Andris Nelsons
»Man glaubt, das Göttliche zu spüren«
29. März 2023
Andris Nelsons ist 21. Kapellmeister des Gewandhausorchesters Leipzig und Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra. Mit beiden Klangkörpern hat er ein musikalisches Großprojekt gestemmt: eine Richard-Strauss-Werkschau, die Maßstäbe setzt.
CRESCENDO: Andris Nelsons, wie läuft das Musikleben in Boston derzeit?
Andris Nelsons: Es ist wunderbar, wieder Publikum im Saal zu haben! Im Januar haben wir Prokofjews Fünfte und Mozart mit Hilary Hahn gespielt sowie HK Grubers Short Stories from the Vienna Woods uraufgeführt, eine Orchestersuite aus seiner Oper Geschichten aus dem Wiener Wald, als gemeinsames Auftragswerk von Gewandhausorchester und Boston Symphony Orchestra. Danach folgten Beethovens Vierte, Liszts A‑Dur-Klavierkonzert mit Jean-Yves Thibaudet und die amerikanische Erstaufführung von Dance Foldings, ein Werk der Komponistin Augusta Read Thomas. Gottlob kommen die Menschen auch im Schatten der Pandemie, mit Impfnachweis und Maske.
Auch große Kulturtanker der USA sind durch Covid-19 in gehörige Schräglage geraten, man denke nur an die Metropolitan Opera. Ist das Orchester finanziell abgesichert?
Dem BSO geht es so weit ganz gut, der Großteil der letzten Saison konnte als Streaming angeboten werden. Besonders wichtig war die Möglichkeit, wenigstens einmal pro Woche für Proben zusammenzukommen. Die physische Gesundheit jedes Einzelnen ist eine Sache, aber als Klangkörper ist es unmöglich, zwei Jahre nicht miteinander zu spielen, ohne ernsten Schaden zu nehmen. Deshalb war ich erleichtert, dass das Tanglewood Festival letzten Sommer beinahe in voller Kapazität stattfinden konnte. Diese Saison hat schon wieder auch mit groß besetzten Stücken beginnen dürfen. Das BSO hat jedenfalls seine technische Form behalten, vor allem auch die notwendige Leidenschaft zu spielen – und dasselbe gilt auch für das Gewandhausorchester. Ich bin stolz und glücklich, am Pult dieser beiden Orchester zu stehen. Im Dezember war Gidon Kremer als Solist zu Gast, zum Jahreswechsel haben wir in Leipzig Beethovens Neunte immerhin gestreamt. Doch auch dort können wir nur hoffen, dass Omikron trotz hoher Ansteckungsgefahr weniger schwere Verläufe verursacht und dass neue Virusvarianten nicht wieder alles über den Haufen werfen. Die Pandemie gibt uns Gelegenheit, dahinterzukommen, was uns wirklich wichtig ist im Leben: Ohne Musik geht es nicht.
»Richard Strauss gehört zu meinen absoluten Lieblingskomponisten«
Wenn Sie Leipzig und Boston in einem Atemzug nennen, dann liegt das nicht nur am selben Chefdirigenten, sondern auch an verschiedenen Projekten gemeinsamen Musizierens …
Ja, wir haben schon vor Jahren mit einem Austauschprogramm begonnen: Einzelne Musikerinnen und Musikern wechselten zwischen Leipzig und Boston die Plätze und haben die jeweils andere Orchesterkultur kennenlernen können. Die Steigerung davon ist nun in unserem Strauss-Projekt zu erleben. Sie wissen ja, das ganze deutsche Repertoire ist mir sehr wichtig, und Richard Strauss gehört zu meinen absoluten Lieblingskomponisten. Dass ich die Aufnahme seiner Orchesterwerke jeweils zur Hälfte mit diesen beiden Klangkörpern verwirklichen konnte, war schon etwas Besonderes. Dass es nun sogar eine gemeinsame Tournee der beiden Orchester geben wird, war mir ein Herzensanliegen, auf das ich mich gemeinsam mit allen Mitgliedern wahnsinnig freue. Ein Monat mit Konzerten in Leipzig, London, Wien, Hamburg und Paris: Ich glaube, das wird auch fürs Publikum enorm spannend, denn gerade bei Strauss kann man die beiden großartigen Orchester sicher besonders gut studieren – Klangtraditionen, Balance und Flexibilität vergleichen und so weiter. Hoffen wir, aus bekannten Gründen, das Beste dafür!
Wie lassen sich die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen hüben und drüben benennen?
