Siemens Arts Program
Zukunftsmusik
von Holger Biermann
7. Dezember 2018
Kunst inspiriert Technik? Ein Interview mit Professor Dr. Stephan Frucht, Leiter des Siemens Arts Program, über bislang nie dagewesene 3-D-Klangerlebnisse.
Aufnahmen mit echtem 3‑D-Klang, sogenanntes Immersive Audio, ist in aller Munde. Und die da-zugehörige Technik mittlerweile erschwinglich, aber die Musikindustrie wagt sich nur sehr zaghaft an die neuen Möglichkeiten. Nun hat das Siemens Arts Program mit einer Art Machbarkeitsstudie ein audio-visuelles Ausrufezeichen gesetzt und Cello-Kon-zerte von Tschaikowsky und Gulda in einer noch nie dagewesenen Form aufgezeichnet. Ziel: das Thema 3‑D-Klang zu beflügeln.
Das Projekt war aufwendig, zeigt aber auf, wie das Musikhören und ‑erleben in der Zukunft aussehen könnte. CRESCENDO sprach mit Dr. Stephan Frucht, dem Leiter des Siemens Arts Program, über den Sinn von Leuchtturmprojekten, den Einfluss von Musik auf Technik und darüber, wie komplexe Technik leicht zu den Hörern kommt.
CRESCENDO: Was genau macht das Siemens Arts Program?
Stephan Frucht: Das Siemens Arts Program wurde 1987 gegründet und ist bei Siemens ein zentrales Element der Kulturförderung. Initiiert und gefördert werden zeitgenössische und experimentelle Projekte und Künstler, deren Wirken auch einen Einfluss auf Technologien oder gesellschaftlichen Fragen der Zeit hat.
Unsere große Affinität zu Kunst geht schon auf die Familie von Siemens zurück, die nur zu genau wusste, dass Kunst auch immer die Technik inspiriert. Der Konzern hatte ja einige Jahre Anteile an der Deutschen Grammophon, hat aber auch starke Impulse in der elektronischen Musik gesetzt. Ernst von Siemens unterhielt zudem eine große Nähe zu Herbert von Karajan – ein weiterer Grund, warum Siemens Karajans Idee von orchestereigenen Akademien auch heute weiter befördert.
„Siemens versteht sich als Innovationskonzern“
Sie selbst haben als gelernter Geiger und Dirigent eine große Nähe zur klassischen Musik und mit den großen Orchesterakademien in Berlin und München auch einige Aufnahmen eingespielt, kürzlich Cellokonzerte von Gulda im 3‑D-Sound. Wie kamen Sie auf die Idee, hier ein solches digitales Leuchtturmprojekt aufzusetzen?
Siemens versteht sich als Innovationskonzern. Unter diesem Gesichtspunkt haben wir ein großes Interesse, die Digitalisierung des Lebens voranzubringen. Die Kunst beziehungsweise die Musik drängt sich als Träger dieser Idee geradezu auf.
Immersive Audio gibt es ja schon vergleichsweise lange. Warum erst jetzt diese Initiative?
Gegenfrage: Wie viele klassische Aufnahmen in 3‑D gibt es bereits? Sehr wenige. Hier ist mir die Musik- und Geräteindustrie zu vorsichtig. Gerade in der Klassik brauchen wir viel Innovation – weil das Repertoire begrenzt ist.
Und Sie sehen die 3‑D-Aufnahme beziehungsweise 3‑D-Wiedergabe als einen so großen Fortschritt?
Ja. In den letzten 30 bis 40 Jahren gab es zwei große Innovationsschübe in der klassischen Musik. Der eine war die Einführung der CD, die Karajan und Sony stark vorangetrieben haben. Der zweite war die Wiederentdeckung der Werktreue, die sogenannte „historisch informierte Aufführungspraxis“. Dirigenten wie Harnoncourt oder Gardiner haben dafür gesorgt, dass große Teile des Weltrepertoires noch einmal unter zeitgenössischen Aspekten und mit Instrumenten aus jener Zeit eingespielt werden konnten und mussten. Immersive Audio könnte einen weiteren Innovationsschub auslösen. Mit unserem Engagement wollen wir die Musikindustrie inspirieren, das klassische Repertoire mit den fantastischen 3‑D-Möglichkeiten von heute noch einmal einzuspielen. Das würde allen helfen: den Künstlern, den Musikliebhabern, aber auch der Musikindustrie und dem Handel.
