Einflüsse aus aller Welt
Exotisch!
30. November 2018
Vom Orient über China und Japan bis nach Indonesien. Immer wieder tauchten Komponisten tief in andere Kulturen ein und fanden dort Inspiration.
Unterschiedlicher könnte die Verwendung von im weitesten Sinne „orientalischer“ Musik nicht sein: Einerseits sind da die immer ähnlich gebrauchten Klänge des Militärs, also der sogenannten „Janitscharen“ bei Gluck, Mozart oder Joseph Martin Kraus, ausgelöst nicht zuletzt vom Ende der Türkenkriege 1783; andererseits der Einfluss fernöstlicher Musik nach den großen Weltausstellungen in Paris aus den Jahren 1889 und 1900 auf Claude Debussy, Camille Saint-Saëns (La princesse jaune, 1872), Franz Lehár (Land des Lächelns) oder vor allem Giacomo Puccinis Madama Butterfly und Turandot. Sie lassen sich zwar unter dem Motto „Exotismus in der Musik“ subsumieren, aber die jeweiligen Voraussetzungen und Aneignungen des wie auch immer gearteten und verstandenen „Fremden“ waren doch ganz unterschiedlich, hier als Ausdruck der Türken-Mode, die sich auch in vielen anderen Bereichen der Kunst oder der Gestaltung von Hoffesten, etwa in Wien 1743 niederschlägt; dort die teilweise sehr präzise und intensive Aneignung originalen musikalischen Materials, das freilich wie im Falle von Puccinis Turandot der Vermittlung und Verfremdung durch eine chinesische Spieluhr bedurfte.
So stereotyp der Einsatz der Percussion-Instrumente und auch der melodischen Floskeln ist, so vielfältig einsetzbar sind Stereotype dessen, was man für türkische Musik hielt, beispielsweise im Ballett Soliman II. von Joseph Martin Kraus. Hier dient die „Turquerie“ – also die Fantasie von allem Türkischen – von Gewürzen bis zur westlichen Männerfantasie des immer wieder bildlich dargestellten Harems – keineswegs der bewussten Verballhornung oder des Spottes, was schon eher für das berühmteste Beispiel „türkischer Musik“ gilt, also Mozarts Entführung aus dem Serail. Sie schenkt freilich dem noblen Türken, also Bassa Selim, im Vergleich zu Osmin erst gar keine Musik und legt ihn als Sprechrolle an. Raffiniert wiederum ist Mozarts Alla Turca genanntes Finale der A‑Dur Klaviersonate oder die Truppe türkischer Musiker, die im finalen Menuett des A‑Dur Violinkonzerts in das Fest einer höfischen Gesellschaft einfallen und gleichsam das Orchester übertönen. Als eine Art Maskenball treten die Fremden auf und färben deutlich auf die Hofmusiker ab, welche in der Fortsetzung ihrer Musik die rhythmisch prägnante Begleitfigur der Fremden übernehmen.
Das vermeintlich Türkische galt im 18. und noch weit ins 19. Jahrhundert als das Fremde schlechthin. Das sollte sich erst in den 1880er-Jahren ändern, als wissenschaftliche Forschungen zur traditionellen Musik Chinas oder Japans mit der Öffnung des Landes im Jahr 1868 den Boden bereiteten für Komponisten wie Puccini, Lehár, d’Albert und Orff, die sich dezidiert mit der Musik der Länder auseinandersetzten, in denen ihre Opern oder Operetten schließlich spielten. Während der Schauplatz Indien von Louis Spohrs Jessonda (1823) sich in der Musik mitnichten widerspiegelt und auch Georges Bizets Les pecheurs de perles (1863) allenfalls mit vagen Exotismen arbeitet – teilweise basierend auf Felicien Davids Ode-Sinfonie Le désert (1844), versieht Camille Saint-Saëns seine Opéra comique La princesse jaune (1872) über einen jungen Mann, der sich unter Drogeneinfluss nach Japan träumt und dort in eine Statuette verliebt, schon mit allerhand Pentatonik und rhythmischer Fremdartigkeit, während sich Pietro Mascagnis ebenfalls in Japan spielende Iris (1898) wieder musikalisch ganz europäisch gibt. André Messager komponiert mit Madame Chrysanthème im selben Jahr einen französischen Vorläufer zu Puccinis Madama Butterfly mit ähnlicher Handlung und setzt im Zwischenspiel Originalmelodien aus Koto-Stücken ein.