Das ist eine sehr gute Frage, über die man immer weiter nachdenken muss. Wenn im Gewandhausorchester eine Stelle nachbesetzt wird, diskutiert das Orchester über die einzelnen Musikerpersönlichkeiten, die beim Vorspiel antreten, und stimmt schließlich ab. Ich bin auch Teil dieses Prozesses. Das heißt, wer ins Orchester will, muss sozusagen diese Prüfung durch die künftigen Kolleginnen und Kollegen bestehen: Passt der oder die zu uns, im Klang, in der Musizierweise, im Ausdruck? Wird mit der musikalischen Phrase auch etwas erzählt, spürt man Fantasie im Vortrag? Was Leipzig und Boston verbindet, ist sicher einmal das Bewusstsein einer kollektiven, traditionellen Klangqualität, die erhalten werden muss. Zugleich, und darauf lege auch ich großen Wert, ist ein individueller, persönlicher Zugang erwünscht, der ein flexibles Geben und Nehmen erst wirklich ermöglicht. Um bloße technische Perfektion geht es weder in Boston noch in Leipzig: Für sich allein kann die nämlich furchtbar langweilig sein.
Damit sind wir beim Klang. Deutschen Orchestern wird gerne eine dunkle Qualität zugeschrieben …
Die Bostoner können manchmal dunkler klingen als man denkt – aber zugleich sind sie sehr transparent. Das kommt von der deutlichen französischen Tradition. Der Beginn zum Beispiel der Symphonie fantastique klingt bei ihnen wie von einem französischen Orchester. Zugleich haben sie ein besonderes Gespür für das slawische Repertoire, wie ich unlängst bei Prokofjew wieder erleben konnte. Der dunkle Klang der Leipziger hat dagegen diese nebelartige Qualität, er kann manchmal wirken, als käme er aus dichtem Regen. Die völlig anders geartete Transparenz des Gewandhausorchesters ist an Bach und Mendelssohn geschult. Nehmen wir das Scherzo aus dem Sommernachtstraum: Wenn das zu präzise gespielt wird, gerät es maschinell, wenn es zu schwer daherkommt, verliert es das Elfenartige, Huschende. Die Leipziger können das! Auch bei Bruckner, den ich mit vielen großen Orchestern gemacht habe: Vielleicht täusche ich mich, aber wenn Bruckner »ppp« und »lang gezogen« schreibt, dann kommt das für mich aus der alten Kirchenmusik. In Leipzig hört man da sofort Bach, ja sogar noch weiter zurückliegende Klänge, da werden Erinnerungen an die Renaissance wach. Eine solche Qualität findet man wahrlich nicht überall.
»Dann gibt es etwas von Schönheit und Tiefe, das einem wie nie gehört vorkommt«
Welche Rolle kommt dabei Ihnen als Dirigent zu?
Auch das ist eine gute, ewige Frage. Ich sehe die Antwort jedenfalls nicht darin, etwas bewusst umzukrempeln, sondern Traditionen fortzusetzen. Und gleichzeitig die Musikerinnen und Musiker zu animieren, lieber einen Fehler zu riskieren und dafür eine spannende Phrase zu gestalten als einfach auf Nummer sicher zu gehen. Strauss einzuspielen war unter diesem Gesichtspunkt besonders aufregend – und ich brenne darauf, das in Konzerten auch mit dem Publikum zu teilen.
Haben Sie gewisse Strauss-Werke für dieses Projekt zum ersten Mal dirigiert?
Ja, das Festliche Präludium zum Beispiel, das er zur Eröffnung des Wiener Konzerthauses 1913 komponiert hat, die Besetzung ist riesig. Das haben wir mit beiden Orchestern zusammen in Boston aufgenommen – eine sehr emotionale Erfahrung, nicht nur für mich. Außerdem den Walzer aus Schlagobers: Eigentlich schade, dass diese charmante Nummer oder überhaupt das ganze Ballett so selten aufgeführt werden. Aber der Neuigkeitswert trifft auf die Orchester zum Teil genauso zu, vor allem in einem wichtigen Punkt – bei Strauss gilt nämlich das Gleiche wie bei Mozart: Wenn wir die Opern der beiden nicht kennen, dann fehlt ein großer Teil der musikalischen Persönlichkeit, dann verstehen und kennen wir auch seine Orchesterwerke nicht völlig, denn Theater und Dramatik spielt bei beiden eine enorme Rolle. In Leipzig ist das klar, das BSO ist aber kein genuines Opernorchester. Deshalb haben wir dort Salome und Elektra konzertant aufgeführt, wollen auch Frau ohne Schatten und vielleicht mehr machen.