„Immersive Audio könnte einen weiteren Innovationsschub auslösen“
Wir halten hier die Aufnahme „Cellokonzerte“ in der Hand. Es ist ein Doppelalbum, bestehend aus einer CD und einer Blu-ray. Beides sind nicht gerade Medien, denen die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) noch Zuwächse zutraut. Wäre hier eine Download-Lösung nicht zeitgemäßer?
Die Streaming-Lösung bietet bei diesem Datenvolumen leider noch nicht die geforderte Bandbreite. Bis das passiert – und das wird sicherlich noch einige Jahre dauern –, wird die Blu-ray als Tonträger noch einen wichtigen Beitrag leisten. Datenqualität und Datenvolumen müssen hierzu allerdings hervorragend sein und auf eine entsprechende Hardware treffen.
Und damit sind wir bei einem elementaren Thema. Wieder mit Blick auf die Zahlen der GfK kann man ja sagen, dass der Verkauf von hochwertigen Mehrkanalanlagen deutlich einbricht. Wie soll die von Ihnen aufgenommene und angestrebte 3‑D-Klangqualität zu den Hörern kommen?
Das wird natürlich nur funktionieren, wenn es uns gelingt, diese komplexe Technik auf einfachstem Weg zu den Menschen zu bringen. Tatsächlich denke ich eher an 3‑D-fähige Soundbars als an Mehrkanalanlagen mit elf oder mehr Lautsprechern.
Aber ist das nicht ein Widerspruch? Hier die aufwendigste Aufnahmetechnik und dort ein Soundbar, der, weil ja alles in einer vergleichsweise kleinen Box untergebracht sein muss, immer nur ein Kompromiss sein kann?
Da haben Sie recht. Und genau dort sehen wir auch unsere Aufgabe: als Katalysator. Als Labor, das die Kreativen dazu bewegt, neue Lösungen zu entwickeln; Lösungen, die hohe Anspüche mit großer Breitenwirkung in Einklang bringen können. Das ist eine große Herausforderung, aber machbar.
„Moderner 3‑D-Klang ist so viel erlebnisreicher als normales Stereo“
Sie haben jetzt mit diesem Projekt ein Ausrufezeichen gesetzt, aber so etwas verpufft ja auch schnell. Gibt es Folgeprojekte?
Natürlich. Das Wesen von Siemens Art Program ist immer auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Das heißt: Wir werden die nächste Zeit nutzen, um auf die Möglichkeiten dieser Technik hinzuweisen. Gleichzeitig aber sind auch die nächsten Projekte schon in Planung. Wir denken über ein symphonisches Werk nach, aber auch darüber, wie man das Verfahren zu Bildungszwecken nutzen kann. Es ist ja beispielsweise sehr viel einfacher, Schülern zu zeigen, wie ein Orchester aufgebaut ist, wenn man die künstlerischen Informationen mit präzisen audio-visuellen Eindrücken unterstützt.
Das Problem ist ja immer, die Leute von Neuem zu überzeugen. Wie wollen Sie dieses Thema angehen?
Im Grunde ist es ganz einfach: Bei unseren Vorführungen haben wir lediglich zwischen der Stereo- und der Immersive-Variante umgeschaltet. Da gab es bei den Zuhörern kaum noch Fragen, weil moderner 3‑D-Klang so viel erlebnisreicher ist als normales Stereo.
Das Projekt
Auf Initiative des Siemens Arts Program hat die Orchesterakademie des Bayerischen Staatsorchesters die Rokoko-Variationen von Pjotr Iljitsch Tschaikowski und das Cellokonzert von Friedrich Gulda eingespielt.
Die Aufnahmen entstanden unter der Leitung von Stephan Frucht unter anderem im Siemens Auditorium in München und der Bayerischen Staatsoper. Den Spezialisten des Immersive Audio Networks (IAN) gelang in den 3‑D-Klangverfahren Dolby Atmos und Auro-3D ein sehr lebendiges, räumlich glaubhaftes Gesamtwerk.
Das Projekt endet aber nicht beim beeindruckenden 3‑D-Klang der Blu-ray. Da das Orchester die Stücke in sogenannten Bewegungsanzügen aufgenommen hat und die Aufnahme auch noch visualisiert wurde, kann man bei Siemens oder an vorbereiteten Demo-Ständen sie auch interaktiv erleben. Mit Tablet, Kopfhörer und entsprechendem Programm kann sich der Zuhörer/Zuschauer also direkt in das animierte Orchester begeben, neben jedes einzelne Instrument. Der Blick verändert sich, aber auch der Klang. Gut vorstellbar, dass die Menschen künftig mit genau dieser individuellen Herangehensweise audio-visuell und interaktiv Musik hören wollen.