Andris Nelsons
Der junge Gralsretter am Gewandhaus
von Roland H. Dippel
15. März 2018
Der junge Gralsretter und Gralshüter am Gewandhaus: Andris Nelsons vereint Gegenwart und triumphale Vergangenheit.
Andris Nelsons vereint Gegenwart und triumphale Vergangenheit.
Beim Schlussapplaus verdecken die ihm von Gewandhausdirektor Andreas Schulz und Orchestervorstand Tobias Haupt ans Herz gedrückten Blumengaben Gesicht und Oberkörper. Zwei Jahre nach Vertragsunterzeichnung wird der lettische Dirigent Andris Nelsons (39) als 21. Gewandhauskapellmeister Amtsnachfolger von Felix Mendelssohn Bartholdy und künstlerischer Leiter eines der bedeutendsten Orchester der Welt. Das Luxuslabel Deutsche Grammophon feiert den Beginn dieser Traumallianz mit einer Einspielung der siebten Sinfonie von Anton Bruckner.
Die Leipziger Festwochen vom 18. Februar bis zum 23. März gelten auch dem Jubiläum „275 Jahre Gewandhausorchester“. Die Fülle an Konzerten, Rahmenprogrammen und Talkrunden ist imponierend. Parallel zur Ausstellung im Gewandhaus-Foyer druckt der Verlag Kamprad gerade eine neue Geschichte des Gewandhausorchesters. Großtaten wie Herbert Blomstedts neue (von crescendo-Autor Attila Csampai hochgelobte) Einspielung aller Beethoven-Sinfonien gab es auch schon 1919⁄20 mit einem Bruckner-Zyklus.
„Motor für die neue und allerneueste Musik“
Andris Nelsons hat als Chef beider Renommierorchester mit einer Boston-Woche bereits die Achse zwischen dem Boston Symphony Orchestra und dem Gewandhausorchester aktiviert. Und in Leipzig wird die ganze Spielzeit zu einer glanzvollen Gerade von im Gewandhaus uraufgeführten Meisterwerken. Andris Nelsons will unbedingt wieder mehr musikalische Gegenwart am südlichen Augustusplatz der Messestadt: Wie zu Zeiten Mendelssohns, Gades, Schumanns, Wagners und Regers soll das Gewandhausorchester ein Motor für die neue und allerneueste Musik sein. Zudem bestätigen Edelgastspiele im Festspielhaus Baden-Baden und der Hamburger Elbphilharmonie das Charisma des musikalischen Leuchtkörpers.
Erstmals in der Geschichte des Gewandhausorchesters amtiert seit 2017 ein Gewandhauskomponist, der Münchner Jörg Widmann. Für die Festwochen gab Nelsons vier Uraufführungen in Auftrag, die von Wolfgang Rihm verzögert sich aus Krankheitsgründen. Neben ihm kommen Jörg Widmann (ab 8. März mit Partita – Fünf Reminiszenzen für großes Orchester) und der Tiroler Thomas Larcher (ab 15. März mit Chiasma für Orchester) zu Uraufführungsehren, vor allem aber der Wahlleipziger Steffen Schleiermacher. Er ist wie Robert Schumann ein aktiver Komponist für den großen Gewandhaussaal. Zugleich stecken in ihm und seiner akzentuiert trockenen Begeisterung, mit der er seit Jahren die Kammerreihe „musica nova“ im Mendelssohnsaal quicklebendig hält, viel von der Salonlöwin Clara Wieck, deren 200. Geburtstag als nächstes großes Leipziger Musikjubiläum für 2019 seine großen Schatten vorauswirft. Vom hohen Paar Robert und Clara trennt Steffen Schleiermacher allerdings sein mit einer Messerspitze Sarkasmus gewürzter Realitätssinn. Zum ersten Konzertabend am 22. Februar stand die Uraufführung seines Relief für Orchester für die Gegenwart, Alban Werks Violinkonzert mit der lettischen Geigerin Baiba Skride für die klassische Moderne, Mendelssohn Schottische Sinfonie für die romantischen Zentralkompetenzen des Gewandhausorchesters.
„So stellt man sich den Beginn vibrierend schöner Flitterwochen vor“
Das Publikum reagierte in feiner Abstufung: Viel Applaus für Schleiermacher, der neben einprägsamen Tonwiederholungen der Blechbläser über Schlagwerkeffekten in seiner Partitur viele kleine Soli für die Musiker quer und sprunghaft verteilte. Eine pragmatische Komposition, deren Abkehr vom Genie-Image zu einer eigenen liebenswerten Pose wird und gerade durch engagierte Nüchternheit überzeugt. Deshalb macht Steffen Schleiermachers Relief für Orchester auch Spaß.
Andris Nelsons holt aus dem noch im klassizistischen Ideal verhafteten Satz Mendelssohns üppige, fast slawische Dichte. Sein Mendelssohn hat die musikalische Bekanntschaft mit den viel später auftretenden Komponisten Dvořák und Brahms schon hinter sich. Jeder Akkord, jeder Ton ist getragen von der eigenen Substanz und gewinnt auch unter den Phrasierungsbögen an Eigenleben. Eine solche Transparenz zwischen Holzbläsern und Streichern, dazu noch gezielte Dialogbereitschaft gehört zu den musikalischen Kardinaltugenden eines Spitzenorchesters. So stellt man sich den Beginn vibrierend schöner Flitterwochen vor, zu denen das Entstehen einer tiefen Liebesbeziehung denkbar ist.