Chen Reiss
Der Zauber der Musik
von Stefan Sell
10. November 2020
Chen Reiss hat ihr Album »Immortal Beloved« ausschließlich den Arien von Ludwig van Beethoven gewidmet und dabei viel Unbekanntes entdeckt.
Ob sie vor Papst Franziskus singt oder im Film Das Parfüm – die Sopranistin Chen Reiss ist eine außergewöhnliche Frau. Man spürt, dass es ihr leichtfällt, vieles gleichzeitig und quer zu denken. Wissensdurstig ist sie, energisch und kämpferisch, voller Ideen und Eigensinn, dabei gewitzt und humorvoll. All das ist zu spüren auf ihrem neuen Album, das sich ausschließlich Beethoven-Arien widmet.
Beethoven hätte sie geliebt – er verehrte starke Frauen. Chen Reiss entscheidet, was sie singt und wie. Die israelische Sopranistin ist schon früh ihrem Herzensruf gefolgt: Mit sechs hat sie die erste Klavier‑, mit 14 die erste Gesangsstunde, mit 16 weiß sie: Sie wird Sängerin. Selbst ihren zweijährigen Militärdienst in Israel absolviert sie als Gesangssolistin im Orchester der Streitkräfte. Ihren Durchbruch hat sie mit 21 an der Bayerischen Staatsoper. Zubin Mehta hatte sie in New York gehört und sofort engagiert. Seither ist sie auf den Bühnen der Welt zu Hause.
Im Gespräch mit Chen Reiss führt zunächst kein Weg daran vorbei: Es geht um Corona, die vielen Auftritte, die ausfallen, das eingeengte Arbeiten von zu Hause aus, über all die vergeblichen Versuche, mit auf Pixel und mp3 reduzierten Internetauftritten über die Ausfälle hinwegtrösten zu wollen. „Musik über das Internet kann kein Ersatz sein. Es ist, als würde ich jemandem erklären, wie Schokolade schmeckt.“ Schnell wird klar, dass für sie nur der spürbare Kontakt zu den Mitmusizierenden, die Unmittelbarkeit zum Publikum das wahre Konzertieren ausmachen. Dennoch sieht sie in der Krise eine Chance, neue Wege zu gehen. Gerade Künstler könnten Perspektiven schaffen und wären damit systemrelevanter, als die meisten vermuten. Das nicht Materielle, das flüchtige Element der Musik beweist: Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als jede Schulweisheit sich träumen lässt.
»Die Liebe ist bei Beethoven immer da, die Liebe für die Musik, die Liebe für die Stimme.«
Reiss« neues Album, „Immortal Beloved“, präsentiert einen Beethoven, den wir so nicht kennen. Virtuos jongliert sie mit den Gefühlslagen der Szenen, Arien und Lieder. Klug hat sie mit dem Repertoire Akzente gesetzt und gibt den Hörern die Gewissheit, im Leben zählt nur eines: die Liebe.
„Für mich ist das bei Beethoven sehr klar: Die Liebe ist immer da, die Liebe für die Musik, die Liebe für die Stimme. Neu war mir zu hören, er habe die Stimme ignoriert. Aber nein! Er hat am Theater an der Wien gewohnt und sich mit den Sängern ausgetauscht. Vielleicht fehlte ihm als Pianist das Selbstvertrauen, für Gesang zu schreiben, aber alles, was er geschrieben hat, sind Meisterwerke.“
Wie aber ist sie wohl dazu gekommen, aus all diesen selten gesungenen Partien bis hin zur heiteren Buffo-Arie Soll ein Schuh nicht drücken ein Album zu machen? „Ich hatte einen Vertrag mit der Wiener Staatsoper, die Urfassung der Leonore von 1805 zu singen. Darin ist ein Duett für Leonore und Marceline. Das war für mich neu, wunderschön und meiner Meinung nach das Beste in dieser Oper für die Gesangsstimme. Ein Part, der leider in der späteren Fassung des Fidelio gestrichen wurde.
Beethoven hat bei Sängern den Ruf, dass er sehr unbequem sein kann. Ich weiß. Man übt und denkt, warum hat er das so geschrieben? So instrumental – als würde er für eine Geige schreiben. Aber dann dieses Duett! Da dachte ich mir, vielleicht gibt es ja mehr so interessante Stücke aus seiner Jugend.“
Allen zu erwartenden Hürden zum Trotz hat Reiss sich zwei Jahre intensiv damit beschäftigt. „Bei meiner Recherche habe ich dann so wunderbare Arien entdeckt wie Primo amore, eine 15-minütige Szene, die er in Bonn verfasst hat. Man dachte, sie wäre in Wien entstanden, aber es hatte zuvor schon einen deutschen Text gegeben. Vermutlich hat er diese Arie für die Sopranistin Magdalena Willmann geschrieben, die Tochter einer musikalischen Nachbarsfamilie. Vielleicht war sie sogar seine erste Liebe.“
Ganz mit ihrem neuen Programm verwoben, fällt ihr gleich die Romanze aus Leonore Prohaska ein, der Musik zu einem Drama um die kampfesmutige Trommlerin der Freiheitskriege von 1813 bis 1815. Reiss identifiziert sich mit den Frauen, die Beethoven in seinen Werken anspricht. Sie wird zur Stimme von Selbstbestimmtheit, aufrechtem Gang, Freiheit und Courage. „Beethovens Es blüht eine Blume im Garten mein aus Leonore Prohaska ist eine Perle, so schlicht, so rein und perfekt – das ist für mich Beethoven.“
Dem kann man nur zustimmen. Ihr Album ist ein einziger Perlenkranz geworden und offenbart einen Beethoven der Stimme, schwierig auszuführen, unbequem in der Lage, doch romantisch, klassisch, wunderschön, in jedem Ton meisterhaft. Es scheint, als hätte Chen Reiss ihren Interpretationen so etwas wie einen Subtext, eine zweite Schicht unterlegt, die etwas verrät, was wir so von Beethoven nicht wussten. Die Szene und Arie Ah, perfido! bestreitet sie mit frischem Tempo, mutig, belebend – wie ein Sprung ins kalte Wasser. Dann hält sie inne, überrascht wie das unerwartete Aufleuchten eines Meteors, dessen Spur für einen Moment am Himmel weilt.
