Ein Kaffee mit Winfried Hanuschik
„Die Klassik wird uns alle überleben“
von Robert C. Kittel
3. September 2013
Als Herausgeber von crescendo feierst Du 50 Jahre Klassikmagazine der Familie Hanuschik. Wie kam Deine Familie zur klassischen Musik?
Anfang der 60er Jahre kam Professor Hans Huber, ein Münchner Operngänger seit frühester Jugend, auf meinen Vater zu und regte sich sehr engagiert über die oft miserable Qualität der Repertoirevorstellungen an der Bayerischen Staatsoper auf. Er sagte, dass man da doch was machen müsse. Das weckte die Opern- und Klassikleidenschaft meines Vaters, die die Familie seither begleitet. Mein Vater hatte damals einen Verlag und fand die Idee so spannend, daß daraus ein Magazin wurde: „Oper und Konzert – Kritische Stimmen“.
Wie war Dein erstes Erlebnis im Verlag?
Mein Vater nahm mich schon als kleines Kind an den Wochenenden oft mit zu Kunden und in den Verlag. Ein Verlag hatte damals ja noch – im Gegensatz zu heute – seine eigene Druckerei. Am liebsten hielt ich mich im „Drucksaal“ auf, dem Teil der Druckerei, in dem die großen Maschinen stehen und gleichmäßig stampfen und in einer atemberaubenden Geschwindigkeit Bogen für Bogen aufnehmen und auf der anderen Seite bedruckt wieder präzise gestapelt ablegen. Ich war gerade in die erste Klasse gekommen, als ich zum ersten Mal am „Heidelberger Tiegel“ selber drucken durfte. Als ich vor einigen Wochen meine beiden Kinder durch eine Druckerei führte, und den Geruch frischer Druckfarbe in der Nase hatte, waren diese Kindheitserinnerungen wieder da, als wäre es gestern gewesen.
Wie war dann Dein erstes Erlebnis mit der klassischen Musik?
Schon als kleiner Steppke durfte ich regelmäßig mit in die Oper und ins Konzert. Ich erinnere mich an eine Probe, zu der ich tagsüber mitkommen durfte. Wir liefen über den Künstlereingang, durch seltsame Gänge, kahle Treppenhäuser und unzählige Türen und dann standen wir im Innenraum des Cuvilliés-Theaters in München. Wow, der prachtvolle Zuschauerraum mit den roten Polstersesseln, den mächtigen Lüstern und den goldenen Rokoko-Ornamenten beeindruckte mich enorm. Dann packte mich die Wucht des Orchesters und der Musik, die ich bisher nur vom Plattenspieler kannte. Es war wie eine Tür in eine andere Welt.
Aus „Oper und Konzert“ wurde crescendo. Warum?
Oper und Konzert war ein Titel für pure Klassik-Fans. „Solange es der Betrieb trägt, machen wir weiter“, sagte mein Vater, obwohl die Zeitschrift nicht einmal einen bescheidenen wirtschaftlichen Erfolg, dafür aber manchen Ärger, einbrachte. Als ich 1996, im Alter von 25 Jahren, mein eigenes Unternehmen gegründet hatte, konnte ich es mir nicht leisten, das Heft so weiterzuführen, obwohl mein Herzblut dranhing und ich mich dem Erbe meines leider schon 1981 verstorbenen Vaters verpflichtet fühlte. Etwas später entdeckte ich dann aber eine Statistik über das Freizeitverhalten der Deutschen: Darin stand, dass jedes Jahr über 14 Millionen Menschen klassische Konzerte, Opern oder Operetten besuchten. Das sind mehr Besucher als die von Spielen der Fussball-Bundesliga! Ich dachte, da ist ein gigantisches Potential für ein Magazin. Das war die Geburtsstunde von crescendo: Ein Magazin für die vielen Menschen, die sich an klassischer Musik erfreuen, und nicht nur die Experten. Wir starteten mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren, die wir in den Konzertsälen, Opernhäusern und Plattenläden der Republik verteilten. Das war 1998 und eine Revolution auf dem Magazinmarkt!
Das war bestimmt auch nicht einfach…
Nein. Als ich Arnt Cobbers kennenlernte, den späteren Gründungschefredakteur von crescendo, waren wir uns schnell einig, wie so ein „Klassikmagazin für Alle“ gemacht sein müsste. Nur auf einen gemeinsamen Standort konnten wir uns nicht einigen: Der Verlagssitz war München, Arnt wollte unbedingt in seiner Wahlheimat Berlin bleiben. Und die für unseren kleinen Verlag verfügbare Kommunikationstechnologie war damals: das Fax. Mit Endlosrolle und Thermopapier. Die Autoren schickten ihre Manuskripte schreibmaschinengetippt per Post nach Berlin. Die Redaktion schickte uns dann Disketten mit den Texten, dazu Dias und Fotoabzüge. Daraus bastelten wir in München ein Layout und faxten die Ausdrucke zurück nach Berlin. In stundenlangen Telefonaten gaben wir uns dann gegenseitig Kürzungen, Überschriften, Korrekturen und Anzeigenplatzierungen durch. Hitzig wurde es immer dann, wenn nach dem Anzeigenschluss noch ein Auftrag reinkam: Als Verleger freute ich mich natürlich über den Umsatz, aber die Redaktion und vor allem die Grafiker stöhnten, wenn sie das Heft noch ein weiteres Mal umbauen mussten.
