Calixto Bieito

»Wir sind neuro­ti­sche Tiere!«

von Ruth Renée Reif

26. Oktober 2021

Calixto Bieito gehört zu den Regisseuren, denen man das Attribut Werktreue zuschreiben kann. Damit gewann er Feinde, die von Skandal sprachen, aber vor allem Fans, die Wahrhaftigkeit schätzen.

CRESCENDO: Señor Bieito, der spani­sche Dichter Federico García Llorca schreibt von „der bestän­digen Suche nach etwas, das unsere Seele von ihrem Schmerz befreien könnte“. Ist es diese Suche, die Sie zur Bühne treibt?

: Lorca hat wunder­bare Sätze geschrieben. Die Suche nach Glück und Harmonie ist jedoch ebenso wenig mit meiner Arbeit verbunden wie das Weinen und der Schmerz. Es ist das Leben, das uns diese Augen­blicke beschert. Was mich zu Bühne zieht, ist meine Leiden­schaft für die Musik und das Theater. Und vor allem liebe ich die Proben­ar­beit.

Calixto Bieito

Calixto Bieito: »Die Intui­tion spielt eine wich­tige Rolle in meiner Arbeit.«

(Foto: © Pérez de Eulate / Teatro Argen­tino)

Sie stellen auf der Bühne dar, wovon der Text und vor allem die Musik wirk­lich handeln. Wie bereiten Sie eine Insze­nie­rung vor?

Meine Vorbe­rei­tung besteht aus einer breiten Palette an Emotionen, Erin­ne­rungen, Erfah­rungen und Gedanken. Zahl­reiche Einflüsse kommen in ihr zusammen. Meist ist sie mit anderen Künsten verbunden, dem Alltags­leben und persön­li­chen Erfah­rungen sowie Träumen. Eine meiner ersten Opern­in­sze­nie­rungen war Joseph Haydns Il mondo della luna (Die Welt auf dem Mond.). Die Ideen dazu kamen mir in vielen Nächten, die ich im Varieté El Molino in zubrachte. Die Shows inspi­rierten mich, und ich fertigste kleine Zeich­nungen an. Manchmal suche ich auch bestimmte Orte auf, um ihre Atmo­sphäre in mich aufzu­nehmen. Als ich zum Beispiel am Natio­nal­theater in eine Bear­bei­tung des Romans Myste­rier (Geheim­nisse) von Knut Hamsun auf die Bühne brachte, fuhr ich nach Hamarøy im Nord­land, wo das Eltern­haus Hamsuns steht, in dem dieser seine Kind­heit verbrachte. Ich hielt mich viele Stunden in dem Haus auf, befühlte die Wände und besah die Fami­li­en­bilder. Anschlie­ßend streifte ich durch die länd­liche Umge­bung. Ich erspürte die Kräfte der Land­schaft und des Meeres. Auch den Friedhof besuchte ich. Diese Reise half mir, meine Ideen und Einsichten zu formen und zu verbinden. Die Intui­tion spielt eine wich­tige Rolle in meiner Arbeit.

Können Sie, wenn Sie sich einer Oper zuwenden, sofort sehen, was unter der Ober­fläche geschieht? Tatsäch­lich geraten die Intui­tion und die Gedanken in den ersten Momenten der Arbeit schnell in Fluss. Sie scheinen oft auch zu stimmen. Aber manchmal ist es schwierig zu sehen, was hinter der Musik und dem Libretto versteckt liegt. So ist zwar der Beginn meines Weges intuitiv. Aber dann setze ich ihn akade­misch fort. Es beginnt mit einer ausgie­bigen Feld­for­schung auf dem Gebiet der Oper, um die es geht. Hernach stelle ich Verbin­dungen her zu bestimmten Büchern, Foto­gra­fien, Gemälden, Filmen, philo­so­phi­schen Werken, der Musik anderer Epochen, Tanz­be­we­gungen, Geträumtem. Ich greife auch aktu­elle Nach­richten auf und beschäf­tige mich mit allen mögli­chen Wissens­be­rei­chen. Viel habe ich über die Fort­schritte in der Erfor­schung des Univer­sums und der Biologie gelesen. Eines meiner Lieb­lings­werke ist das Gedicht De rerum natura (Über die Natur der Dinge) von Lukrez. Dieses Werk weckt in mir die Erin­ne­rung an Erleb­nisse in meiner Vergan­gen­heit und an Träume. Der Prozess gipfelt schließ­lich in den Proben.

Mozarts Don Giovanni zeigten Sie 2001 in London und 2002 in als „Hedo­nisten der Zerstö­rung“. Was brachte Sie dazu?

