßigkeit. Und deswegen hab ich da gedacht (haut auf den Tisch): Das ist ein anderes Leben.
So ehrlich sich selbst gegenüber muss man erst mal sein.
Das ist kein großes Verdienst, das ist einfach nur ein Muss gewesen. Das hat mich zuerst natürlich in ein Vakuum geschmissen. Aber dann habe ich eine andere Form des künstlerischen Ausdrucks gefunden, und das war Schauspiel.
Ist das zu Ihnen gekommen?
Ich dachte, ich will das mal ausprobieren. Es gab eine Verbindung zur Falckenberg-Schule in München. Die war angebunden an die Münchner Kammerspiele, die damals das Theater schlechthin waren. Ich war viel früher einmal, noch als Hauptschüler, in Wien im Burgtheater. Da haben die mehr gesungen als gespielt, also deklamiert, und das fand ich grausam, so künstlich, so befremdend. Ich habe das gehasst. Und ein paar Jahre später geh« ich in die Kammerspiele und seh« den Felix von Manteuffel und Lisi Mangold in Ernst Wendts Inszenierung von Kleists Käthchen. Ich bin nur dagesessen mit offenem Mund und dachte: „Was ist das? Warum können die so komplizierte Texte sprechen, als würd« ich daheim in der Kuch’l sitzen und sagen, bring mir mal den Löffel rüber? Da wusste ich: So ein Schauspieler will ich werden. Der die komplexesten Texte und Bedeutungen so vermitteln kann, als würden sie grad in mir entstehen. Das ist übrigens bis heute mein Verständnis.
Also nicht die Schönheit der Sprache vermitteln…
…sondern den Inhalt der Sprache. Die Schönheit ist eine andere Sache. Da geht es um die Ästhetik, und die gewinnt man im Zuge des Alterns, des Reifens, des Werdens als Mensch. Um Artikulation und Deklamation geht es Ihnen offenbar gar nicht? Da bleibe ich lieber in der Interpretation. Was will ich damit erzählen? Wenn wir jetzt bei Beethoven bleiben: Was will er mit der Großen Fuge?
Lassen Sie uns im Zusammenhang mit Beethoven doch noch ein wenig bei Ihnen bleiben: Sie sind ja Österreicher.
Gelernter, ja. (Menschen, die Land, Leute und Verhältnisse eines Landes gut kennen, Anm.d.Red.) Das sagt man so bei uns.
Und? War Beethoven ein Wiener?
Das glauben nur die Wiener, dass Beethoven ein Wiener war! Ich bin aber keiner! Deshalb habe ich meinen Beethoven im Film ja auch Rheinisch „jesprochen“. Aber sehr dezent. An der Stelle habe ich mich gefragt: Hat Beethoven wirklich so wenig Rheinisch gesprochen? Es sollte nicht zu viel sein. Aber es sollte schon klar werden, dass er von dort kommt. Die Klangfarbe eines Dialekts ist sehr wichtig. Das ist auch ein großer Verlust unserer Zeit. Dass wir die Klangfarben der Dialekte verlieren, weil die Dialekte der Ausdruck des Wesenszuges sind. Des Begreifens. Bei Goethe heißt es ja nicht umsonst: „Neische, neische, Schmerzensreische“ – da weiß man, dass er Hesse war. „Neige, neige, Schmerzensreige“, das gibt’s nicht. Wenn wir das ums Eck’s denken: Goethe hat bei Gretchen eine ganz klare soziale Zuordnung vor Augen. Sie hat nur Dialekt gesprochen, weil sie ein einfaches Mädchen war, im Gegensatz zu Faust. Der Dialekt hat einen großen, wichtigen, verdammten Sinn. Das zu begreifen, wäre ein wichtiger Schritt für unsere Deutschpädagogen.
Dazu gibt es in der Musik Parallelen in der Bedeutung der Volksmusik.
Mit der bin ich aufgewachsen. So wie viele bei uns. Am Land in Österreich haben wir eine große musikantische Kultur, und das ist die Basis für die musikalische. Harnoncourt hat oft – gerade bei Mozart, aber auch bei Haydn – dramatische Zusammenhänge in der Analyse aus der Volksmusik hergeleitet. Immer wieder.
»Die Volksmusik – dieses Grundpotenzial der musikalischen Bildung wissen leider viele nicht mehr so zu schätzen. Die Pädagogen sowieso nicht.«
Welches Instrument haben Sie gespielt?
Klavier und Orgel und in der Kirche, ein bisschen Gitarre, ein bisschen Klarinette. Nichts richtig natürlich, so wie viele Kompositionsstudenten, zum Umfassen und Begreifen der spielbaren Struktur.
Lauter Harmonieinstrumente.
Trompete hat mich immer fasziniert. Aber da mein Zugang als Schauspieler, der ja zu faul zum Üben ist, mich vom Ansatz her ausgrenzt, bleibt mir nur Basstrompete zum Dazufarb’ln, also zweite, dritte Stimmen. Aber das spiel ich aus vollem Herzen und immer gern.
Eine typisch alpenländische musikalische Sozialisation also?
Das ist ein großes Glück, wenn man in Österreich aufwächst. Neulich war ich beim Wiener Philharmonikerball. (Das Gespräch fand bereits im März 2020 statt, Anm.d.Red.) Eigentlich geh« ich auf keine Bälle mehr, aber der Philharmonikerball ist so was Besonderes, weil lauter Musiker da sind. So ab ein, zwei Uhr morgens ergeben sich da manchmal Jamsessions der Volksmusik aus den Bläsergruppen der Philharmoniker, je nach Promillezustand. Das muss man sich mal vorstellen, weltweit führende Bläser, die alle vom Land kommen, sie können natürlich das Repertoire. Und dann geht’s dahin auf diesem Niveau, da spielt dann der Soloklarinettist plötzlich irgendwelche Zwiefachen. Und die Blechbläser sowieso. Herrlich. Dieses Grundpotenzial der musikalischen Bildung wissen leider viele nicht mehr so zu schätzen – und die Pädagogen sowieso nicht.
Weil so etwas als volkstümelnd abgetan wird? Kappt man so nicht die Wurzeln?
Man kappt die Wurzeln. Man kappt das Verständnis. Und wenn man das Verständnis für die Kultur kappt, kappt man auch die soziale Kompetenz.
Der Film „Louis van Beethoven“ ist am 25. Dezember sowie in Wiederholungen am 27. und 31. Dezember 2020 in der ARD zu sehen. Weitere Informationen dazu unter: www.daserste.de