Otto M. Krämer & David Cassan
Eine alte Kunst lebt: Stummfilme mit Orgelbegleitung
von Guido Krawinkel
8. Februar 2018
David Cassan und Otto Maria Krämer sind die Stars ihrer Zunft. Sie lassen die alte Kunst, Orgelmusik zu Stummfilmen zu improvisieren, wieder lebendig werden.
Es ist eine scheinbar idyllische Szene auf dem See: Die Sonne scheint, sanft kräuseln sich die Wellen auf dem Wasser, zahlreiche Vögel nutzen das gute Wetter für eine Rast auf dem Gewässer. Und doch stimmt etwas nicht. Ein Pärchen sitzt in einem Ruderboot. Während die Frau sich unschuldig umschaut, wirkt der an den Rudern sitzende Mann bedrückt, innerlich zerrissen. Die Stimmung ist angespannt, die Atmosphäre zunehmend bedrohlich. Zu sehen ist davon zunächst jedoch wenig, aber zu hören: beunruhigend pochende Harmonien einer Orgel, die immer eindringlicher und düsterer werden, begleiten die Szene. Noch weiß der Zuschauer nicht, was passieren wird, aber er ahnt bereits: Es wird etwas Schlimmes sein.
Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen heißt der Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau, in dem sich diese Szene abspielt. Untermalt wird er von Orgelmusik, live improvisiert von dem französischen Organisten David Cassan, einem Star seiner Zunft. Er hat drei der weltweit renommiertesten Improvisationswettbewerbe in St. Albans, Chartres und Haarlem gewonnen und wurde erst kürzlich als einer der Titularorganisten des Oratoire du Louvre in Paris ernannt.
Der smarte Mittzwanziger mit den riesigen Brillengläsern frönt nicht nur in liturgischem Rahmen der traditionsreichen Kunst der Improvisation. Er begleitet auch gerne Stummfilme, eine Kunst, die nach dem Aufkommen des Tonfilms fast in Vergessenheit zu geraten drohte. „Ich liebe die Improvisation, weil sie es mir ermöglicht, mich direkt auszudrücken, ohne den beschwerlichen Umweg über die Komposition zu nehmen. Das Publikum spürt dies meistens sofort“, so Cassan zu einem seiner Stummfilm-Konzerte mit Murnaus Sonnenaufgang.
»Musik kann dem Zuschauer den eigentlichen Sinn der Szene nahebringen«
„Improvisatoren lieben diesen Film, weil er sehr farbig ist, sehr kontrastreich. Es gibt bukolische, ruhige Szenen, aber auch Szenen in der Stadt, die voller Dynamik und Rhythmik sind. Es gibt lustige, ängstliche und fröhliche Szenen. Es ist ein Film, der es erlaubt, viele verschiedene Klangfarben der Orgel vorzustellen, die hierfür perfekt geeignet ist.“ Die scheinbar idyllische Szene am Anfang des Films ist zutiefst tragisch, da der Mann seine Frau betrügt und sie umbringen will. „In diesem Moment Musik für eine reine Liebesszene zu machen, würde der Doppelbödigkeit nicht gerecht. Die Musik kann dem Zuschauer aber den eigentlichen Sinn der Szene nahebringen.“
Die Improvisation zu Stummfilmen erlebt derzeit eine erfreuliche Renaissance, und das, obwohl die seinerzeit eigens dafür gebauten Instrumente vielfach abgerissen oder in Museen überführt wurden. Einzig das Babylon-Kino in Berlin verfügt in Europa noch über ein originales Instrument und leistet sich den Luxus einer hauptamtlichen Kinoorganistin. Zumeist aber wird die Kunst der Stummfilmimprovisation heutzutage an Orten gepflegt, die ursprünglich nicht dafür gedacht waren, etwa in Kirchen.
Dort verrichtet auch der Kirchenmusiker Otto M. Krämer seinen Dienst. Im niederrheinischen Straelen kommentiert und begleitet er normalerweise die liturgische Dramaturgie mit seinen Improvisationen, doch genauso leidenschaftlich improvisiert er live zu Stummfilmen. „Zunächst war ich auf der Suche nach etwas, das man noch auf der Orgel machen kann. Wie kann ich die Orgel in der Kirche anders präsentieren, nicht nur in der Liturgie oder im Konzert?“ Und abseits von Choralvorspielen, Fantasien und Sinfonien, die der für sein Stegreifspiel weltweit anerkannte Musiker für gewöhnlich auf seinem Instrument improvisiert.