Gab es bei der Wiederbegegnung mit den bekannten Werken spezielle Überraschungen und besondere Momente?
Für mich war vieles wie eine Wiederentdeckung. Klar, das meiste hatte ich schon aufgeführt, aber wenn es in so einer Häufung passiert, dann gibt es immer wieder etwas von außerordentlicher Schönheit und Tiefe, das einem wie neu und nie gehört vorkommt. Strauss gilt als Eklektiker, der auch angeben wollte: mit seinen Klangfarben, der kontrapunktischen und spieltechnischen Virtuosität und so weiter. Natürlich war er ein großer Meister der Instrumentierung. Aber dann ereignen sich diese unbeschreiblichen Augenblicke, wo sich plötzlich der Himmel aufklart und man – egal, welcher Religion man nun angehört oder nicht, das Göttliche zu spüren glaubt. Das gibt es eigentlich in jedem Stück. Und selbst wenn man das weiß, ist die Erfahrung in dieser speziellen Dichte dann sehr bewegend. Manchmal versteckt sich Strauss hinter einer Maske – seine ehrliche, reine Seite zeigt er nicht gleich jedem. Aber sie ist da. In der wundervollen Schönheit und melancholischen Klarheit des Finales von Don Quixote zum Beispiel, die mich zu Tränen rührt. Strauss hat sich nicht nur als „Held“ des Heldenlebens inszeniert, sondern ist auch in die Rüstung des Ritters von der traurigen Gestalt geschlüpft, er wird eins mit ihm. Das Großartigste ereignet sich nicht automatisch an den lautesten Stellen, ganz und gar nicht. Für mich steckt im letzten »Ja, ja« der Marschallin der ganze Rosenkavalier.
»Die Essenz von Leben und Kunst liegt in der Seele, aber wir sind dabei auf unseren Körper angewiesen«
Strikte, von der Uhr vorgegebene Zeiten fürs Komponieren: Manchmal wurde Strauss als „Notenbuchhalter“ belächelt, der wie ein Beamter seiner Arbeit nachgeht …
Nicht einmal ein Genie kann pausenlos ans Komponieren denken. Ein klarer Terminkalender hilft einem, sich immer auf das im Moment gerade Wichtige zu konzentrieren. Die Arbeitsweise ist etwas Persönliches. Strauss hatte auch Familie und offizielle Verpflichtungen, nichts Menschliches war ihm fremd. Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade die definierten Arbeitsstunden ihm dabei geholfen haben, mehr zu Papier zu bringen, als andere, chaotischere Geister an einem ganzen Tag geschafft hätten. Man braucht Zeit und muss auch seine Batterien wieder aufladen. Familienleben, Skatrunden, manchmal Dirigieren, auch die Natur rund um sein Heim, die Spaziergänge – dabei hat er sich regeneriert. Und doch lässt seine Musik dabei immer auch Raum für das Spontane, etwas, das man ein bisschen anders macht.
Wo laden Sie Ihre persönlichen Batterien auf?
Ich bin jetzt über vierzig, für einen Dirigenten mag das immer noch relativ jung sein. Gerade im ersten Corona-Jahr, in dem kaum Aufführungen möglich waren, habe ich nicht nur viel gehört und gelesen, sondern auch wieder mit Sport begonnen, zunächst für mich zu Hause, dann in Clubs – sowohl in Leipzig als auch in Boston. In meiner Jugend, von 12 bis 18 ungefähr, habe ich Taekwondo und Karate ausgeübt – und dann zwanzig Jahre lang nichts mehr! Ich genieße vor allem die körperliche Müdigkeit, die man erzielt: Die macht mich in der Folge auch emotional wieder munterer. Außerdem erfordert es eine gewisse körperliche Disziplin. Auch wir Künstler, ob wir nun ein Instrument spielen, dirigieren oder komponieren, müssen auf unseren Körper achten. Bei guter physischer Gesundheit kann man künstlerische Gedanken klarer, direkter, aufregender vermitteln, davon bin ich überzeugt. Die Essenz von Leben und Kunst liegt natürlich in der menschlichen Seele, aber wir sind dabei auf unseren Körper angewiesen. Hin und wieder greife ich auch noch zur Trompete, nur zum Spaß, mache Übungen für Atmung und Ansatz. Das tut mir einfach gut.
Auftrittstermine und weitere Informationen zum Gewandhausorchester Leipzig: www.gewandhausorchester.de
Auftrittstermine und weitere Informationen zum Boston Symphony Orchestra: www.bso.org