Nicolas Flagello

Fege­feuer innerer Schmerzen

von Christoph Schlüren

14. März 2018

Sein unorthodoxer Auftritt erinnerte mehr an einen Mafioso als an einen Akademiker. Am 15. März wäre Nicolas Flagello (1928–1994) 90 Jahre alt geworden.

Am 15. März wäre (1928–1994) 90 Jahre alt geworden. Er war einer der ganz großen Kompo­nisten der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts. Aus einer italie­ni­schen Musi­ker­fa­milie, die sich in nieder­ge­lassen hatte (sein Groß­vater mütter­li­cher­seits war einer der letzten Schüler von Verdi) stam­mend, wuchs er in einer von Belcanto und spät­ro­man­ti­scher Emphase geprägten Umge­bung auf. Mit drei Jahren erhielt er Klavier­un­ter­richt, mit acht Jahren begann er zu kompo­nieren.

Sein großer Lehr­meister wurde Vittorio Gian­nini, den in den 1930er-Jahren als neuen Hoff­nungs­träger prote­gierte. Doch es kam anders, der Krieg zerstörte viele Hoff­nungen, und danach stand Gian­ninis aus der Tradi­tion gewach­senes Ethos wider den Zeit­geist, der die Brücken zur Vergan­gen­heit abbre­chen wollte. Gian­nini und Flagello wurden enge Freunde und bildeten eine ästhe­ti­sche Haltung aus, die in den einzig­artig war: Schön­heit, exis­ten­zi­elles Drama, Kunst der orga­ni­schen sinfo­ni­schen Formung, voll­endete Beherr­schung der kontra­punk­ti­schen Tech­niken und harmo­ni­schen Mittel auf der Grund­lage einer erwei­terten kanta­blen Tona­lität. Ende der 1950er-Jahre zeich­nete sich in Flagellos Schaffen eine stilis­ti­sche Wand­lung ab, die auch auf Gian­nini zurück­färbte: Die Musik spie­gelte in ihrer dunklen Glut immer mehr Zustände drama­ti­scher Verzweif­lung, Rebel­lion gegen die Igno­ranz und Veräu­ßer­li­chung der modernen Zivi­li­sa­tion und seeli­sche Verein­sa­mung in der kalten Beton­welt der Metro­pole wider. Ein brodelnder Abge­sang.

„Zustände drama­ti­scher Verzweif­lung, Rebel­lion gegen die Igno­ranz“

In den 1970er-Jahren geriet Flagello allmäh­lich in einen Zustand innerer Verlo­ren­heit und tiefer Depres­sion, sein Leben endete in geis­tiger Umnach­tung. Dass er ein Outsider blieb, hat jedoch nicht unbe­dingt mit seiner künst­le­ri­schen Haltung zu tun, die ihn ohne jede Rück­sicht auf Moden unbeugsam seinen Weg gehen ließ. Andere, wie Barber oder Bloch, wurden für ihren offenen Neoro­man­ti­zismus gefeiert. Er hingegen, der viel mehr furioser Exis­ten­zia­list als Nost­al­giker war, dessen Musik den Hörer oft durch ein Fege­feuer innerer Schmerzen führt, verstand es einfach nicht, sich „gut zu verkaufen“. Obwohl selbst ein exzel­lenter Pianist und Diri­gent, musste er die Aufnahmen seiner Musik in Italien machen, denn sein unor­tho­doxer Auftritt erin­nerte mehr an einen Mafioso als an einen gewandten Akade­miker. Er blieb sozu­sagen ein „Mann von der Straße“, dessen Musik zwar die Kenner heraus­for­dert, aber zugleich für jeden Hörer unmit­telbar verständ­lich ist.

Flagello musste fast zwangs­läufig eine tragi­sche Figur werden. Seine Musik spricht in ihrer Zeit eine so unver­stellt vehe­mente Sprache wie Tschai­kowsky in seiner. Sie nimmt den Hörer ebenso stür­misch und zärt­lich mit in ihre leiden­schaft­li­chen und intimen Regionen und ist zugleich kompro­misslos klar, unbe­stech­lich balan­ciert geformt. Auf CD ist Flagello mitt­ler­weile so doku­men­tiert, dass man sich – bei allen Lücken – einen Über­blick verschaffen kann (etliche Einspie­lungen sind bei erschienen), doch seine Haupt­werke sind nach wie vor fast nie im Konzert zu hören. Manche harren trotz Erst­ein­spie­lung weiter der Urauf­füh­rung. Es ist nicht einfach, beim viel­sei­tigen Reichtum seines Schaf­fens Empfeh­lungen abzu­geben. Doch möchte ich seine beiden Sinfo­nien nennen, das herr­lich zwischen impro­vi­sa­to­ri­schem Gestus und expres­sio­nis­ti­scher Gesangs­szene ange­sie­delte Capriccio für Cello und Orchester, die über­mütig an den Mont­martre entfüh­rende Lautrec-Suite mit einem abgrün­digen Valse triste, wie sie sich selbst Sibe­lius nicht erträumt hätte, oder der Piper of Hamelin, eine der hinrei­ßendsten Kinder­opern der Geschichte. Nie hat sich der Bekennt­nis­mu­siker Flagello, der 1968 mit der Passion of King sein berühm­testes Werk schrieb, der Senti­men­ta­lität der nost­al­gi­schen Neoro­mantik ergeben, immer halten das viel­fäl­tige rhyth­mi­sche Pulsieren, der weit dimen­sio­nierte harmo­ni­sche Span­nungs­ver­lauf, die lineare Energie das strin­gent kontu­rierte Geschehen im Fluss. Wer Schost­a­ko­witsch liebt, dürfte auch Flagello lieben. Nur muss man ihn zuerst kennen­lernen.

Fotos: Walter Simmons