Don Giovanni ist eine nihi­lis­ti­sche und selbst­zer­stö­re­ri­sche Oper. Sie ist aufge­laden mit Sarkasmus, Eleganz und Vulga­rität. Ihr Libretto ist groß­artig. Was man in dem Werk sodann entdeckt, ist Leben, Mensch­lich­keit und damit Gewalt und Liebe, Mitleid, Bruta­lität, Einsam­keit und – Wahr­heit.

Die Entführung aus dem Serail

Calixto Bieito: »Die Entfüh­rung aus dem Serail wurde für mich zu einer starken Liebes­ge­schichte im brutalen Antlitz des wilden Kapi­ta­lismus.«

(Die Entfüh­rung aus dem Serail, Komi­sche Oper 2004, Foto: © Monika Ritters­haus)

Mozarts Entfüh­rung aus dem Serail ließen Sie 2004 in Ihrer Insze­nie­rung an der Komi­schen Oper im Bordell spielen…

Die Entfüh­rung aus dem Serail war für mich von Anfang an eine Liebes­ge­schichte. Klar schien, dass wir eine Oper vor uns hatten mit vielen Elementen, die uns mit ihr verbinden. Die Musik ist kraft­voll und ironisch, das Libretto dagegen dürftig. In ihm stehen Worte wie Liebe, Skla­verei, Frei­heit, Folter und Verge­bung. Ich beschloss, die orien­ta­li­schen Moden und das Deko­ra­tive aus Mozarts Zeit beiseite zu lassen. Es geht um eine Liebes­ge­schichte im Zusam­men­hang mit Skla­verei. Nach einer Reihe von Vorbe­rei­tungen stellte ich mir ein Umfeld tatsäch­li­cher sexu­eller Skla­verei vor: Was wäre, wenn ein selbst­mör­de­ri­scher Boss eines großen Bordells sich in eines seiner soeben einge­trof­fenen Mädchen verliebt? Eine solch verschlun­gene Liebes­ge­schichte erin­nerte mich an einen Film, der großen Eindruck bei mir hinter­ließ, nachdem ich ihn in jungen Jahren gesehen hatte: Bernardo Berto­luccis Ultimo tango a Parigi (Der letzte Tango in Paris). Nicht die Düster­keit der Szenen ergriff mich, sondern der Schmerz, der hinter ihnen verborgen lag. Ich besah die Gemälde von Francis Bacon, las erneut die Texte von Albert Camus und Simone de Beau­voir und der exis­ten­zia­lis­ti­schen Poesie. Zu den Proben in Berlin lud mein Drama­turg eine kleine Gruppe Prosti­tu­ierter ein, mit denen wir spre­chen konnten. So wurde Die Entfüh­rung aus dem Serail für mich zu einer starken Liebes­ge­schichte im brutalen Antlitz des wilden Kapi­ta­lismus.

Elias

Calixto Bieito: »Magi­sche Momente in den Proben bescheren uns das Gefühl, wir könnten die Zeit anhalten.«

(Elias, Theater an der 2019, Foto: © Werner Kmetitsch)

, mit dem Sie 2019 im Theater an der Wien Elias in Szene setzten, berichtet von Ihrer Bereit­schaft, Ihre Ideen auch über Bord zu werfen, wenn sich in den Proben etwas Neues auftut. Ist das Proben für Sie ein Prozess mit offenem Ausgang?

Die Proben mit allen Betei­ligten sind der letzte Abschnitt der Vorbe­rei­tung und zugleich deren Höhe­punkt. Natür­lich habe ich, sobald ich mit ihnen beginne, ein klares Allge­mein­kon­zept und viele Bilder und Farben, die ich vermit­teln möchte. Aber ich bin offen, entspannt und durch­lässig. Ich ziehe nicht auf Biegen und Brechen alles so durch, wie ich es im Sinn habe. Es geht um ein gemein­sames Schaffen, Erfinden und Fanta­sieren. Wenn ich schon genau weiß, was ich sehen möchte, warum sollte ich mich dem allen unter­ziehen?

„Zu spüren, wo die meiste Energie im Raum ist“, beschrieben Sie einmal die Gabe, die einen Regis­seur ausmache…

Man muss aufmerksam sein gegen­über allen authen­ti­schen krea­tiven Vorgängen, die in einem Proben­raum geschehen. Um diese Empfind­sam­keit zu , bedarf es eines inten­siven Trai­nings. Man braucht Groß­zü­gig­keit, Diszi­plin und geis­tige Frei­heit.

Gibt es einen spezi­ellen Augen­blick, wenn etwas sichtbar wird und Sie wissen: Das ist es?

