Istanbul
Beethoven am Bosporus
von Robert C. Kittel
11. Oktober 2011
Weil die Stadt lieber in Fußballstadien investiert, leistet sich eine vermögende Familie in Istanbul ein eigenes Orchester.
Demjenigen, der noch nie in Istanbul war, sei geraten: Reisen Sie hin, es lohnt sich. 18 Millionen Menschen bewohnen zwei Kontinente, sie lassen sich von 18.000 gelben Taxen durch enge Gassen chauffieren, und die Abendsonne hüllt die historischen Gebäude in gleißend gelbes Licht. Mittendrin, in der Fußgängermeile des vom Trubel gezeichneten Stadtteils Taksim, leuchtet allabendlich ein Raum mit Lichtinstallationen eines Künstlers. Der ist fast leer, nur ein Flügel steht in der Mitte. Das Gebäude gehört einer sehr vermögenden Familie, deren Kapital aus der Borusan-Holding resultiert. Borusan ist ein Konglomerat, die Firma macht drei Milliarden Umsatz im Jahr; Geschäftsbereiche: Autos, Stahl, Röhren, Telekommunikation, Energie. Ganz nebenbei betreibt die Holding auch ein eigenes Orchester: das Borusan Istanbul Filarmoni Orkestrasi (kurz: Bifo). Die Familie ist sehr kulturinteressiert.
Im Haus mit dem Piano in der Mitte steht der Wiener Sascha Goetzel, Jahrgang 1970. Goetzel absolvierte seine Ausbildung an der Juillard School in New York und wurde von Dirigenten wie Zubin Mehta oder Riccardo Muti unterrichtet. Sein Vater gehört „seit einer halben Ewigkeit“ zu den Wiener Philharmonikern. Goetzel Junior schaffte es vor zwei Jahren an die Spitze des türkischen Borusan Orchesters. Ein Wiener Dirigent in der 18-Millionen Metropole, die über drei erstklassige Fußballvereine verfügt? „Ja“, sagt Goetzel, das sei ja gerade das spannende hier. Diese unglaubliche Energie dieser Stadt wolle er nutzen, für seine eigenen Vorstellungen von einem Orchester. Denn Goetzel ist ein Emphat. Auf der Bühne wie im Leben. Er bewegt sich am Pult wie einst Leonard Bernstein, manchmal hat man das Gefühl, er würde am liebsten in ein Instrument seines Orchesters hineinkriechen.
Goetzel passt in diese fremde Welt, er hat hier eine Spielwiese gefunden, auf der er sich austoben kann. Sein Chef, Borusan-Boss Ahmet Kocabiyik, möchte das Orchester als Marke aufbauen, eine zweite CD mit Werken von Ravel und Prokofjew, aber auch mit einem Bonus-Track des türkischen Komponisten Ulvi Cemal Erkin. Die Familie von Ahmet Kocabiyik nutzt den jugendlichen Élan des Österreichers, der im Schnitt zwei Mal im Monat eingeflogen wird und sich aus einem Pool von etwa 100 Musikern bedienen darf. Geprobt wurde in den vergangenen Jahren zwar noch in einem leeren Raum einer zum Konzern gehörenden BMW-Werkstatt, aber die Klassik-Wüste Istanbul hat mit dem Engagement der Familie zumindest eine Wasserstelle.
Goetzel führt jetzt durch die Etagen des Kunsthauses. Borusan hat das alte Geschäftshaus vor ein paar Jahren erworben und komplett umbauen lassen. Es wirkt wie ein geschrumpftes Museum of Modern Art. Auf den einzelnen Etagen wurden Proberäume für junge Musiker eingerichtet, in der Mitte finden kleinere Konzerte statt. Nicht nur Klassik, gerne auch Jazz. Das Credo: Wenn die türkischen Kulturbeauftragten sich nicht um den Nachwuchs kümmern, macht es die Familie eben selbst.
Am Abend dann, das Konzert im Lütfi Kirdar Convention Center. Das Haus erinnert ein wenig an einen Schulsaal, nur größer natürlich. Die Besucher sind keine Klassik-Freaks, sie tragen weder Smoking noch Abendkleid. Dafür sind sie deutlich jünger als der Schnitt in Wien oder München. Ab und zu passiert es noch, dass an falschen Stellen geklatscht wird, aber, so Götzel, „wir haben hier einen sehr professionellen Anspruch.“ Das Orchester soll in den nächsten Jahren konstant wachsen und international zum Einsatz kommen. Eigentlich muss es das nicht: Wenn es irgendwann einen adäquaten Konzertsaal gibt, sollte man es in Istanbul besuchen.