»Mir geht es darum, Orgelmusik zu dramatisieren. Liturgie ist auch nur ein heiliges Theater«
Doch der kirchliche Rahmen bedingt auch, dass nicht jeder Film geeignet ist. „Wichtig im Kirchenraum ist, dass die Botschaft kirchenverträglich ist.“ Der Galiläer etwa sei ein veritabler Passionsfilm, und auch Ben Hur und Der Glöckner von Notre Dame, Faust oder Nathan der Weise sind möglich. Eine freizügige Klamotte eher nicht. Krämer geht es darum, der Orgel neue Betätigungsfelder und neues Publikum zu erschließen und im Grunde genommen seien die Begleitung eines Stummfilms und einer Liturgie auch gar nicht so verschieden. „Mir geht es darum, Orgelmusik zu dramatisieren. Liturgie ist ja auch nur eine Art heiliges Theater.“
Wenn Krämer sich einen neuen Film aneignet, heißt es erst mal: den Film schauen, mehrmals. Dann macht er sich Notizen, legt Leitmotive fest. Doch welche Musik im Moment der Aufführung erklingt, das weiß auch er erst im Moment der Aufführung selbst. David Cassan geht vergleichbar vor, bei der Aufführung heißt es: blitzschnell reagieren und sich der Situation anpassen. „Ich schaue mir den Film an und schneide ihn für mich in Szenen. Dann überlege ich mir, welche Musik zu welchen Szenen passt und welche Entwicklungen es von einer Szene zur nächsten gibt.“ Es geht um Spannungsbögen, Entwicklungen, Verläufe. „Das Ziel ist es nicht, jedes kleinste Detail zu kommentieren, sondern einen großen Plan für den ganzen Film zu machen, der dann immer weiter verfeinert wird, Sekunde für Sekunde.“
»Auf dem Höhepunkt eines Filmes mache ich nichts. Diese Stille ist wirkungsvoller als jede Musik«
Fallstricke gibt es trotz aller Vorbereitung genug, wie Cassan schon leidvoll erfahren hat. „Wenn die Filme im 35-mm-Format gezeigt werden, ist die Geschwindigkeit etwas schneller als auf DVD.“ Das Ergebnis: ein sekundengenauer Plan hinkt dem Film unweigerlich hinterher. Cassan markiert deshalb nicht mehr nur die Länge in Sekunden und Minuten, sondern notiert sich szenische Schlüsselmomente und Motive als Hinweise. Zu viel oder zu detailliert sollte man einen Film aber nicht begleiten. „Im Gegenteil, oft gilt die Devise: Weniger ist mehr. Man muss gar nicht so viele komplexe Sachen machen, der Film braucht das nicht. Manchmal reicht schon eine Note oder Stille. Auf dem Höhepunkt eines Filmes mache ich nach einer langen Steigerung manchmal einfach nichts. Und diese Stille ist an dieser Stelle viel wirkungsvoller als jede Musik.“
Auf der Orgel ist es komplizierter einen Film zu begleiten als etwa mit einem Klavier. „Man muss Registrierungen vorbereiten und dem Film deshalb immer etwas voraus sein. Auf dem Klavier kann man dagegen sofort reagieren.“ Das eigentliche Improvisieren fällt Cassan nicht schwer. „Wenn ich Bilder sehe, habe ich augenblicklich die passende Musik dafür im Kopf. Manchmal passiert es mir zudem, dass ich plötzlich komponierte Werke in die Begleitung eines Films einbaue.“ Die stilistischen Mittel sind bei der Improvisation unbegrenzt. Cassan ist in vielen musikalischen Welten zu Hause: barock, romantisch, modern oder auch atonal, alles ist möglich, standardisiert ist nichts.
Manchmal muss man als Stummfilmorganist allerdings mehr improvisieren, als einem lieb ist, etwa, wenn während des Films der Bildschirm für den Organisten ausfällt. Erlebt hat Otto M. Krämer dies schon, die Folge: zwei Stunden lang Blindflug und ein steifer Nacken, weil er ständig über die Schulter in Richtung Leinwand schielen musste. Auch das gehört zum Alltag eines Stummfilm-Improvisators.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Otto Maria Krämer und seine Orgelimprovisationen auf: www.orgelimprovisationen.de
Auftrittstermine und weitere Informationen zum Organisten David Cassan auf: www.davidcassan.com