Emil Gilels
Der bescheidene Gigant
von Attila Csampai
25. Januar 2017
Drei Editionen zum 100. Geburtstag von Emil Gilels.
Als Arthur Rubinstein den 15-jährigen Emil Gilels in Odessa zum erstenmal hörte, fand er sein Spiel schlicht unbeschreiblich. Dann fügte er hinzu: „Sollte er jemals nach Amerika kommen, dann kann ich einpacken.“ Schon in seinen Jugendjahren setzte sich der 1916 in Odessa geborene Gilels schnell an die Spitze der mit Top-Pianisten nur so gespickten russischen Klavierszene und wurde dann, nachdem er 1938 den renommierten Brüsseler „Reine Elisabeth“-Wettbewerb gewonnen hatte, zu einem Geheimtipp in ganz Europa. Weltruhm erlangte er erst in den 1950er-Jahren, als er als erster sowjetischer Pianist überhaupt zunächst Europa und dann bald auch die USA bereisen durfte,um dann jahrzehntelang die ganze Welt mit seiner schier unbeschreiblichen Perfektion zu begeistern. Bis heute gilt Emil Gilels, der Starallüren hasste, als einer der größten Pianisten des 20. Jahrhunderts.
Zum 100. Geburtstag Gilels«, der nur 58 Jahre alt wurde, veröffentlichte Sony jetzt zum ersten Mal alle seine in den USA für RCA und Columbia zwischen 1955 und 1979 produzierten LP-Alben in neuen 24bit-Transfers auf sieben CDs. Die sechs akustisch hochwertigen Studioproduktionen (davon fünf aus der legendären „Living-Stereo“-Edition der RCA) plus ein später digitaler Live-Mitschnitt des Tschaikowsky-Konzerts von 1979 zeigen zwar nur einen kleinen Ausschnitt aus seinem riesigem Repertoire, vermitteln aber doch einen nachhaltigen Eindruck von Gilels unerbittlicher Präzision, der energischen Klarheit und Reinheit seiner musikalischen Logik, der tiefen, unerschütterlichen Humanität seiner Botschaften und einer völlig unglamourösen „Objektivität“, die einen heute noch in sprachloses Erstaunen versetzt. Das Tschaikowsky-Konzert (1955) und das zweite Brahms-Konzert unter Fritz Reiner (1958), ebenso das erste Chopin-Konzert unter Ormandy (1965) sind bis heute unantastbarer „Kult“ und in Stein gemeißelte Monumente des Richtigen, die h‑Moll-Sonate von Liszt, die zweite Schostakowitsch-Sonate sowie die beiden (von ihm selten gespielten) Schubert-Sonaten dagegen Dokumente einer radikalen, geradezu lakonischen Deutlichkeit, die kein „Wenn und Aber“ kennt, sondern sich rückhaltlos und völlig geradlinig dem Geist und der materiellen Kraft der Komposition verschreibt und so fast Gesetzeskraft verströmt.
Warner feiert Gilels mit einer 9‑CD-Box, die freilich schon 2010 erschien und ebenfalls wichtige Auslandsproduktionen des Jubilars für das britische EMI-Label aus den Jahren 1954 bis 1968 bündelt: Zu den Höhepunkten der Edition zählt auf alle Fälle der legendäre Zyklus der Beethoven-Konzerte, den Gilels mit dem ähnlich strengen und auf klare Prägnanz achtenden Dirigenten George Szell und dem Cleveland Orchestra im Mai 1968 in den USA einspielte und der zu herausragenden Meilensteinen der gesamten Beethoven-Diskografie zählt.
Daneben gibt es aber auch einen zweiten kompletten Zyklus derselben Konzerte von früheren Gastspielen Gilels« in Paris (Nr. 1–3) und London (Nr. 4–5) unter André Vandernoot, André Cluytens und Leopold Ludwig, die zwischen 1954 und 1957 entstanden und die noch mehr jugendliches Feuer verströmen. Referenzstatus beanspruchen auch die leidenschaftlich aufgeladenen, vor vulkanischer Energie berstenden Londoner Aufnahmen der drei Tschaikowsky-Konzerte mit dem 42 Jahre alten Lorin Maazel im Jahr 1972, während er in seinen Pariser Mono-Produktionen des dritten Rachmaninow- und des g‑Moll-Konzerts von Saint-Saëns seine feine Anschlagskultur und seine lyrischen Qualitäten aufleuchten ließ. Eine späte, in Giesekingscher Schlichtheit ausgeführte Mozart-Sonate und eine dramatisch geballte Version der zweiten Chopin-Sonate unterstreichen seine intellektuelle Kompetenz.
Wem das noch nicht reicht, wer den anderen, kaum bekannten „russischen“ Gilels erlebten möchte, dem empfehle ich die umfassende Würdigung seiner sowjetischen Aktivitäten auf insgesamt 50 CDs, die gerade beim russischen Staatslabel Melodiya erschienen ist. Die knallrote Luxusedition verzeichnet 40 Live-Mitschnitte von Konzerten und Rezitals aus den Jahren 1949 bis 1984 plus 10 CDs mit frühen Moskauer Studioaufnahmen Gilels« von 1935 bis 1958, darunter auch Kammermusik mit illustren Mitspielern. Neben vielen großartigen Konzertdokumenten, die Gilels« charismatisches Spiel noch viel suggestiver wiederaufleben lassen, sind vor allem seine späten Solo-Recitals nach 1976, als er sich mit großem Ernst Beethovens Sonatenkosmos zuwandte, von herausragender Bedeutung. Für Gilels-Fans ist diese wunderbare, mit zahlreichen CD-Premieren aufwartende Edition ohnehin ein „Muss“. Emil Gilels blieb zeitlebens eine unerreichte Autorität seines Instruments, er setzte Maßstäbe, die bis heute gelten.