Aber erst Puccini wollte 1904 nach eigener Aussage „das wahre Japan und nicht Iris“ in Musik setzen. Er betrieb umfangreiche Studien, ließ sich von der Gattin des japanischen Gesandten in Rom, Hisako Ōyama, in Viareggio beraten und bekam von ihr zahlreiche Schallplatten mit original japanischer Musik. Aber unter anderem auch die „Collection of Japanese Popular Music“, 1899 schon in achter Auflage erschienen, muss er gekannt haben, da sich sechs von zehn getreu übernommenen und in die Oper eingewobenen Liedern in dieser Sammlung finden – und natürlich die japanische Nationalhymne oder das Kirschblüten-Lied Sakura. Ob Summ-Chor, Schicksalsthema oder Verbannungsmotiv, Gebet der Butterfly, Gratulation der Geishas zur Hochzeit oder Erwähnung des Heiratsantrags von Prinz Yamadori: Oftmals geben der Text der Lieder und sein japanischer Kontext den Ausschlag der speziellen Verwendung, die immerhin mindestens 15 Prozent eines jeden Akts umfassen. Hinzu kommt die Zweitaktigkeit japanischer Musik durch Bass-Ostinati und Pendeln zwischen zwei Akkorden sowie die besondere Instrumentierung mit fünf Glocken, Klaviaturglockenspiel, einem „Tam-Tam giapponesi“ und japanischen Schellentrommeln als couleur locale für Nagasaki und dem Kabuki-Theater oder dem Staccato der Streichinstrumente, um japanische Zupfinstrumente nachzuahmen. Wohl kaum trifft für Puccinis raffinierte musikalische Interaktion zwischen fernöstlichen und italienischen Melodien und Harmonien das Urteil des zeitgenössischen Kritikers Romeo Carugati zu, der schrieb: „Die Butterfly ist mit japanischem Lack überzogen und mit amerikanischem Harz amalgamiert.“
Puccini geht auch in seiner letzten Oper Turandot in der Verwendung der Ganztonleiter als Surrogat für das allgemein fremdartig und ungewöhnlich Wirkende hinaus und benutzt als Zitate, die er dann geschickt verarbeitet, unter anderem zahlreiche echte pentatonische Melodien, die der italienische Komponist wohl von der chinesischen Spieluhr eines Freundes kannte, und durchzieht damit die gesamte Partitur. Besonders herausstechend ist die elf Mal als Turandot-Thema erscheinende Jasminblüten-Melodie. Erstmals erklingt sie kurz vor Turandots erstem Auftritt beim Prozessionszug, der den persischen Prinzen zur Hinrichtungsstätte führt; hinzu kommt modale Harmonik und exotisch farbige Instrumentierung. Aber auch das Thema der Masken und die mit Althoum verbundene Kaiserhymne gehen auf alte chinesische Ritualmusik zurück, wie sie in van Aalsts Chinese Music (Schanghai 1884) publik gemacht wurde. Pentatonische Melodien ohne Vorlage vor allem für Liu haben dagegen einen klar erkennbaren Kulminationspunkt, in der Regel den Ambitus einer Oktave und nur selten den für klassische chinesische Musik charakteristisch pendelnden Tonhöhenverlauf. Exotismen werden aber auch hörbar im Unisono für archaische Pracht und rituelle Handlungen oder durch die Instrumentierung mit chinesischen Gongs, Holztrommel und Bass-Xylofon; oftmals entnimmt Puccini Metrik und die Anregung für Instrumentierung sogar seinen Quellen.
Claude Debussy ließ sich 1907 in den drei Stücken der zweiten Folge der Images von der Pentatonik des indonesischen Gamelan inspirieren. Angesichts von Et la lune descend sur le temple qui fut unterscheidet Pierre Boulez, der selbst exotisches Instrumentarium verwendete: „Es handelt sich zwar noch um Exotismus, aber der ist nicht buchstäblich, sondern geträumt.“ Das könnte man auch über Igor Strawinskys Le Rossignol – die Nachtigall aus dem Jahr 1914 sagen. Ein Jahr früher vollendet der 17-jährige Carl Orff Gisei – erst 2010 in Darmstadt uraufgeführt – und lässt das japanische Sujet nicht zuletzt in der Harmonisierung japanischer Melodien durch Rudolf Dittrich, auf die auch schon Puccini zurückgriff, Klang werden. Das Fragment eines berühmten Kirschblütenlieds oder die Pentatonik des einstimmigen Beginns geben einen farbigen Eindruck davon. In verschiedener Hinsicht bemerkenswert ist auch die 1924 in Mannheim uraufgeführte Oper Taifun des ungarischen Komponisten Theodor Szantos. Hier sind die lyrisch-liedhaften Elemente und damit die Bearbeitungen japanischer Lieder innerhalb einer deklamatorischen Musiksprache Ausdruck einer exotischen Idylle. 1956 lässt sich auch Benjamin Britten in seinem Ballett The Prince of the Pagodas während eines Aufenthalts auf Bali von der Gamelan-Musik inspirieren. Nach dieser späten Blüte wird Ende des 20. Jahrhunderts ein ganz neues Kapitel der Wechselwirkung fernöstlicher und westlicher Musik aufgeschlagen, das sich etwa bei Tore Takemitsu, der auch für eine Vielzahl japanischer Spielfilme farbige Musik komponierte, oder in den Opern Toshio Hosokawas Bahn bricht. Aber das wiederum ist jetzt eine ganz andere Geschichte.