Woher kommt eigentlich ...

Das Volks­lied?

von Stefan Sell

14. Dezember 2021

Auf Straßen und Gassen und Fischmärkten, im ungelernten Rundgesange des Landvolkes aufgeschrieben? – Täuschung: Das Volkslied wurde komponiert.

Wenn bekannte Volks­lieder wie Der Mond ist aufge­gangen oder Guten Abend, gute Nacht gesungen werden, kann einem schon sehr warm ums Herz werden. Aber sind das Volks­lieder? Wenn es um die Beliebt­heit geht, sicher­lich. Doch ist die Vorstel­lung, diese Lieder seien beim abend­li­chen Singen ums Feuer in schlicht volks­tüm­li­cher Gemein­schaft beim Nähen, Stri­cken oder Schnitzen entstanden, hätten sich gera­de­wegs einfach so beim wieder­holten Singen ergeben, dann ist das eine Täuschung. Sie wurden regel­recht kompo­niert. Guten Abend, gute Nacht ist von , der die Verse in Des Knaben Wunder­horn vorfand. Der Mond ist aufge­gangen ist ein Gedicht von Matthias Clau­dius, das 1779 unter dem Titel Abend­lied veröf­fent­licht und elf Jahre später von einem Kompo­nisten aus Lüne­burg vertont wurde. Der war seiner­zeit könig­lich-däni­scher Hofka­pell­meister in Kopen­hagen. Er kompo­nierte Opern, darunter ganze 30 Jahre vor Rossini einen Barbier von Sevilla. Er schuf zahl­reiche Kirchen­mu­siken, Kantaten und Lieder. Auch die Melodie von Ihr Kinder­lein kommet stammt von ihm. Sein Name: Johann Abraham Peter Schulz.

Im Schein des Bekannten

Schulz wusste, wie man „Lieder im Volkston“ schrieb, ein Begriff, den er selbst geprägt hat. Melodie und Text müssten einfach und leicht eingängig sein, laut Schulz, „so, daß auch unge­übte Lieb­haber des Gesanges, sobald es ihnen nicht ganz und gar an Stimme fehlt, solche leicht nach­singen und auswendig behalten können“. Ännchen von Tharau, Kein schöner Land, Bunt sind schon die Wälder, Wenn ich ein Vöglein wär, Am Brunnen vor dem Tore? Ja, alles „Lieder im Volkston“, kompo­niert von Simon Dach, Anton Wilhelm Florentin von Zuccal­maglio, Johann Fried­rich Reichardt, Franz Schu­bert…

„Im Schein des Bekannten liegt das ganze Geheimniß des Volks­tons“, der eine „frap­pante Aehn­lich­keit des musi­ka­li­schen mit dem poeti­schen Ton des Liedes“ braucht, sowie „eine Melodie, deren Fort­schrei­tung sich nie über den Gang des Textes erhebt, noch unter ihn sinkt, die wie ein Kleid dem Körper“ ist, verriet Schulz. Das passt sehr gut zum „Volks­lied“ über­haupt, einer Bezeich­nung, die der Philo­soph und Dichter Johann Gott­fried Herder 1771 aus Thomas Percys popular songs entlehnte. Herder hatte für sich erkannt, dass Musik die Seele am stärksten bewegte, dass „Orpheus‘ Leier mehr getan hat als Herkules‘ Keule“. Er ging noch einen Schritt weiter: Unter der Bezeich­nung „Volks­lied“ wollte er die Lieder aller (!) Völker in „Ursprache“ aufschreiben, und so heißt auch seine Samm­lung Stimmen der Völker in Liedern.

Viele Verse, keine Note

Ursprüng­lich verbrei­teten sich die Lieder nur münd­lich. Sie wurden „zurecht­ge­sungen“ wie auch „umge­sungen“ oder absicht­lich „zersungen“. Die „popu­lären Lieder“ waren stets auf Wander­schaft, nahmen in unter­schied­li­chen Regionen unter­schied­liche Gestalt an. Herders erstes Fest­halten der Volks­lieder in schrift­li­cher Form bedachte aller­dings nur die Texte. Und auch die Lieder­samm­lung Des Knaben Wunder­horn von Bren­tano und Arnim enthält viele Verse, aber keine einzige Note. Die Lieder aller Völker – was für eine schöne Utopie! Sie sollten – nach Herders Prämisse – „auf Straßen und Gassen und Fisch­märkten, im unge­lernten Rund­ge­sange des Land­volkes aufge­schrieben werden, und zwar in der Ursprache und mit genug­samer Erklä­rung, unge­schminkt und unver­spottet so wie unver­schönt und unver­edelt“.

Inter­es­sant ist, dass trotz dieser univer­sellen schöp­fe­ri­schen Kraft des Mitein­an­ders und deren respekt­voller Bewah­rung, unter dem Vorwand der Iden­ti­täts­suche, immer wieder Abgren­zungen statt­finden. Ein gutes Beispiel ist das türki­sche Volks­lied Üsküdara gider‘iken. Die Türken sagen, es sei ihr Lied. Das aber nehmen Albaner, Bosnier, Serben, Grie­chen und Bulgaren ebenso für sich in Anspruch und behaupten nicht weniger über­zeugt, es gehöre ihnen. In einem aber sind sie sich alle einig: Sie lieben das Lied und finden es wunder­schön, es wieder und wieder zu singen und dazu zu tanzen.

Ob solo oder im Chor

Rein­hard Meys Über den Wolken ist längst zum Volks­lied avan­ciert, wo auch immer heute im deutsch­spra­chigen Sprach­raum gesungen wird, schnell ist man sich einig, das singen wir, ebenso wie Marmor Stein und Eisen bricht. Gesangs­wett­be­werbe wie X‑Factor, The Voice of Germany, Popstars und natür­lich Deutsch­land sucht den Super­star schossen wie Pilze aus dem Boden. Von Print­me­dien, Hörfunk und Internet beglei­tete Lieder­pro­jekte bis hin zu zahl­rei­chen „Sing mit!“-Aktionen, ob solo oder im Chor – Volks­lieder haben wieder Konjunktur. So schließt sich der Kreis: Wenn Herder seinen Terminus „Volks­lied“ von den engli­schen popular songs hat, müssen Popsongs die Volks­lieder von heute sein.

Fotos: Aus: „Vater Unser in Bildern“