Wie hast Du die Magazine am Anfang an die Opernhäuser und Auslagestellen geliefert?
Ich erinnere mich noch gut, wie ich gemeinsam mit meinem langjährigen Freund und Geschäftspartner Andreas Koschinsky im Sattelschlepper der Druckerei stand. Im Lichtkegel einer Taschenlampe beklebten wir die über 900 Kartons mit den Adress- und Paketaufklebern, trugen jeden Empfänger in Versandlisten ein und hievten die Pakete in den zur Abfahrt bereitstehenden Lastwagen des Deutschen Paketdiensts – insgesamt über 9 Tonnen. Noch auf dem Heimweg tüftelten wir – erschöpft, aber glücklich – ein Datenbanksystem aus, mit dem wir uns diese Plackerei zukünftig ersparen konnten.
Wer war der erste Titelstar? Das erste große Interview?
Auf dem ersten Titel druckten wir einen verbogen dastehenden Mann im weißen Frack mit wirrem Blick und geballten Fäusten: Das war Bo Skovhus in Konwitschnys revolutionärer Inszenierung des Wozzeck an der Hamburgischen Staatsoper. Davon stand allerdings auf der Titelseite: Nichts. Erst auf Seite 14 brachten wir die zugehörige Rezension mit der schönen Überschrift „Der Mann im Frack heißt Wozzeck“. Wir wollten schon damals die Ersten sein: So läuteten wir das Richard-Strauss-Jahr 1999 zu Ehren seines 50. Todestages bereits Ende 1998 ein, leiteten über zu seiner langjährigen Wirkungsstätte, der Sächsischen Staatskapelle, die damals 450 wurde und führten das erste große Interview schlüssigerweise mit deren Chefdirigent Giuseppe Sinopoli. Auf die Frage „Und Sie bleiben weiterhin in Dresden?“ antwortete er: „Bis 2007 mindestens.“ Tragischerweise erlitt er 2001 während einer Aufführung in der Deutschen Oper Berlin einen Herzinfarkt, den er nicht überlebte.
Du hast am Anfang den Anzeigenverkauf selbst übernommen. Die großen Labels haben aber wahrscheinlich nicht auf Dich gewartet …
Noch zu „Oper und Konzert“-Zeiten, Anfang der Neunziger, war die Deutsche Grammophon die absolute Nr.1 im Klassikland. Das Gelb-Label dominierte Platten-Läden und heimische Wohnzimmer, sonnte sich in diesem Erfolg und schwelgte in seiner Allmacht. Überall sah ich deren Anzeigen, nur nicht bei uns. Das wollte ich ändern. Also fuhr ich mit meinen 22 Jahren mit dem Auto nach Hamburg – in dem ich auch übernachtete, weil die Jugendherberge ausgebucht war – und stellte mich vor. In einer Feuerwehr-Uniform-Jacke, weil ich Anzug und Krawatte spießig fand. „Oper und Konzert? Was soll das sein?“ fragten die Granden des deutschen Klassik-Geschäfts. Die Art und Weise, wie ich damals abblitzte, weckte meinen Ehrgeiz: Euch werd ich´s zeigen!
Also entstand der Name „crescendo“ auch ein wenig durch solche Erfahrungen?
Klar! Es war genau diese Revoluzzer-Stimmung: Wir sind jung, wir sind neu, wir sind anders, wir sind die Zukunft – und wollen wachsen („crescere“ = lat. wachsen, Anm. der Red.)! Und natürlich – im musikalischen Sinne – „allmählich lauter werden“.
crescendo war auch das erste Klassikmagazin mit CD zum Heft. Die hieß damals „Schöner Hören“.
Welche Erinnerungen hast Du an die ersten Klassik-Messen?
Auf der MIDEM, der lange Zeit wichtigsten Musikmesse der Welt, war die legendäre „crescendo classic lounge“ tatsächlich DER internationale Treffpunkt der Plattenindustrie. Hier stellte unsere Mitarbeiterin Barbara Wunderlich den Film vor, den sie über das Leben ihres Vater Fritz Wunderlich produziert hatte. Hier präsentierte Werner Dabringhaus seine Weltneuheit, das „2+2+2‑System“, mit dem man Musik wirklich räumlich hören kann. Auf der MIDEM schlossen sich 1998 auch die wichtigsten kleinen Plattenfirmen zum Verband „CLASS“ zusammen und beschlossen, den „Majors“ mit dem eigenen Magazin „CLASS aktuell“, in dem sie ihre liebevollen, hochwertigen Aufnahmen vorstellten, die Stirn zu bieten. Seitdem liegt „CLASS aktuell“ crescendo bei. Sie sind Partner der ersten Stunde und wir freuen uns, diesen ambitionierten und leidenschaftlichen Machern eine Plattform bieten zu können, damit die vielen klassikinteressierten Menschen davon erfahren können.