Glück­li­cher­weise erleben wir viele magi­sche Momente in den Proben. Sie bescheren uns das Gefühl, wir könnten die Zeit anhalten und dehnen. Adan Kovac­sics, ein groß­ar­tiger Freund und mein erster Mentor, ist über­zeugt, dass die Kunst einem zusätz­liche Lebens­zeit schenkt. Das sind die Augen­blicke, in denen alles fließt.

Die Reak­tionen von Teilen des Publi­kums legen nahe, dass Sie mit Ihren radi­kalen Insze­nie­rungen ein Tabu gebro­chen haben. Können Sie sich erklären, worin es bestand?

Ich habe bei meiner Arbeit niemals Tabus im Sinn. Auch kann ich mich nicht erin­nern, mit meinen künst­le­ri­schen Teams jemals über Tabus gespro­chen zu haben. Ich versuche, an die Wurzeln der „Bäume“ zu gelangen, um ihr Inneres zu erkunden, den Stamm und die Blätter zu durch­for­schen und zu verfolgen, wie der Saft fließt. Es gibt verschie­dene Gesell­schaften, Kulturen und spiri­tu­elle Gemein­schaften, und alle haben ihre Eigen­heiten und ihre so genannten Tabus.

Sie haben sich vorwie­gend den großen klas­si­schen Opern von Mozart, Verdi und Wagner sowie Wieder­ent­de­ckungen gewidmet. Hèctor Parras Wilde scheint Ihre einzige Insze­nie­rung einer Urauf­füh­rung zu sein. Ist es inter­es­santer für Sie, den alten Opern­stoffen auf den Grund zu gehen?

Keines­wegs. Tatsäch­lich würde ich mit Bernardo Atxaga gerne eine Oper über Wälder, Flüsse und Tiere schaffen. Und für 2022 arbeite ich an einem Libretto von Pier Paolo Paso­linis Vers­drama Orgia mit der Musik von Hèctor Parra. Ich liebe Paso­linis Poeme sehr. Sein Film Il Vangelo secondo Matteo (Das 1. Evan­ge­lium – Matthäus) hat mich tief bewegt. Was Orgia erzählt, ist erschüt­ternd und tragisch. Es zeigt Krank­heit und Grau­sam­keit und zugleich das leidende und verlo­rene Selbst. Von dieser Dualität Paso­linis war ich immer faszi­niert. Ich glaube, Parra empfindet das genauso, obwohl wir nie darüber gespro­chen haben.

Der feurige Engel

Calixto Bieito: »Es ist eine alte Sehn­sucht der Mensch­heit, alles Wissen und Denken zu kontrol­lieren.«

(Der feurige Engel, Oper 2017, Foto: © Monika Ritters­haus)

Zu Ihren Wieder­ent­de­ckungen gehört Sergej Prokof­jews Oper Der feurige Engel 2017 am . Sie erzählt die Geschichte einer reli­giösen Hyste­ri­kerin, und Sie zeigen als Ursache dieser Hysterie ihren unbe­wäl­tigten sexu­ellen Miss­brauch als Kind.

In der Oper geht es nicht allein um sexu­ellen Miss­brauch. Gezeigt wird darüber hinaus, wie eine kleine, in sich selbst einge­schlos­sene, mittel­mä­ßige, büro­kra­ti­sierte Gemein­schaft das Bild dieses Mädchens Renata zerstört, weil deren Vorstel­lung frei ist und weil sie anders ist.

Sigmund Freud betonte, welch neuro­ti­sie­rende Wirkung die Unter­drü­ckung von Sexua­lität habe. Sie spre­chen in Bezug auf Ihre Insze­nie­rungen mehr­fach von einer neuro­ti­sierten Gesell­schaft…

Freud widmete Jahre seines Lebens der Forschung und fand Bezeich­nungen für etwas, das in früheren Gesell­schaften exis­tierte. Er war ein Mann seiner Zeit. Wir sind in andere Prozesse einge­bunden, in denen Freuds Begriffe Teil unserer Alltags­sprache sind. Unsere Gegen­wart wird bestimmt von der tech­ni­schen Entwick­lung und dem wissen­schaft­li­chen Fort­schritt, verbunden mit dem Ende der ideo­lo­gi­schen Stürme des letzten Jahr­hun­derts. Wir müssen mit der Unsi­cher­heit des digi­talen Zeit­al­ters leben. Und wir sind neuro­ti­sche Tiere. Es ist eine alte Sehn­sucht der Mensch­heit, alles Wissen und Denken zu kontrol­lieren. Bereits Alex­ander der Große verfolgte mit der Biblio­thek von Alex­an­dria und der helle­nis­ti­schen Globa­li­sie­rung dieses Ziel. Das digi­tale Zeit­alter kommt dieser Sehn­sucht eben­falls entgegen. Darum ist es schwer, aus dem Rad raus­zu­kommen.

