Christian Thielemann

»Bruckner hat uns Glück gebracht«

von Verena Fischer-Zernin

2. Mai 2021

Christian Thielemann zählt zu den großen Dirigenten unserer Zeit. Bereits als Jugendlicher war er leidenschaftlicher Bruckner-Fan. Im Gespräch erzählt er vom Respekt gegenüber dem Werk, der Balance von Herz und Kopf und der enormen Wirkung von Musik.

CRESCENDO: Herr Thie­le­mann, Sie bringen gerade einen Zyklus von Bruckner-Sinfo­nien mit der Säch­si­schen Staats­ka­pelle heraus. Wie katho­lisch muss man sein, um Bruckner zu begreifen?

: Überhaupt nicht. Ob Sie Buddhist sind, Jude, evan­ge­lisch oder katho­lisch oder viel­leicht sogar Atheist, Sie müssen eine Art von kontem­pla­tiver Seite haben. Bruckner taugt für alle. 

Chris­tian Thie­le­mann am Pult der Säch­si­schen bei Anton Bruck­ners Fünfter Sinfonie

Wenn man sich die Mythen anschaut, die sich um dieses Œuvre ranken, wenn man an Sergiu Celi­bi­dache denkt oder an : Erdrückt einen die Rezep­ti­ons­ge­schichte?

Nein, bei mir war das ganz unprä­ten­tiös. Als ich Bruckner Mal in meiner Jugend hörte, hat es mich sofort gepackt. Ich kann mich erin­nern, wie Karajan in der Berliner Phil­har­monie die Fünfte diri­gierte und ich nach dem Konzert auf dem Park­platz taumelte, ganz bene­belt von dem Choral. Daraufhin habe ich die anderen Sinfo­nien gehört und sie mir langsam erar­beitet.

Ohne zuviel Ehrfurcht.

Die hat man in meinem Beruf eigent­lich nie. Nennen Sie es lieber Respekt. Die erste Bruckner-Sinfonie, die ich diri­giert habe, war die Vierte. Da war ich Anfang 20. Sie ist mir damals nicht gut gelungen. Ich musste mir einge­stehen, dass es doch schwie­riger war, als ich es mir vorge­stellt hatte. 

Nämlich? 

Das will ich Ihnen sagen! Wenn Sie zu langsam sind, dann wird die Musik breiig und ereig­nislos. Wir müssen bei Bruckner an die Archi­tektur denken und an die große Linie. Wo sind die großen Höhe­punkte, wo muss man ein biss­chen weniger geben, wo muss man das Tempo modi­fi­zieren. Und dann hat Bruckner natür­lich auch einen bestimmten Klang, der von der Orgel kommt. Als kleiner Junge wollte ich Orga­nist werden… 

Das sind Sie in gewissem Sinne ja auch geworden… 

Das ist viel­leicht der Grund, weshalb mich Bruckner so faszi­niert hat. Um auf Ihre Frage zurück­zu­kommen: Sie müssen eine Bruckner-Sinfonie gut struk­tu­rieren.  

Und nicht zu gefühlig sein, nehme ich an? 

Doch, auch. Aber eben nicht immer. Herz und Kopf, beides. Wenn Sie zu sehr analy­sieren und etwas über­pro­bieren, dann wird es zu zere­bral. 

»Mit der Dresdner Staats­ka­pelle ist das eine osmo­ti­sche Bezie­hung.«

Sie haben im Zusam­men­hang mit Mahler von der Notwen­dig­keit des Dosie­rens gespro­chen, sowohl in der Laut­stärke als auch emotional. Fürchten Sie manchmal, sich selbst zu verlieren?

Das war früher so. Vor 20, 25 Jahren bin ich zu instinktiv an diese Dinge heran­ge­gangen. Das führte aller­dings nur bis zu einem gewissen Punkt. Man war schnell so über­wäl­tigt, dass einem die Kontrolle zu entgleiten drohte. Seit einigen Jahren bekomme ich das etwas besser hin. Ich kann mitschwimmen und es einfach geschehen lassen. 

Mitschwimmen? So etwas über einen Diri­genten zu sagen, ist ein Todes­ur­teil!

Das geht nur mit Orches­tern, die man sehr gut kennt. Mit der Dresdner Staats­ka­pelle ist das so eine osmo­ti­sche Bezie­hung.

Was ist denn das Geheimnis einer guten Probe? Wie bekommen Sie von den Musi­kern, was Sie wollen?

Gute Frage. Ich würde sagen: das Grund­sätz­liche klar probieren, genau im Detail sein und dann die „Zügel“ wieder locker lassen. Die Spiel­freude erhalten, die Musiker nicht knebeln. Es hat alles mit Vertrauen zu tun. Das kriegen Sie nur in einer längeren Bezie­hung.

Gleich­zeitig stehen Sie unter steter Beob­ach­tung. 

Auf jeden Fall. Ich muss mich andau­ernd bewähren. Die Musiker beob­achten genau, ob man sich weiter­ent­wi­ckelt. Mir hat mal jemand von der Kapelle gesagt: Sie haben Ihre Gestik verän­dert, seit Sie bei uns sind. Und das stimmt, sie ist kleiner geworden und beherrschter. 

Haben Sie bewusst an Ihrer Zeichen­ge­bung gear­beitet? 

Das ist eigent­lich von selbst gekommen. In heißen Sommern in denken Sie darüber nach. Ich habe aber fest­ge­stellt, dass es eine andere Aufmerk­sam­keit gibt, wenn man kleiner diri­giert. Nicht zu viel rumfuch­teln! Aber wenn man jünger ist, neigt man eher dazu.