Es gab auch mal eine Kolumne eines Hoteldirektors. Wie kam es dazu?
Ich war oft im Münchner Hotel „Palace“, weil sich dort nicht nur alle Klassikstars aufhielten, sondern eben auch die ganze Branche. Uli Schirmer, der damalige Direktor des Hotels, erzählte so herrliche Anekdoten von seinen prominenten Gästen. Nigel Kennedy sei mit dem Fahrrad direkt ins Hotelfoyer gefahren, zum Beispiel. Also bat ich ihn, eine Kolumne für crescendo zu schreiben. Das war wunderschön zu lesen. Die einzigen, die das eben nicht so lustig fanden, waren einige Künstler. Sie fühlten sich ständig beobachtet und wir nahmen die Kolumne wieder aus dem Heft.
Was war der bisher größte Eklat?
Ach, so einen richtigen Eklat gab es eigentlich nicht. Ich erinnere mich aber noch an den bisher wahrscheinlich größten „Aufreger“. Wir bauten gerade auf der „HIGH END“, Europas wichtigster Hifi-Messe die crescendo-Lounge auf, als eine sehr kritische Geschichte über Simon Rattle erschien – geschrieben von crescendo-Chefredakteur Axel Brüggemann. Sein „Rattle-Bashing“ löste einen gewaltigen Presse-Wirbel aus: Darf man den bislang unantastbaren Chefdirigenten der bislang unantastbaren Berliner Philharmoniker öffentlich angreifen? Wir fanden: Ja, warum nicht? Der Text bildete die logische Fortsetzung des von Prof. Huber gesäten Urgrunds des zivilen Ungehorsams. Natürlich straften uns wichtige Anzeigenkunden dafür ab, denen ein gefälligerer Journalismus besser gefallen hätte. Und natürlich bestärkte uns das in unserem Kurs, so weiter zu machen. Relevanz ist eben das Gegenteil von gemütlich. Darum brachten wir auch schon Angela Merkel im Walküren-Outfit auf der Titelseite.
Apropos Merkel: Auf einem Foto bist Du mit Angela Merkel, auf einem anderen mit Wolfgang Clement und Klaus Wowereit. Das sind keine typischen Klassikstars…
Die „Musikvermittlung“, neudeutsch: „Audience Development“, also neuen Generationen die Möglichkeit zu bieten, sich für klassische Musik zu begeistern, ist mir eine persönliche Mission. Darum habe ich meinen langjährigen Mitarbeiter Hauke Gosau bei seinem Projekt „Kinder-Musik-Menschen“ unterstützt, für das wir von Angela Merkel persönlich ausgezeichnet wurden. „crescendo“ steht auch für „Klassik im 21. Jahrhundert“. Darum besuchten der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und der regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit die crescendo-Klassik-Lounge.
Haben auch mal ein paar klassische Künstler in der Redaktion vorbeigeschaut?
Ja, Gabriela Montero zum Beispiel. Die Meisterin der Improvisation, besuchte uns an unserer Theke, hier im Verlag. Viele Künstler, Kunden und Mitarbeiter erlebten hier ihre erste Berührung mit der crescendo-Welt: unkompliziert, aber bedeutsam. Hier in der Hauptbahnhofgegend von München halten wir die Fahne der Kultur hoch. So hoch, dass sie jeder sehen kann und jeder hinkommt. Das ist crescendo. So wünsche ich mir übrigens auch Kultur im 21. Jahrhundert.
Heute sieht crescendo deutlich anders aus als vor 15 Jahren. Glaubst Du, das konservative Klassikpublikum verträgt diese Veränderungen?
Veränderung ist bei uns Konzept! Ja, Klassik mag konservativ erscheinen und ihre Darbietung ist es manchmal vielleicht auch. In Wirklichkeit ist Klassik aber wild, abenteuerlich und frisch: Beethoven war radikal, Mozart war frech, Schostakowitsch existentiell. Verrückt ist nur, dass bei dem Etikett „Klassik“ oft „ewig Gleiches“ erwartet wird. Stabilität, Verlässlichkeit. Wenigstens ein Fixpunkt in dieser hyperaktiven Welt. Ja, dieser Wunsch ist legitim und nachvollziehbar. Ordnung im Chaos. Und nein: Das können und wollen wir nicht leisten: Klassische Musik ist kein nostalgischer Ort, sondern ein Ort der Gegenwart.
Wo siehst Du Dich und crescendo in 15 Jahren?
Die Klassik wird uns alle überleben. Das Große braucht uns nicht. Nur schade, dass viele Menschen gar nicht mehr die Chance bekommen haben, die klassische Musik für sich zu entdecken. crescendo wird immer Mittler bleiben, immer leidenschaftlicher Botschafter, in der festen Überzeugung, dass Musik Menschen verbindet und sie mitnimmt auf eine Reise ins Selbst. crescendo bleibt wach und frisch. Noch stärker als die Klassikwelt ist die Welt insgesamt im Wandel. Das finde ich unglaublich spannend und weckt meine Lust auf Neues: Ich bin selbst gespannt, wo mich diese Reise hinführt.