Sie kamen bereits mit drei Jahren zu den Jesuiten und wurden von ihnen erzogen und unter­richtet. Hat das Aufwachsen in einer Umge­bung verbo­tener Sexua­lität Ihre Arbeit geprägt?

Ich vermute, dass alle Erfah­rungen die Bildung einer Persön­lich­keit beein­flussen. Manchmal erfuhr ich eine harte Erzie­hung. Aber meine Kind­heit war auch verbunden mit Wäldern, Flüssen und dem Meer. Ich kam in Bezie­hung zum Theater, zum Kino, zur Musik, zur Lite­ratur, zur Geschichte und zum Sport. Die Oster­pro­zes­sion in war reines Barock­theater. In der Schule spielte ich Theater, befasste mich mit Ölma­lerei, sang – mit ziem­li­cher Nervo­sität – im Chor und stellte in Vivaldis Vier Jahres­zeiten den Schnee dar. Ich erhielt eine huma­nis­ti­sche Erzie­hung, auch wenn ich nicht denke, dass ich dafür auf eine reli­giöse Schule hätte gehen müssen.

Calixto Bieito: »Das Schlüs­sel­wort mit den Schau­spie­lern, den Sängern und viel­leicht mit allen Menschen ist Vertrauen.«

(Der Frei­schütz, 2012, Foto: © Wolf­gang Silveri)

Der verstor­bene Regis­seur wollte auf der Bühne „alle Fragen der Welt“ durch­spielen. möchte die Ausschließ­lich­keit einer Kamera errei­chen. Und Ihr Lands­mann strebt nach einer kollek­tiven Katharsis. Erheben Sie auch einen solchen Anspruch?

Ich verfolge keine bestimmte Absicht. Weder vertrete ich eine These, noch schreibe ich dem Publikum vor, was es denken soll. Ich versuche, auf die Bühne zu bringen, was ich um mich herum sehe, was mich bewegt oder scho­ckiert. Ich beob­achte und schließe dann die Augen… Im Publikum hat jeder das Recht, was er auf der Bühne sieht, zu inter­pre­tieren, wie er will.

Ihre Darsteller bringen Sie dazu, sich zu öffnen, ihr Innen­leben zu offen­baren und über sich hinaus­zu­gehen. Wünschen Sie sich, dass Ihnen das auch beim Publikum gelingt?

Das Schlüs­sel­wort mit den Schau­spie­lern, den Sängern und viel­leicht mit allen Menschen ist Vertrauen. Ich liebe es zu erleben, wie die Darsteller auf der Bühne uns mit ihrer Mensch­lich­keit und ihrer Frei­heit treffen. Wenn wir das Publikum dazu bringen, etwas zu entde­cken, von dem es nicht wusste, dass es exis­tiert, dann ist es perfekt.

Sind Sie enttäuscht oder scho­ckiert, wenn bei einer Auffüh­rung das Publikum nicht bereit ist, Ihnen zu folgen und es Buh-Rufe gibt?

Ich mag keine Buh-Rufe. Man sagt, dass es verrückt ist, jedem gefallen zu wollen. Viel­leicht bin ich ein Verrückter.

Hatten Sie Gele­gen­heit, mit Zuschauern, die Ihre Insze­nie­rungen ablehnen, zu spre­chen?

Nein, das hatte ich nicht. Aller­dings erhielt ich einige wüste und krän­kende Belei­di­gungen, Angriffe und Abqua­li­fi­zie­rungen.

L'incoronazione di poppea

Calixto Bieito: »Ich versuche, im Einklang zu sein mit dem, was ich tue.«

(L’inco­ro­na­zione di Poppea, Oper Zürich 2018, Foto: © Monika Ritters­haus)

Wie gehen Sie damit um, als „Provo­ka­teur“ und „Skan­dal­re­gis­seur“ bezeichnet zu werden?

Manchmal muss man etwas bezeichnen oder einordnen. Ich kann das nicht kontrol­lieren, und es würde mich in ein soziales Leben führen, das ich mit meiner Arbeit nicht verein­baren kann. Damit ist alles bedeu­tungslos, was ich dazu sage.

Und wie steht es um die Bezeich­nung „Mora­list“, als der Sie auch gesehen werden?

Der Begriff „Mora­list“ hat viele Nuancen, und ich weiß nicht, welche gemeint ist, wenn ich damit in Verbin­dung gebracht werde. Auf jeden Fall versuche ich, im Einklang zu sein mit dem, was ich tue. Ich bin kein Ideen­händler. Die Mensch­heit ist fähig zum Besten ebenso wie zum Schreck­lichsten, Brutalsten und Uner­freu­lichsten. Lassen Sie uns das Gute bewahren!

Fotos: Monika Rittershaus