Donaueschinger Musiktage

100 Jahre Inno­va­tion

von Roland H. Dippel

9. Oktober 2021

Die Donaueschinger Musiktage, das international älteste und wichtigste Festival zur Neuen Musik, in einer einmaligen Dokumentation lebendiger Kulturgeschichte.

Liest man Dirk Wiescholleks Aufsatz über die 1970 bis 1990, drängt sich ein Gedanke auf: Nicht jene Kämpfe um 1960 auf der Achse DD (gemeint sind das der Feri­en­kurse und das der Musik­tage) waren die span­nendsten Zeiten für Neue Musik zwischen dem Ende des Zweiten Welt­kriegs 1945 und der Pandemie, sondern jene zwischen 1968 und 1989. Denn nach den poli­ti­schen Mani­fes­ta­tionen für ein befrei­endes Tonma­te­rial, das einher­gehen sollte mit einem befreiten Hören, wurde es stel­len­weise auch meta­phy­sisch und esote­risch.

„Ich wusste ja, was Donau­eschingen damals für ein rotes Loch war, ein anti­re­li­giöses Loch, wie man es sich kaum vorstellen kann“, pole­mi­sierte . Dabei bildete er selbst 25 Jahre früher mit und jene „seri­elle Troika“ (Anna Schürmer), die nach dem Zusam­men­gang der 1921 fürst­li­chem Mäze­na­tentum entsprun­genen Initia­tiv­zelle moderner Kammer­musik mit dem Südwest­funk ab 1950 zur europa- und sogar welt­weit ausstrah­lenden Diskurs-Energie wurde.

Die Aufsatz- und Bild­an­tho­logie zum Jubi­läum der Donau­eschinger Musik­tage jubelt weniger laut als indi­rekt. Dafür setzt sie den schil­lernden Pfaden durch die Jahr­zehnte des unver­än­dert lebens­fä­higen, kommu­ni­ka­tiven und rich­tungs­be­stim­menden Festi­vals der Gegen­warts­musik ein facetten- wie fakten­rei­ches Denkmal. Diese Sach­lich­keit ist mindes­tens so wirksam wie ein knall­buntes Werbe­bonbon: Die Neugier auf das noch immer vom SWR alljähr­lich mit-veran­stal­tete dritte Oktober-Wochen­ende wächst mit jeder Seite.

Erstaunt liest man, dass das Publikum der Kammer­mu­sik­auf­füh­rungen zur Förde­rung zeit­ge­nös­si­scher Tonkunst vor 1930 weniger Berüh­rungs­scheu mit unge­wohnten Klängen zeigte als nach dem Zweiten Welt­krieg. Sogar von der Donau­eschinger Hermetik ist die Rede, wobei deren Darstel­lung zum Steig­bügel eines diffe­ren­ziert gesetzten Lobs wird. So konsta­tiert Gerhard R. Koch eine ausge­wo­gene Bilanz: „Vorher­seh­bares und Über­ra­schend-Verstö­rendes halten sich in etwa die Waage, desglei­chen die ‚großen Alten‘ und die unein­ge­schüch­tert Jungen.“

Auch die mit etwas Anschub-Verzö­ge­rung einge­setzten Donau­eschinger Initia­tiven für Klang­kunst und Instal­la­tionen werden unter­sucht und Jazz-Projekte als eher vom Publikum denn von den Veran­stal­tern sepa­rierte Nischen der Musik­tage gewür­digt. Umfang­rei­ches Foto­ma­te­rial in Schwarz­weiß illus­triert den breiten langen Lauf­steg, welcher Donau­eschingen für die Neue Musik und seit 55 Jahren für Kompo­nis­tinnen ist wie für’s Kino. 

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Weitere Informationen zu den Donaueschinger Musiktagen 2021 unter: CRESCENDO.DE