»Die Liebe ist bei Beethoven immer da, die Liebe für die Musik, die Liebe für die Stimme.«
„Mit diesem Album wollte ich zeigen: Beethoven kommt aus der Klassik, er kommt aus der Welt Haydns. Das muss man mit Schlichtheit singen, so schlicht wie man Haydn und Mozart singt – nicht dramatisch. Wie zum Beispiel Fliesse, Wonnezähre, fliesse! – ein ganz frühes Werk. So wunderschön…“
Diese Arie eröffnet ihre CD „Immortal Beloved“. Wer oder was aber, glaubt sie, ist diese unsterbliche Geliebte? „Für mich ist die unsterbliche Geliebte ein Vorbild für das, was Liebe bedeutet, ein Ideal. Er hatte eine ideale Frau in seinem Kopf. Keine Frau kann so perfekt sein! Eine Frau wie Leonore ist sehr mutig, sehr selbstbewusst und sehr unabhängig – was zu der Zeit etwas Besonderes war. Und dennoch hat sie Verpflichtungen. Sie ist vollkommen bei ihrem Mann, sie ist bereit, für ihren Mann ihr Leben zu riskieren, ihm aus Liebe zu dienen – das hat Beethoven in seinem Leben nie gefunden. Am Ende war mir klar: Einzig die Musik hat ihn nicht enttäuscht, das war seine Liebe, das war sein Ideal. Die Liebe für die Frauen, die Liebe für die Musik – das ist die Liebe für die Liebe, die Sehnsucht nach unbedingter Liebe. Das habe ich in jedem Stück gefunden.“
Heißt das, die Liebe ist hier etwas Transzendentes? „Musiker spüren das, besonders so empfindliche Musiker wie Beethoven. Wir spüren diese Extradimension in der Welt, von all dem, was wir nicht sehen können, nicht berühren können, von dem wir aber wissen, es ist da. Manche nennen es Gott oder Inspiration, für andere ist es das Universum, wie oder was auch immer. Wir wissen, dass es diese Dimension gibt. Gerade in Beethovens Musik spürt man diesen Zauber ganz deutlich. Musik hat Macht. Über die Ohren sind die Menschen sehr tief zu erreichen.“
»Wenn das Orchester zu spielen beginnt, dann geht für mich die Sonne auf und ich bin voller Energie.«
Und wieder betont sie, dass für sie Musik nur im Miteinander entstehen kann. Skype oder Zoom können keine Alternative sein. „Zusammen Musik zu machen, bedeutet unglaubliche Energie. Wenn ich morgens schlecht gelaunt bin, alles viel zu früh beginnt und lästig ist, ich zur Probe ins Theater gehe und plötzlich das Orchester zu spielen beginnt, dann geht für mich die Sonne auf und ich bin voller Energie.“ Ein passendes Bild. Denn wenn Chen Reiss Beethovens Tremate, empi, tremate singt, gleich nach dem dunklen Bass, der das Terzett einleitet, dann wird es hell, dann beginnt ihr Leuchten, ihr Strahlen – so sehr, dass man wirklich glaubt, die Sonne ginge auf.
„Ist das nicht wunderbar? Das war eine Entdeckung, dieses Terzett, und es wird nie gespielt. Ich bin verantwortlich, dass diese Musik öffentlich gespielt wird. Kein Veranstalter hat es im Programm. Ich hoffe, dass sich bald mehr trauen, das zu präsentieren. Und ich bin sicher, das Publikum wird es genießen. Die Konzerte, die ich damit noch geben konnte, stießen bei allen auf Begeisterung. Der arme Beethoven! Er hat durch Corona seinen Geburtstag verpasst. Egal wie schwierig diese Zeit ist – wichtig ist zu wissen: Alles wird gut. Und auch morgen wird die Sonne wieder scheinen, ob wir wollen oder nicht. Die Welt geht weiter, und ich glaube, das gilt auch für die Musikwelt. Ich bin ein optimistischer Mensch. Auch wenn manche denken, wir Künstler seien irrelevant – nicht nur die Musik von Beethoven hat 250 Jahre überlebt. Es gibt so viele Menschen die dafür brennen. Wer das irrelevant findet, ist schon verloren.“
Weitere Informationen zu Chen Reiss und ihre Auftrittstermine unter: www.chenreiss.com