Und was raten Sie Ihren Diri­gier­stu­denten?

Die sollen sich erst mal ausleben! Und dann muss man wie bei einer Pflanze irgend­wann mit der Schere an den Wild­wuchs. Aber wenn jemand von vorn­herein mit Mitte 20 so tut, als wäre er Mitte 60, dann sagt das Orchester, der hat ja über­haupt gar kein Tempe­ra­ment. Das Schlimmste sind die Früh­voll­endeten.

Kontrol­lieren Sie auch die opti­sche Wirkung?

Mir wird oft gesagt, ich sähe beim Diri­gieren nicht beson­ders elegant aus. Das kann sein. Mir ist das immer egal gewesen. Ich habe darauf geachtet, dass musi­ka­lisch das herauskam, was mir vorschwebte. 

Sich selbst zu sehen, das ist wie die eigene Stimme auf dem Anruf­be­ant­worter.

Grau-en-voll! Furchtbar! Wenn ich ein Video abnehmen muss und mir anschaue, wie ich auftrete, dann ist das manchmal eine Qual.

Ihrem Kollegen , der im März gestorben ist, hat die Frank­furter Allge­meine Zeitung nach­ge­rufen, er sei ein „Mystiker und Macht­mensch“ gewesen. Was bedeutet Ihnen Macht?

Ach, das ist keine schöne Frage. Sie sollten Über­zeu­gungs­kraft und Ausstrah­lung als Diri­gent haben. Das ist keine Macht im poli­ti­schen Sinne, aber eine Wirkungs­macht. Die ist immer wieder zu über­prüfen.

Ist Diri­gent ein einsamer Beruf?

Chefs sind immer einsam. Man muss sehen, dass man sein Privat­leben schützt, daher spielt sich das meinige nicht in der Musik ab. Für mich ist es wichtig, dass sich nicht alles um meinen Beruf dreht. Ich höre in meiner Frei­zeit zum Beispiel nicht sehr viel Musik, da sie derartig Besitz von mir ergreift, dass ich manchmal denke, sie droht mich zu erdrü­cken.

Musik kann erdrü­ckend sein?

In der Inten­sität, ja. Auf mich hat sie enorme Wirkung, und das ist wunderbar. Aber alles, was sehr intensiv ist, kann auch zur Belas­tung werden. 

Haben Sie Lampen­fieber?

Und wie.

Haben Sie Rituale, um damit zurecht­zu­kommen?

Naja, wie ich mir meine Manschet­ten­knöpfe anstecke und wie ich mich anziehe.

Die Aufnahmen für Ihre Staats­ka­pellen-Box sind in über sieben Jahre an vier Orten entstanden. Zwischen­durch haben Sie noch Bruckner mit den Wiener Phil­har­mo­ni­kern aufge­nommen. Was ist die künst­le­ri­sche Aussage einer so zeit­lich wie topo­gra­fisch diversen Gesamt­schau? 

Sie zeigt einfach die wunder­bare Arbeit mit der Kapelle, die schon einige Jahre andauert. Wir haben jede Spiel­zeit mit einer Bruckner-Sinfonie begonnen. Das hat auch einen senti­men­talen Grund: Ich bin zur Kapelle gekommen, weil ich für den Kollegen einsprang. Ich musste mich binnen zwei Tagen entscheiden. Ich habe gesagt, es geht nur, wenn ich etwas diri­giere, was ich wirk­lich drauf­habe. Das war Bruck­ners Achte. Als ich Chef­di­ri­gent wurde, hatte ich das Gefühl, Bruckner habe uns Glück gebracht und fragte, wieso machen wir nicht jedes Jahr eine Bruckner-Sinfonie? 

»Ich habe eine glück­liche Bezie­hung mit der Staats­ka­pelle.«

Und was kommt nach der Staats­ka­pelle, Herr Thie­le­mann?

Ja, was soll da kommen? Mein Vertrag in Dresden läuft bis 2024. Wir sind noch nicht durch den ganzen Beet­hoven durch. Ich finde, ein Chef­di­ri­gent muss sich bei den Bs beweisen, Bruckner, Brahms, Beet­hoven. Viel­leicht auch etwas Bach. Und natür­lich Schu­bert, Schu­mann. Es gibt noch Etli­ches zu tun.

Entwi­ckeln Sie Ihr Reper­toire aus der Bezie­hung mit einem Klang­körper heraus? Sie könnten sich ja sagen, das und das habe ich schon mit einem anderen Orchester gemacht.

Meine Erfah­rung ist: Je besser Sie ein Orchester kennen, also die Orchester mich und ich die Orchester, desto mehr kommt dabei heraus. Deshalb habe ich in den letzten Jahren sehr wenig gastiert. Ich habe eine sehr glück­liche Bezie­hung mit der Staats­ka­pelle. Wenn man sich so gut kennt, ist das wie im Privaten. Da merken Sie beim anderen schon am Telefon, naa, was ist denn da los? Und das spüre ich doch bei meinem Orchester auch.

Wenn die Verhält­nisse auf abseh­bare Zeit so blieben wie jetzt, was wäre Ihr Plan B? Nur noch Mendels­sohn Strei­cher­sin­fo­nien diri­gieren?

Sie sind gut. Das wäre furchtbar. Ich habe ja zum Glück eine feste Posi­tion. Ich mache mir viel mehr Gedanken um die jungen Leute und alle auf dem freien Markt. Viel­leicht sagen sich jetzt einige, den Beruf ergreife ich gar nicht mehr. Wenn das Orchester nicht spielen darf, wieso soll ich dann Horn üben? Das sind schlimme Entwick­lungen, deren Folgen sich erst in einigen Jahren zeigen werden.