Musikgeschichte ist eine hochkomplexe Angelegenheit, die für Schulbuchzwecke vereinfacht wird. Bewegungen erzeugen Gegenbewegungen, extreme Haltungen erzeugen extreme Gegenpositionen. Wir können uns heute schwer vorstellen, wie es für junge Komponisten in den 1960er- und 1970er-Jahren war, wenn sie ihr Innerstes ausdrücken wollten und auf das trockene Dogma des Serialismus ihrer Lehrer stießen wie ein Schiff, das auf eine Sandbank aufläuft. Die Generation der in den 1940er-Jahren Geborenen stellt sich mittlerweile als die kreativ Ergiebigste eines ganzen Jahrhunderts heraus, obwohl gerade hier die großen Namen selten, kaum Ikonen der Moderne oder des Konservatismus zu finden sind. Doch Komponisten wie Anders Eliasson, Pehr Henrik Nordgren, Tristan Keuris, Yevgeni Stankovich oder Peter Lieberson erweisen sich als Entdeckungen mit einem Tiefgang, einer Originalität und Meisterschaft, die noch lange nicht überblickbar und nie einzuordnen sein werden.
Auch der jüdische New Yorker Arnold Rosner (1945–2013) fand sich als junger Mann im Irrsinn des Dogmas wieder und orientierte sich als vom Establishment Abgelehnter zunächst an der archaisierend reinen Schönheit der Musik seines armenisch-stämmigen Landsmanns Alan Hovhaness. Doch Rosners Ausdruckspotenzial erwies sich als weit vielschichtiger. Und man hört in seiner Musik bis in die letzten Jahre nicht nur die Suche nach der Schönheit und verlorenen Unschuld, sondern auch den heiligen Zorn eines Künstlers, der sich kompromisslos gegen den herrschenden Zeitgeist verwahrte. Rosner schuf Werke, in welchen sich Elemente mittelalterlichen Tonsatzes und von Renaissance-Polyphonie, archaisch-höfischer Tanzmusik, expressionistischer Explosivität in ostinaten Tanzrhythmen und kollidierender Dreiklangsgebilde, organische Entwicklungen und abrupte Umbrüche begegnen. Eigentlich müsste ein derartiges Kreuzfeuer unterschiedlichster stilistischer Ingredienzien chaotische Collagen erzeugen, doch bei Rosner ist all dies – kraft eines unbändigen Willens zur eigenen Formung – zu erstaunlich kongruenter Gestalt geformt. Der Hörer wird mitgenommen in eine abenteuerliche Welt, die zwar intensiv berührt, jedoch keinen Seelentrost spendet, sondern eher wie der Blick in ein kosmisches Drama anmutet.
Bei Toccata Classics ist jetzt die dritte Folge seiner Orchesterwerke erschienen, mit einem wunderbar mysteriösen, schleierhaft farbenreichen Nocturne, der ritualhaft auf antike metrische Strukturen zurückgreifenden Ouvertüre Tempus perfectum, und der zum Bersten gespannten, dreisätzigen Sechten Sinfonie von 1976, die sozusagen das ganze Spektrum von Josquin des Prés bis zur lavaartig herausgeschleuderten Expressivität Allan Petterssons umspannt. Vielleicht den besten Einstieg in die gegensätzlichen Facetten von Rosners Welt bieten die Fünf Koans auf der Vorgänger-CD an, wo in fünf Sätzen erstaunlich einander ergänzende fremde Welten sich eröffnen und jeweils einen atemberaubend zusammenhängenden Bogen errichten. Großartig auch die späten Unraveling Dances und die multimetrische Metamusik in Gematria von 1991. Herrlich ist eine weitere Toccata-CD mit Kammermusik. Und auf Naxos sind seine Sinfonien Nummer fünf und sieben erhältlich, jeweils gekoppelt mit Sinfonien des italo-amerikanischen Originalgenies Nicolas Flagello. Das alles ist unbedingt die Hörerfahrung wert.
Rosner mag in seinem unstillbaren Zorn nur phasenweise die verlorene Unschuld gefunden haben, die er so verzweifelt einsam ersehnte. Diese Unschuld findet in schönster Weise, wer Juanjo Menas Neuaufnahme von Juan Crisóstomo de Arriagas (1806–1826) herrlicher Sinfonie von 1824 mit dem BBC Philharmonic hört (Chandos). Arriaga, die einzige ganz große Hoffnung der spanischen Musik zwischen dem Renaissance-Zeitalter und dem Impressionismus, starb mit 19 Jahren. Cherubini liebte seine Musik, und heutige Streichquartette lieben seine drei wunderbaren Quartette. Doch die Sinfonie in d‑Moll, die zwischen Schubert und Mendelssohn ihren Zauber entfaltet, ist wohl sein größtes Werk, und nun ist sie erstmals auf feinstem Niveau zu hören.